Tovit Schultz Granoffs Deggendorfer Visite

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Vor 70 Jahren wurde das DP-Camp7 im niederbayerischen Deggendorf geschlossen. Seit dem Sommer 1945 hatten hier insgesamt 2 000 jüdische KZ-Überlebende aus Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Österreich Unterschlupf, medizinische und materielle Hilfe gefunden, betreut von der UNRRA, geschützt von US-Soldaten. Obwohl sie zeitweise mehr als fünfzehn Prozent der Einwohner des Donaustädtchens stellten und ein abgeschlossener Teil des örtlichen Friedhofs Toten aus dem Camp das Ewigkeitsgedenken sichert, wurde die Erinnerung an das Lager und die Menschen dort verdrängt. Jetzt soll eine Darstellung der Ereignisse im Stadtmuseum aufgebaut werden…

Von S. Michael Westerholz/Deggenau

Auch als hagalil.com 2011 in einer sechsteiligen Serie die Historie des Camps 7, und in einer weiteren Serie das Schicksal der Berliner und schwäbischen Juristen- und Rabbinerfamilie Treitel exemplarisch beschrieb, deren Angehöriger Notar und Anwalt Dr. Richard Treitel nach der Befreiung aus dem KZ Theresienstadt im Deggendorfer Camp untergekommen war, reagierte die Stadtspitze im Rathaus nicht. Neuerdings aber planen Museumschefin Dr. Birgitta Petschek-Sommer und ihre Mitarbeiterin Anja Braehmer eine Umgestaltung des Stadtmuseums, und dabei unter anderem eine Darstellung des DP-Camps 7. Tovit Schultz Granoff aus Israel, Enkelin polnischer DP in Deggendorf, brachte jetzt dafür Bilder und Dokumente in das Museum.

Holocaust-Überlebende aus Theresienstadt, Flossenbürg, Buchenwald, Mauthausen, Auschwitz hatten in diesem Lager in Eigenverwaltung eine Kultusgemeinde, Schulen, Kindergärten gegründet, zwei Zeitungen herausgegeben, Lagergeld gedruckt, Kunst- und Kulturveranstaltungen aller Art organisiert. Doch die Erinnerungen daran wurden so verdrängt, dass Nachfahren einstiger Bewohner persönlich auf Spurensuche gehen müssen und eher in jüdischen Archiven, als in der Stadt an der Donau fündig werden. Wer im Rathaus Deggendorf Familienurkunden (Heirat, Geburten, Tod) beschaffen will, benötigt wegen des rigiden Datenschutzes der deutschen Bürokratie zahlreiche Familienurkunden als Beweis des Familien-Zusammenhangs.

Dass in der künftigen neuen Museumsabteilung viel gezeigt und mit Hilfe elektronischer Geräte angehört werden kann, ist seit dem 23. Mai 2019 markant garantiert. An diesem Tage meldete sich Tovit Schultz Granoff in Deggendorf, Enkelin von Felek Balicki und Esther Mekler, die sich 1945 im Camp 7 begegnet waren, in Deggendorf geheiratet hatten und 1946 Eltern des Sohnes Jeshaya geworden waren. Tovit Schultz-Granoff förderte den Plan, das einstige DP-Camp7 museal darzustellen, mit zahlreichen Fotos und Dokumenten. Sie reiste dafür aus Haifa in Israel an, wo sie mit Mann und vier Kindern lebt und gegenwärtig ein Masterstudium der Holocaust-Historie absolviert.

Die Besucherin war in Toronto in Kanada aufgewachsen und sucht nach 20-jähriger erfolgreicher Anwaltstätigkeit gegenwärtig Spuren der familiären Geschichte und der Holocaust-Ursachen unter anderem in Deggendorf, in Leo-Baeck-Instituten und im New Yorker Holocaust-Memorial. Sie wirkte angespannt, als die Kunsthistorikerin Dr. Sabine Rehm-Deutinger sie durch die sogenannte Alte Kaserne führte: In dieser riesigen Backsteinanlage, die ursprünglich niederbayerische Irrenanstalt, dann eine illegale Kaserne der Deutschen Wehrmacht, hernach Flüchtlingsheim und schließlich das DP-Camp 7 war, hatten sich 1945 Felek Balicki (damals 33) und Esther Mekler (22) gefunden.

Sie waren im polnischen Kasimierz bzw. Pilica geboren worden. Als die deutschen Besatzer Polens ihre mörderische Jagd auf Juden begannen, wurden Angehörige beider Familien Opfer der Deutschen. Einige versteckten sich jedoch über Jahre hinweg in Wäldern, Sümpfen, Einöden Polens, Rußlands und Weißrußlands, manchmal bei mutigen Helfern. Die Freude über die Rettung und die vermeintliche Sicherheit im befreiten Polen wurde zum Albtraum, als zum Beispiel Felek Balicki sein Haus und Geschäft wieder übernehmen wollte: Die neuen Bewohner drohten ihm mit der Ermordung. Eine strapazenreiche Flucht brachte ihn nach Deggendorf, wo auch die gleichfalls durch Pogrome im katholischen Polen bedrohten Geschwister Esther und Moszek Mekler gelandet waren.

Tovit Schultz-Granoffs Hände zitterten, als sie im Standesamt Deggendorf Kopien der Heiratsurkunde ihrer Großeltern Balicki-Mekler sowie der Geburtsurkunde ihres 1946 in einer Villa neben dem Stadtkrankenhaus geborenen Onkels Jeshaya entgegennahm. Zugleich war sie überglücklich, auf Spuren ihrer Großeltern gestoßen zu sein. Im Gegensatz zu vielen lebenslang verschwiegenen Holocaust-Überlebenden hatte vor allem der Großvater seiner Familie berichtet, was er und seine Frau erlebt und überlebt hatten. So wusste Enkelin Tovit, wo sie sich umschauen musste.

Felek und Esther Balicki in ihrer zweiten Heimat Toronto/JKanada

Der Großvater habe gute Erinnerungen an Deggendorf gehabt, sei froh ins Leben zurückgekehrt, erzählte die Enkelin. Er habe im DP-Camp für die UNRRA, ein UN-Hilfswerk, gearbeitet, sich in der damaligen allgemeinen Not wie fast jedermann auch an Schwarzmarkt-Geschäften beteiligt. „Als sein Sohn geboren worden war, war er so begeistert, dass er eine Kuh kaufte, damit ausreichend Milch für das Kind vorhanden war“ – die Holocaust-Überlebenden, wie seine Frau und er selbst, seien ja total geschwächt gewesen und mühsam aufgepäppelt worden. Kontakte zu Deutschen habe es kaum gegeben, aber die Unterbringung habe er in guter Erinnerung gehabt, vor allem die Möglichkeiten zum Wassersport im Weiher neben dem Camp 7. Den hatten einst Wehrmachtssoldaten gegraben, später war er zum Deggendorfer Stadtbad ausgebaut worden.

Das DP-Camp 7 Deggendorf wurde 1949 aufgelöst, die meisten Insassen waren nach Palästina (seit 1948 Israel!) und nach Nordamerika ausgewandert, nur wenige in Deutschland geblieben. Ein jüdischer Friedhof als Extra-Abschnitt des Stadtfriedhofs erinnert an das Camp. Die Eheleute Balicki-Mekler waren schon 1946 nach Toronto in Kanada ausgewandert. Felek Balicki eröffnete dort ein Schmuckgeschäft. 1948 wurde die Tochter Roslyn geboren, die vier Töchter gebar. Die wiederum brachten es mit ihren Ehemännern auf insgesamt fünfzehn Enkelkinder. Die Familie Balicki-Mekler mit ihren beiden Kindern brachte es auf sechs Enkeltöchter und 19 Urenkelkinder.

Balicki-Tochter Roslyn mit ihren vier Töchtern, deren Ehemännern und den Enkelkindern

Im Stadtmuseum begeisterten sich Birgitta Petschek-Sommer und Anja Braehmer an der schieren Foto- und Dokumentenmasse zur Geschichte des DP-Camps 7, die auf Datenspeicher überspielt wurde und nun eingeordnet werden kann. Das ist umso leichter, als überdies Bücher einstiger Bewohner des Camps vorliegen, die in ihren Biographien auch ihre Erinnerungen an Deggendorf und das DP-Camp 7 niedergeschrieben haben.

Sogar Nobelpreisträger Albert Einstein spielte hier eine Rolle. Die ehemals Berliner Drucker- und Verlegerfamilie Richard und Sofie Ehrlich hatte ihm berichtet, wie und wann seine Schwester im KZ Theresienstadt gestorben war. Die Ehrlichs hatten sie dort so gut es ging betreut. Zum Dank für ihr Bemühen verschaffte das Geistesgenie Einstein den Eheleuten Ehrlich die Einwanderungsvisa für die USA, wo sie mit ihrem Sohn zusammentrafen: Der war rechtzeitig nach England in Sicherheit gebracht und nun zum Familienwiedersehen bevorzugt in die USA geholt worden. Ein Tagebuch, welches Ehrlichs in Theresienstadt geführt und mit nach Deggendorf gebracht hatten, hat sich erhalten.

Neu ist dank Tovit Schultz Granoff die Erkenntnis, dass der Oberstkommandierende der Alliierten, die Deutschland schließlich besiegt hatten, Dwight D. Eisenhower, 1945/46 das DP-Camp 7 Deggendorf besucht hatte. Die Besucherin präsentierte auch Fotos dieses Besuchs in der Alten Kaserne, die mittlerweile eine moderne Tagesklinik für zahlreiche Krankheitsbilder beherbergt, privat unterhalten von der Medizinerfamilie Dres. Buchmüller.

Tovit Schultz-Granoff reiste am 24. Mai nach Haifa zurück: Sie wird weiterhin Kontakt zur Museumsleitung Deggendorf halten.

Bild oben: Esther Balicki mit ihrem in Deggendorf geborenen Sohn Jeshaya, Alle Fotos: (c) privat