Vom Kurfürstendamm nach En Charod

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Z. Kluger. Erez Israel from the air - 1937-38

Der vorliegende Text erschien im Januar 1934 in der von Julius Goldstein gegründeten Zeitschrift „Der Morgen“ und zeigt eindringlich die Situation der deutschen Juden nach dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Emigration war nun mehr als nur eine romantische Vorstellung, sie wurde zur Lebensrettung. Erich Rott beschreibt sein neues Leben im Kibbutz, das so ganz und gar nicht mit dem Alltag in Berlin zu vergleichen ist…

Vom Kurfürstendamm nach En Charod

Von Erich Rott
Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland, Heft 7 (Januar 1934)

Die Wohnung, als ausgebaules Dach ein Juwel an idyllischer Architektur, lag höher als die meisten anderen am Kurfürstendamm; der Blick aus dem Fenster war ein Blick auf die allermodernste Großstadt: Taut hatte hier seine Junggesellenfestung hingesetzt, Pölzig das ozeanische Ufaschiff am Lehniner Platz; innen sah das Auge die in Dokumenten gesammelte beste deutsche Vergangenheit, sah an den Wänden Tausende von Büchern, unter ihnen viele seltene Klassiker-Erstausgaben, den ersten Kleist neben dem ersten Heine, sah alte Kupferstiche und schließlich, unter Glas und Rahmen, ein vollendet schönes Goethe-Autogramm.

Es war einmal . . .
Und es war nicht einmal ein Märchen.

*

Die Goethehandschrift konnte ich über alle Grenzen retten. Ich wollte sie mir in meiner neuen palästinensischen Behausung aufhängen. Aber jene Behausung ist kein Haus, sondern nur ein Zelt geworden, und Goethe paßt an seine wackelnde, wind-geschüttelte Wand wie die Faust aufs Auge.

Wer in so gewaltiger Natur lebt, entbehrt keinen Schmuck. Wer sich von uns ,,ChaIuzim“ morgens um halb fünf ein letztes Mal auf die andere Seite wälzt, nach fünf Minuten aber schon die untere Zeltwand hochrollt, sieht, falls er die Augen aufkriegt, der neuen Heimat En-Charod gegenüber im letzten Morgenschatten den elefantenförmigen Berg Gilboa, auf dem, wie wir lernten, Saul gefallen ist, unten das fruchtstrotzende Emek-Tal, ehemals ein beliebter Kriegsschauplatz, während hinter der zerklüfteten Transjordanwand die Sonne aufsteigt. Im langen Lauf des Tages steigert sich das große Erlebnis dieser Landschaft zu einer Symphonie intensivster Formen und Farben, der bisher nichts weiter fehlt als ein Van Gogh, der sie nachkomponierte.

Einzelheiten der Umgebung lernt man am Schabbath kennen. Jeder hat überall Bekannte, man besucht sich untereinander, auf den Wegen ist viel Singen und Fröhlichkeit; solche Bilder sah man früher nur in Russenfilmen.

Und Goethe bleibt im Koffer.

*

En-Charod ist eine der ältesten und durchorganisiertesten Siedlungen im Lande: der Boden ist Nationaleigentum, alle arbeiten nach besten Kräften im Gemeinschaftsinteresse, es gibt keinen Privatbesitz. Die zahlreichen jungen Juden aus Deutschland, die in den letzten Monaten hierhergekommen sind, pflücken jetzt die saftigen Grapefruit und die süßen Weintrauben, die jüdisch-russische Idealisten vor Jahren angepflanzt haben, unter bitterer Mühe und auf Boden, der unter Malariagefahr entsumpft werden mußte.

Ein Kibbutz-Mitglied beim Pflügen, Ein Charod 1934, National Photo Collection of Israel

Die Deutschen legen sich also sozusagen in das gemachte Bett — womit nicht gesagt sein soll, daß sie nicht nun auch fleißig arbeiten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und gewiß auch zur Zufriedenheit ihrer älteren Kollegen. Und daß sie aus jenem Bett bisweilen durch ein paar nächtliche Schüsse aufgeschreckt werden, mit denen die Wächter arabische Hühnerdiebe verscheuchen, beweist nichts gegen die Sicherheit, in der sie leben.

Auch die Fähigkeit, im Zelt zu schlafen, bezeugt noch nicht den geringsten Heroismus. Im Gegenteil: wer Unterhaltung liebt, kommt reichlich auf seine Kosten. Zwei Katzen warten mit nächtlichen musikalischen Veranstaltungen auf. Wenn man nachts plötzlich aufwacht, hat man die Illusion einer Ozeanreise, denn der Mittelpfeiler „weht und dreht im Winde sich“ wie die Feder auf dem Volkslied-Barett. Der Palast knarrt und stöhnt wie ein alter Viermaster, an dem selbst Gorch Fock seine Freude gehabt hätte. Aber der Prachtbau hält — die Zeltmathematik ist geheimnisvoll. Und schließlich winkt in weitester Ferne Land: der Umzug ins Steinhaus, das viele der alteingesessenen En-Charoder heute schon bewohnen. 

Vorher wird man noch Barackeninsasse oder kommt auf die weniger beliebte Alijah, einen Schlafsaal oberhalb des Pferdestalls. Nachts um zwei werden die Pferde unruhig und die Menschen über ihnen mit ihnen. Besonders Sulamith benimmt sich geradezu unerhört, man hört sie dauernd. Man pariert diese „Schicksalsschläge“ mit der besten jüdischen Waffe: mit Humor.

Am schönsten wohnen, in einem dreistöckigen Bau, die Kinder: auf dreihundert Erwachsene kommen ihrer zweihundert. Sie werden mit viel Milch, Eiern, Liebe und pädagogischem Verständnis großgezogen. Den Arbeitsunterricht, den sie, zum Teil von einem Lehrer wickersdorfischer Prägung, empfangen, liefert das unmittelbare Leben, nicht die mittelbare Theorie. Sie reiten wie die Kosaken. Wenn man sich mit ihnen unterhält, muß man über ihre Vorstellungswelt, die Vorstellung einer neuen Welt, staunen. Ein Jüngeres fragt eines Tages: „Hast Du in der Stadt in einer Kwuzah oder in einem Moschaw (Genossenschaftsfarm, aber mit familiärer Einzelwirtschaft) gewohnt?“ Und kann sich nicht vorstellen, daß es noch ein Drittes, Viertes und Fünftes gibt. Daß man höchst kapitalistischer Unternehmer in Berlin gewesen sein kann. Daß man Lohnarbeiter oder meinetwegen auch Redakteur gewesen sein kann. Und daß keiner von uns auch nur einen einzigen Dunam Land besessen oder gar jemals in seinem Leben bebaut hat . . .

*

Jetzt ist der Rotstift des Redakteurs begraben.

Jetzt streut der Herr Redakteur nicht mehr Pointen auf Manuskripte, sondern künstlichen Mist auf den mühsam durchfeuchteten Boden.

Jetzt schwingt er nicht mehr den Federhalter, sondern die schwere Turiah und den bequemeren Maader.

Jetzt merzt er keine Druckfehler mehr aus, sondern Unkraut; „Jablid“ heißt das gefährlichste, und es ist ebenso unausrottbar wie Druckfehler.

Jetzt zerhackt er nicht mehr mit dem Geschick, über das alle Mitarbeiter weinten, Reportagen und Feuilletons, sondern von Käfern angefressene Bäume.

Jetzt verspritzt er nicht mehr Polemiken gegen Hinz und Kunz, sondern Schwefel gegen pflanzenfressende Insekten.

Jetzt watet er nicht mehr, wie vordem auf der Redaktion, durch Berge von Zeitungen, sondern durch den dicksten Modder der im Jahre bis zu sechsmal bewässerten Grapefruit-Plantagen.

Jetzt räumt er nicht mehr, was stets vergebens war, seinen Schreibtisch auf, sondern, mit mehr Erfolg, die verschlammte Wasserleitung oberhalb des Weingartens — eine Arbeit, die ihn allerdings nicht nur viel Schweiß kostet, sondern auch die abseits gelegten und für die Mittagspause reservierten „sächsischen Miniaturen“ Hans Reimanns, nach denen ein vorbeistreifender Araber, der anscheinend gern klassisches Deutsch lernen möchte, greifbares Verlangen empfand . . .

Die gemeinsame Arbeit schafft in starkem Maße den Konnex zwischen „Neuen“ und „Alten“, zumeist Juden aus Rußland, die von früheren Einwandcrungswellen ins Land gespült wurden und sich inzwischen vollkommen assimiliert und hebraisiert haben. Der Umschichtungsprozeß ist ihnen um so eher gelungen, als sie ja nie so sehr im russischen Volkskörper aufgegangen waren wie etwa die deutschen Juden im deutschen. Was sie und ihre Väter in Rußland gelernt hatten, kam ihnen bei ihrer Ansiedlung in Palästina zustatten; die Fähigkeit zu leiden, zu entbehren, sich aufzuopfern. In ihrer Offenheit, Heiterkeit, Hilfsbereitschaft und tiefen Unbestechlichkeit repräsentieren sie einen herrlichen Menschentvp. Die in der Mittagspause mit ihnen geführte Unterhaltung ist für uns Deutsche immer wieder ein wirkliches Vergnügen — bis wir ihnen mitten im Satz wegschlafen.

*

Wie wir uns untereinander verständigen? In einem Gemisch von Jiddisch und Deutsch. Die neu Eingewanderten können noch nicht oder doch nur sehr unvollkommen Hebräisch, die Alteingesessenen sehen es ihnen nach, zumal sic beobachten, daß die Grünen sich doch bemühen, Hebräisch zu lernen; nur sehen sie leider nicht, wie ihnen bei dem an jedem zweiten Abend von einer jungen Ex-Polin erteilten Unterricht die Augen zufallen — und wundern sich, wenn man nur langsam Fortschritte macht.

„Zuerst lernen wir alles“ — um die freundliche Lehrerin zu zitieren — „was sich ringelt um uns herum“: Tisch, Stuhl, Fenster. Aber langsam weitet sich der Wortkreis und umschließt allmählich unsere ganze Welt: den Hof mit seinen Ställen und Werkstätten; die Getreidefelder, Plantagen, den Weingarten. Die wenigen Dinge des täglichen Bedarfs, die es am Donnerstag Abend in einem kleinen dusteren „Laden“ ohne Geld zu kaufen gibt: Zigaretten, Streichhölzer, Rasierklingen, Kernseife, Briefpapier, Postkarten, Schnürsenkel. Dann die verschiedenen Gerichte, die uns, außer dem Frühstücksbrot und Vespertee, am Mittag der grüne Proviantwagen aufs Feld bringt: Reis- und Chazilimgemüse, Nudeln und Chazilim, Spinat und Chazilim, Obstsuppe und Chazilim.

Der Speisesaal im Kibbutz Ein Charod, 1938, (c) Government Press Office Israel

Chazilim, Chazilim! Die neuen Deutschen verfolgen die Chazilim mit jenem inbrünstigen Haß, der schon wieder in lächelnde Resignation umschlägt. Es sind Lieder gegen dieses Uebermaß von Chazilim gedichtet worden, geholfen hat es nichts. Die blaue Riesenartischockc blüht und gedeiht. Das zweite Mal essen wir sie gemeinsam im „Chadar Haochel“, dem zentral gelegenen, sehr geschmackvoll, luftig und hell gebauten Speisesaal. Es ist laut wie in einer Bahnhofshalle, aber vergnügt laut. Und Landlärm stört nicht. Nach dem Abendessen wird Hebräisch gelernt. Oder in irgendeiner Ecke das Neueste aus der Zeitung vorgelesen. Oder man schreibt nach Hause: die Briefe kommen in einen Sammelbriefkasten, die Kwuzah frankiert sie, ihr Einzelmitglied hat ja kein Geld, also kann man schreiben, soviel man Lust hat, aber die Lust ist gar nicht so groß. Oder man musiziert; Schallplatten spenden Bach und Beethoven, öfters veranstalten auch gute Solisten „richtige“ Konzerte. Oder man diskutiert. Eins der Hauptthemen der Gespräche liefert die Frage: werden sich die jungen Deutschen hier einleben? Wird ihnen, die, seien wir ehrlich, oft ja auch nur Zwangszionisten oder Lebensflüchtlinge sind, der große Umbruch gelingen: der plötzliche Wechsel ihres Milieus, die Preisgabe ihrer individuellen Lebensführung, der Verzicht auf alle Bequemlichkeit, der Prozeß der Einschmelzung in eine große Gemeinschaft der Arbeit? Ist wirklich, wie es die alten jüdischrussischen Arbeiter sagen, alles nur eine Willensfrage? —

Das Dach am Kurfürstendamm steht leer. Nur mein Kater streicht durchs Gebälk. Er wird sich wundern.

Bild oben: Ein Charod aus der Luft, aus einer Serie von Zoltan Kluger, Eretz Israel aus der Luft 1937-38