In großer Sorge haben sich zwölf Nachfahren NS-Verfolgter erneut in einem Offenen Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten gegen Abschiebungen nach Afghanistan gewandt. Zu den Erstunterzeichnern gehören der Theresienstadt-Überlebende und Zeitzeuge Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, die Schriftstellerin Amelie Fried und Jan Mühlstein von der Liberalen Jüdische Gemeinden Beth Shalom in München…
Wie sie schreiben, schieben die bayerischen Ausländerbehörden nach wie vor „unterschiedslos bestens integrierte junge Menschen ab“ und „nehmen weder Rücksicht auf schwere Erkrankungen der Betroffenen noch auf familiäre Bindungen“.
Mit 25 Sammelabschiebungen wurden mit Stand vom 17. Juni 2018 genau 600 Menschen aus Deutschland nach Kabul geflogen. Weit über die Hälfte von ihnen lebte zuvor in Bayern, das damit weitaus mehr Abschiebungen nach Afghanistan verantworte als jedes andere Bundesland.
Große Sorgen bereiten auch Berichte des Anti-Folter-Komitees des Europarats über Menschenrechtsverletzungen bei Abschiebungen und in der Abschiebehaft. Die so genannten Anker-Zentren entwickelten sich „zunehmend zu Lagern, wie wir sie auf deutschem Boden nie wieder haben wollen“.
Schon vor sechs Monaten hatte die Gruppe in einem Offenen Brief an Dr. Markus Söder ein Ende der Abschiebungen gefordert.
Sie schrieben:
„Vor siebzig Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet unter dem Eindruck der entsetzlichen nationalsozialistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Als Nachfahren von Opfern dieser Verbrechen wenden wir uns an Sie, um die Beachtung der Menschenrechte für Geflüchtete im Bayern von heute einzufordern.“ Damals erhielten sie „keine substantiierte Antwort“. Jetzt bitten sie um einen Gesprächstermin mit der Staatsregierung.
Der Offene Brief vom 18. Juni 2019 im Wortlaut:
„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
Im vergangenen Dezember habe ich Ihnen gemeinsam mit zwanzig anderen Hinterbliebenen von Opfern des Naziterrors einen Offenen Brief geschrieben, in dem wir unsere Sorge wegen der Abschiebungen nach Afghanistan ausdrücken und schreiben: „Eine Lehre aus der deutschen Geschichte muss darin bestehen, rechtzeitig einzuschreiten, wenn staatliches Unrecht droht. Die Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete ist ein solches Unrecht.“
Leider hat dieser Brief an der Praxis der Staatsregierung nichts geändert. In einer allgemein gehaltenen Antwort schrieb Staatsminister Herrmann, die Staatsregierung vollziehe „das geltende Asylrecht dabei mit dem gebotenen Augenmaß.“ Nach unserem Eindruck hingegen schieben die Ausländerbehörden unterschiedslos bestens integrierte junge Menschen ab, denen zuvor die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Arbeitsverhältnisses verboten wurde. Die Behörden nehmen weder Rücksicht auf schwere Erkrankungen der Betroffenen noch auf familiäre Bindungen.(1)
Seit Dezember 2016 sind mit 25 Flügen 600 Menschen nach Kabul geschickt worden. Weit mehr als die Hälfte wurde aus Bayern abgeschoben, obwohl der Anteil Bayerns an den bundesweit gestellten Asylerstanträgen 2018 nur bei 13,5% lag.
Mit Bestürzung müssen wir auch immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen bei Abschiebungen feststellen. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter berichtete über die Verletzung des Kindeswohls bei der Abschiebung einer mir persönlich bekannten Familie nach Albanien im August 2017.(2) Und in seinem Bericht vom 9.5.2019 dokumentiert das Anti-Folter-Komitee des Europarats eine Sammelabschiebung nach Afghanistan im August 2018. Es kritisiert darin Begleitbeamte der Bundespolizei für das Zufügen von Schmerzen „z.B. durch Quetschen der Genitalien“ und das Einschränken der Atmungsfähigkeit, um „kooperatives Verhalten zu erreichen“.(3)
Im Weiteren kritisiert das Anti-Folter-Komitee die Situation im Abschiebegefängnis Eichstätt. Ein trauriges Jubiläum: Vor hundert Jahren wurde die Abschiebehaft erstmalig in Deutschland eingeführt, um so genannte „Ostjuden“ leichter aus Bayern deportieren zu können.(4)
Und schließlich entwickeln sich die so genannten Anker-Zentren zunehmend zu Lagern, wie wir sie auf deutschem Boden nie wieder haben wollen. Die Unterbringung von zwei Familien in einem Raum, der ebenso wie die Sanitärräume nicht verschließbar ist, die mangelnden Möglichkeiten, Kinder angemessen zu ernähren und zu betreuen (5) – all das ist nicht hinnehmbar, zumal Familien mit Kindern teilweise jahrelang in diesen Zentren leben müssen, so eine weitere mir persönlich bekannte Familie, die nun trotz zahlreicher ärztlicher Atteste abgeschoben werden soll.(6) Den vorläufigen Höhepunkt aber stellen die kürzlich bekannt gewordenen Ausschreitungen des Sicherheitsdienstes im Ankerzentrum Bamberg dar, wo offensichtlich Rechtsextremisten beschäftigt sind.(7)
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, all dies besorgt uns sehr. Daher bitten wir Sie um ein Gespräch mit Ihnen oder einem verantwortlichen Vertreter der Staatsregierung.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Nowotny“
(1) https://www.nordbayern.de/emporung uber abschiebung hochschwangere traumatisiert 1.7794550, https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/beitrag/items/bestens-integriert-ausbildungsplatz-abgeschoben-nach-kabulbestens-integriert-ausbildungsplatz-abgeschoben-nach-kabul.html, https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/beitrag/items/abschiebungen-nach-afghanistan-bayern-geht-voran.html
(4) https://www.sueddeutsche.de/bayern/100-jahre-abschiebehaft-bayern-sammellager-ingolstadt-1.4434308
(5) https://www.unicef.de/blob/137024/ecc6a2cfed1abe041d261b489d2ae6cf/kindheit-im-wartezustand-unicef-fluechtlingskinderstudie-2017-data.pdf,
https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/tl_files/2016_PDF-Dokumente/PILOT%20STUDIE%20Kinderrechte%20in%20ARE%202%20-%20final.pdf,
https://www.sueddeutsche.de/politik/ankerzentren-kinder-1.4051680