Der Ausdruck Kindertransporte bezeichnet eine Rettungsmission, bei der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ungefähr 10.000 vor allem jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich, dann auch aus der Tschechoslowakei und Polen vor den Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht wurden. Sie wurden von ihren Eltern getrennt, mit Zügen und Schiffen nach Großbritannien gebracht und dort von britischen Familien oder sozialen Einrichtungen aufgenommen. Die meisten dieser Kinder sahen ihre Eltern nie wieder und überlebten oft als einzige ihrer Familien den Holocaust. Viele Kinder blieben in England und bauten sich ein neues Leben auf, einige taten dies in anderen Ländern, in die sie später weiterzogen…
Von Herbert Voglmayr
Die in New York ansässige „Kindertransport Association“ (KTA) organisierte zum 80-jährigen Jubiläum für eine Gruppe von Überlebenden dieser Kindertransporte (heute im Alter von Ende 80/Anfang 90) bzw. deren Nachkommen eine Gedenkreise, um die damaligen Reisestationen nachzufahren. Die Reise führt von 1.-14. Juli 2019 per Zug von Wien nach Berlin, weiter nach Amsterdam und Den Haag, dann per Fähre nach Harwich und schließlich nach London. Dabei werden die Plätze ihrer verlorenen Kindheit und Gedenkstätten ihrer ermordeten Familienangehörigen besucht. Die Reise wurde organisiert in Kooperation mit dem Jewish Welcome Service Vienna, dem Österreichischen Filmmuseum, dem Kindertransportmuseum Wien, der deutschen Gewerkschaft verdi, dem Abgeordnetenhaus Berlin, dem Second Generation Network London und einigen mehr.
Die Schließung von Grenzen und ihre grausamen Folgen
Viele der Kinder (im Alter zwischen 2 und 17 Jahren) verstanden nicht, warum sie von ihren Eltern weg geschickt wurden, fühlten sich ungeliebt oder gar verstoßen. Da halfen auch ermutigende Worte wie „Du wirst eine große Abenteuerreise machen“ nicht viel. Die grausame Situation resultierte aus der Tatsache, dass die Juden in Deutschland in der Falle saßen, weil einerseits schon bald nach Hitlers Machtübernahme für Juden kaum mehr Ausreisevisa zu haben waren und andererseits die strengen Einwanderungsbestimmungen vieler Länder die Aufnahme deutscher Juden trotz ihrer Verfolgung nahezu unmöglich machten. Um eine Lösung für dieses Problem zu finden, initiierte US-Präsident Roosevelt eine Konferenz, die im Juli 1938 im französischen Kurort Evian stattfand und an der 31 Länder teilnahmen. Die Konferenz dauerte acht Tage, endete mit großen Proklamationen, aber die meisten der teilnehmenden Länder weigerten sich, weitere Immigranten aufzunehmen.
Auch nach den Novemberpogromen (der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf 10. November 1938), einem von den Nazis organisierten Gewaltausbruch gegen Juden in Deutschland und Österreich, blieben die meisten Länder bei ihrer restriktiven Einwanderungspolitik. Lediglich die britische Regierung reagierte schnell und lockerte wenige Tage später die Einreisebestimmungen, erließ einen Aufruf an britische Familien, Pflegekinder aufzunehmen und erlaubte die Einwanderung von jüdischen Kindern bis zum Alter von 17 Jahren, sofern ein Förderer oder eine Pflegefamilie für sie gefunden wurden.
An der Organisation der Kindertransporte engagierten sich viele Organisationen und Privatpersonen. In Großbritannien waren es vor allem einflussreiche Juden und Quäker, die Druck auf die Regierung ausübten und sich zur Stellung von Garantiesummen für die Umsiedlungskosten der Kinder verpflichteten. Gleichzeitig verhandelte Geertruida Wijsmuller-Meyer, eine christliche niederländische Bankiersfrau, mit Adolf Eichmann in Wien und erreichte eine pauschale Duldung solcher Transporte, allerdings unter strengen Auflagen (die Kinder durften nur einen kleinen Koffer und zehn Reichsmark mitnehmen).
Die Entscheidung der britischen Regierung erfolgte auch mit dem Hintergedanken, mit einer Demonstration guten Willens die USA dazu zu bringen, ihre Einreisebestimmungen ebenfalls zu lockern, was aber nicht geschah. Lediglich die Niederlande, Belgien, Frankreich, die Schweiz und Schweden nahmen weitere 8.000 jüdische Kinder auf. Die Kindertransporte begannen Anfang Dezember 1938 und endeten mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939. Für eineinhalb Millionen Kinder, die im Holocaust ermordet wurden, gab es dann kein Entkommen mehr.
Kindertransporte einst und Flüchtlingsbewegungen heute
Die von der Kindertransport Association organisierte Gedenkreise richtet den Blick zurück in eine dunkle Vergangenheit, in der privates Engagement und Zivilcourage einen Lichtblick darstellten, auch unter den widrigsten politischen Umständen. Sie rückt eine Geschichte ins Bewusstsein, die geprägt ist von traurigen Abschieden und tragischen Verlusten, aber auch von zweiten Chancen und erfolgreichen Neuanfängen, die durch die engagierte Hilfsbereitschaft von Fremden ermöglicht wurden.
Gleichzeitig wirft diese Reise ein grelles Licht auf die Gegenwart, in der Bilder von Flucht und Hoffnungslosigkeit sowie Medienberichte über die Schließung von Grenzen gegenüber Migranten allgegenwärtig sind, in den USA ebenso wie in Europa. Tragische Berichte über die Trennung weinender Kinder von ihren Eltern an der amerikanisch-mexikanischen Grenze oder über hunderte und tausende ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer nehmen kein Ende. Gleichzeitig häufen sich in den Ländern, die ihre Grenzen schließen, fremdenfeindliche und antisemitische Vorfälle, Migranten und Flüchtlinge werden auf zum Teil menschenverachtende Weise behandelt. Der Blick auf die Geschichte der Kindertransporte und das, was folgte, zeigt, welch furchtbares Unheil von solch feindseliger Politik ausgehen kann.
Bild oben: Großbritannien: Kinder polnischer Juden aus dem Gebiet zwischen Deutschland und Polen bei Ihrer Ankunft mit der „Warschau“ in London. Aufn. Februar 1939, (c) Bundesarchiv, Bild 183-S69279 / CC-BY-SA 3.0