„Gewaltfaszination und Hass sind nur einen Mausklick entfernt“

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Die Tat von Halle erschüttert Deutschland. Seit Mittwoch wird intensiv diskutiert, analysiert und darüber gestritten, wie es soweit kommen konnte. Dabei sind für Juden in Deutschland schon lange alle Grenzen des Erträglichen überschritten. Dennoch, über das Ausmaß der Gewalttat sind doch viele überrascht. Ein Gespräch mit dem Antisemitismus- und Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber…

haGalil: Herr Pfahl-Traughber, ist Stephan B. ein Einzeltäter? Oder ein sogenannter einsamer Wolf? Inwieweit helfen diese Definitionen, die Tat zu verstehen und einzuordnen?

Armin Pfahl-Traughber: Wenn man sie genauer fasst, dann schon sehr viel. Aber der Reihe nach: Nach jetzigem Kenntnisstand hat Stephan B. nicht nur allein gehandelt, er hat auch seine Tat allein geplant. Das bedeutet, dass ihm keine andere Person jeweils geholfen hat. Damit sind die formalen Kriterien für das, was Einzeltäter, Lone Actor oder Lone Wolf genannt wird, erfüllt.

Die Begriffe führen häufig zu Missverständnissen, da sie angeblich gesellschaftliche oder szene-bezogene Einflussfaktoren unterschlagen würden. Das ist indessen gar nicht der Fall. Es geht entsprechend der Formulierung beim Einzeltäter nur darum, dass die Tat eben von einem Einzelnen durchgeführt wurde. Drei Eigenschaften sind dem Gemeinten eigen: Erstens handelt er allein als Individuen, zweitens folgt er keiner Gruppe, und drittens sind seine Handlungen selbstbestimmt.

Dies schließt nicht aus, dass der Einzeltäter einer politischen Gruppe angehört oder angehört hat. In dieser wurde er häufig hinsichtlich seiner Gewaltorientierung und Ideologie sozialisiert, insofern kommt solchen Organisationen auch für den Weg zur Tat eine hohe Relevanz zu. Bei Stephan B. scheint dies indessen nicht der Fall gewesen zu sein. Er war offenbar auch ansonsten sozial isoliert und lebte sein Leben wohl im Internet.

Dort kam er indessen in Kontakt mit Seiten, die für Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Muslimenfeindlichkeit in Kombination mit einem ausgeprägten Gewaltfetischismus stehen. Deren Konsum verschärfte wohl bei ihm bereits vorhandene Neigungen, hätten solche Inhalte ihn doch ansonsten abgestoßen. Damit wurde eine latente Disposition zu einer manifesten Tat. Er ist als solcher ein Lone Actor, der sich eben über das Internet radikalisiert hat und damit einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten angehören wollte.

Sind solche Täter immer auch Antisemiten, Fremdenhasser, Frauenhasser? Kommt das im Komplettpaket?

Das ist nicht immer, aber häufig der Fall. Die Gemeinten verfügten über eine ähnliche Persönlichkeitsstruktur, die sich über den Hass auf bestimmte Gruppen identifiziert und aufwertet. Stephan B. hat in seinem sogenannten Manifest übrigens ausgeführt, dass er ursprünglich eine Moschee oder ein linkes Kulturzentrum angreifen wollte. Auch in seinen sonstigen Bekundungen in diesem Text werden verschiedene Feindbilder deutlich. Dabei liefert der Autor an keiner Stelle nur den Ansatz einer Begründung.

Meist äußert er sich nur zu technischen Fragen seines Vorgehens, also etwa, wie er durch die gut gesicherte Tür der Synagoge kommen wolle. Dann geht es aber nur noch um Aufrufe, Angehörige bestimmter Gruppen zu töten: Juden, Kommunisten, Muslime. An einer Stelle soll es sogar einen Christen treffen. Das Hauptfeindbild waren für den Täter aber die Juden. Besonders groß geschrieben steht denn auch auf einer Seite „Tötet alle Juden“.

Es gab auch in der Vergangenheit Anschläge auf deutsche Synagogen und jüdische Einrichtungen, gibt es eine neue Qualität in diesem Fall? In wieweit steht die Tat in der „Tradition“ rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland nach 1949?

Diese Tat steht tatsächlich für eine neue Qualität. Denn hier sollte es nicht um eine bloße Sachbeschädigung gehen. Stephan B. plante ein Massaker, er wollte so viele Juden wie nur möglich töten. Dafür gibt es im Deutschland nach 1949 eigentlich nur einen vergleichbaren Fall: Am 9. November 1969 sollte im Berliner Gemeindezentrum eine Bombe hochgehen, wobei diese aber von Linksterroristen und nicht von Neonazis gelegt worden war. Wäre es zur Explosion gekommen, dann hätte dies auch den Tot von vielen Besuchern der damaligen Gedenkveranstaltung zu den Pogromen von 1938 bedeutet.

1970 gab es einen Brandanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in München, wobei acht Bewohner des dortigen Altersheims ums Leben kamen. Bis heute ist nicht bekannt, wer die Täter waren. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vermutet Linksterroristen als Verantwortliche, konnte dafür aber bislang keine überzeugenden Belege vorweisen. In beiden Fällen soll es nach seiner Auffassung um Proteste gegen Israels Politik gegenüber den Palästinensern gegangen sein. Dafür konnten indessen die deutschen Juden wohl schwerlich etwas. Die damit eingehende Denklogik macht aus solchen Taten auch antisemitische.

1980 erschoss Uwe Behrendt, damals stellvertretender Leiter der gewaltorientierten neonazistischen „Wehrsportgruppe Hoffmann“, den Rabbiner und Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke. Er tat dies offenbar ohne Abstimmung mit seinem „Chef“, dem Leiter der Wehrsportgruppe. Das macht Behrendt eben auch zu einem Lone Actor, der aus heutiger Sicht ähnlich wie die NSU-Mörder vorging.

Und dann darf man den 2003 geplanten Anschlag anlässlich der Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München nicht vergessen, wollten die dort aktiven Neonazis doch dabei die anwesenden Gäste treffen. In all diesen Fällen handelt es sich um Anschlagsplanungen mit besonders hoher Gewaltintensität. Man sieht von daher, dass es schon eine solche „Tradition“ gibt. Das beabsichtigte Massaker steht indessen für eine „neue Qualität“.

In wieweit sehen Sie, dass das Internet eine Rolle in der Radikalisierung des Täters spielt? Welche Bedeutung hat das Internet für den Rechtsterrorismus?

Wie eben schon angedeutet hat für Stephan B.s Tat das Internet eine herausragende Bedeutung. Das gilt in gleich mehrfacher Hinsicht: Erstens ersetzte es die sozialen Kontakte, die ihm ansonsten in seinem Alltagsleben fehlten. Offenbar besuchte er einschlägige Seite an mehrere Stunden an den jeweiligen Tagen, wo er zweitens einschlägige Deutungsmuster, Hassbotschaften und Symbole kennenlernte und aufsog. Dabei ging es aber offenbar nicht um mögliche Gründe für seine Feindschaften. Was seinen Antisemitismus motivierte, bleibt unklar. Das Kürzel ZOG im sogenannten Manifest lässt ihn allenfalls als Anhänger einer antisemitischen Verschwörungsideologie erscheinen.

Dann erhöhte drittens die Internetnutzung auf bestimmten Seiten erkennbar auch Stephan B.s Gewaltbereitschaft, verlor Stephan B. doch zunächst nur als Einstellung jegliche Hemmung vor einem Töten. Für seine Internetgemeinde weltweit – daher wurde bei der Tat in englischer Sprache kommuniziert – filmte er seine Handlungen auch, welche ihm dann den Beifall von ähnlichen rechtsextremistischen Gewaltfetischisten einbringen sollte.

Man darf bei solchen Anlässen indessen nicht dem Internet die Schuld geben. Es kann nichts dafür, handelt es doch nicht. Gleichwohl ermöglicht dieses Kommunikationsmittel bestimmte Nähen, die es in dieser Form vor dem Internet eben nicht gab. Gewaltfaszination und Hass sind nur einen Mausklick entfernt. Dafür musste man früher komplizierte Wege gehen.

Welche Konsequenzen muss die Politik in Bezug auf den Rechtsterrorismus aus dieser Tat ziehen?

Eine erste Maßnahme müsste darin bestehen, den jüdischen Gemeinden für ihren Schutz mehr Unterstützung zu gewährleisten. Wenn mitunter bis zur Hälfte ihrer Einkünfte für Sicherheitsmaßnahmen verwendet werden, dann kann etwas mit dem auch staatlich zu gewährleistenden Schutz nicht stimmen. Dass an einem bedeutsamen jüdischen Feiertag keine Polizei vor der Synagoge präsent war, haben schon andere Kommentatoren mit Recht kritisch hervorgehoben.

Die Sicherheitsbehörden müssten auch der Radikalisierung über das Internet größere Aufmerksamkeit schenken. Es ist von außen nur schwer einschätzbar, ob man dort auch die inhaltlich wie technisch richtigen Experten sitzen hat, nur sollte es sie dort in wachsender Zahl geben. Hier stellt sich übrigens das alte Problem, wie Freiheit und Sicherheit in Einklang zu bringen sind. Denn ausführlichere Präventionsarbeit führt auch zu stärkerer Überwachung. Ob und wie man dies vor dem Hintergrund des genannten Dilemmas will, muss immer wieder gesellschaftlich und politisch neu verhandelt werden.

Indessen darf bei den Einzeltätern auch nicht ignoriert werden, dass es hier Grenzen für die Sicherheitsbehörden gibt. Je kleiner eine terroristische Gruppe, so lautet eine Einsicht, desto schlechter kann man ihrer habhaft werden. Dies gilt auch und gerade für die Lone Actors, vor allem dann, wenn sie keine persönlichen Kontakte in einschlägigen Organisationen hinein haben. Es mag sehr unangenehm klingen, aber es ist leider realistisch: Einen Breivik hätte man wohl auch in Deutschland nicht verhindert.

Danke für das Gespräch.

Darf ich am Ende noch einen Vorschlag machen?

Ja, bitte.

Man sollte die Tür zur Synagoge in der Form wie sie jetzt ist, also auch und gerade mit den Schusslöchern durch eine neue, noch sicherere Tür ersetzen. Diese eigentliche Tür, der doch viele Menschen ihr Leben verdanken, könnte einen Platz in einem gut besuchten Museum finden, etwa dem Haus der Geschichte in Bonn. Sie stellt eine beklemmende Erinnerung daran dar, was Antisemitismus auch in unserer Gegenwart sein kann.

Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, Lehrbeauftragter an der Universität Bonn und Herausgeber des „Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung“. Er war Mitglied im Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des deutschen Bundestages und ist im Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz. Zuletzt erschien von ihm „Rechtsextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme“ (Wiesbaden: VS Springer, 2019). Darin finden sich mehrere Kapitel zum Rechtsterrorismus, auch eines zum Lone Wolf-Terrorismus. Am Ende heißt es: „Denn bei der in den letzten Jahren stark angewachsenen Neonazi-Szene handelt es sich um ein Personenpotenzial, das in einem gewaltgeneigten und ressentimentgeladenen Milieu sozialisiert wurde. Es kann darin insofern durchaus auch ‚explodierende‘ und nicht nur ‚tickende Zeitbomben‘ geben“ (S. 293). Stephan B. gehörte wohl nicht einer Neonazi-Gruppe an, gleichwohl wurde er zu einer solchen explodierenden Zeitbombe.

Bild oben: Synagoge in Halle (Saale), Jüdischer Friedhof, Humboldtstraße, (c) Allexkoch