„Entlastung für Auschwitz. Palästina, Israel und die Deutschen“

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Zum Tode des großen, zornigen Polemikers Wolfgang Pohrt…

„Und der Verdacht muss keimen: So außergewöhnlich völkermörderisch, wie die Israelis nun sind, war Auschwitz vielleicht nur ein kleiner Fehler. (…) Weil gerade die Linken hier weder den Nationalsozialismus noch Auschwitz begriffen haben, weil sie Ersteren mit einem besonders tyrannischen Regime und Letzteres mit einem besonders grausamen Blutbad verwechseln, deshalb haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, das Unrecht, welches sie anderswo entdecken, könne Deutschland entlasten.“
Wolfgang Pohrt

Von Roland Kaufhold

Wolfgang Pohrt, der intellektuelle Vor- und Querdenker „der“ Antideutschen, war weitgehend vergessen, als er kurz vor Weihnachten im Alter von 73 Jahren verstarb. Als Name kannte man  ihn in linken Kreisen wohl noch, als sprachmächtigen Störenfried, als „unversöhnten“ geistigen Widerpart. Unvergessen war er vermutlich bei den „Traditionslinken“, den „Israelkritikern“; ihnen hatte er Wunden zugefügt, deren sehr deutsche, geschichtsklitternden Motive hatte er in den 1970er und 1980er Jahren bloßgelegt, immer wieder und luzide.

Wolfgang Pohrt verfügte über die Gabe, sich immer wieder konsequent, in unnachahmlicher Schärfe, Direktheit und Überzeugungskraft unbequem zu machen, gerade bei Linken. Er deckte dumpfes chauvinistisches Ressentiment auf, gerade wenn es um das Phantasma des demokratischen Staates Israel ging.

Seine Vorträge – von denen ich keinen einzigen erlebt habe, nicht einmal den im King Georg in Köln (2012) – sollen immer wieder Tumulte ausgelöst haben, berichtet man. Nach einem „Konkret“-Kongress (also einem innerlinken Selbstvergewisserungsprozess, dem man eher nicht beiwohnen möchte) waren die Proteste und Tumulte so stark, dass Pohrt sogar dort für ein Jahr seine Stimme verstummen ließ.

Sein Talent, bei öffentlichen Vorträgen – er hatte immer ein Manuskript dabei, freies Vortragen war nicht seine Stärke – immer ganz konsequent den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen, sogar seine Einlader nicht zu verschonen, vergrößerte nicht zwingend die Schar seiner Freunde und Anhänger. Als seinen originären Job bezeichnete er die „Ideologiekritik“, seine wissenschaftliche Position war die eines Soziologen. Linke, Grüne und insbesondere die in Entstehung begriffene „Alternativbewegung“ waren seine natürlichen Gegner, denen gegenüber er als Querdenker und „Abweichler“ „arrogant“ auftrat.

Alles, was Wolfgang Pohrt in den 1980er Jahren über die Motive insbesondere überzeugter „Linker“ Deutscher geschrieben hat – und das meiste davon habe ich nicht gelesen – ist zutreffend.

Die „Alternativbewegung“: Ein „bedingungsloses Jawoll“

In einer geharnischten Besprechung eines Buches von Huber über die Alternativbewegung, die der Spiegel am 22.12.1980 brachte, schreibt Pohrt über den Autor: „… zeigt sein Bild die Welt nicht grau in grau, sondern in lebensfrohen Farben. „Ein Feuerwerk von Ideen“ oder „Ein Karussell von Projekten“ lauten die Zwischentitel. Die Farben aber sind es dann auch, die das Bild zum Kippen bringen. Man braucht kein Anhänger der Alternativbewegung zu sein, um zusammenzuzucken bei Hubers lapidarem Befund: „Der bunte Pluralismus der Alternativbewegung ist ein Schatz an Philosophie und Lebensmöglichkeiten.“ Die Abgeschmacktheit des Kompliments bezeugt eine Geringschätzung des Adressaten, die ihn als unschädlich voraussetzt, tendenziell schon, wie in den Traueranzeigen, als Leiche. Unter solchen Kranzschleifen vergrub man in Deutschland die Bücher, bevor man sie verbrannte.“

Huber als Protagonist und Laudator der Alternativbewegung komme gut an, weil er in seinem Tonfall ein „bedingungsloses Jawoll“ heraubrülle. Man wird konstatieren dürfen: Der Grüne „Landesvater“ Kretschmer sowie der unschuldige junge Menschen vollquatschende und bedrohende Bürgermeister des Dorfes Tübingen, ein gewisser Boris Palmer, bestätigen die Wirkkraft der von Pohrt beschriebenen Prozesse – die bei einem vielfach vorbestraften ehemaligen Häftling aus Baden-Württemberg, einem gewissen Helmut Palmer, begonnen haben. Auch jener, 1930 geborene Bürgerschreck und Gewaltmensch hatte ganz alternativ als Beschneider von Bäumen, als Obstbaumkundler und Hobbygärtner begonnen.

Friedensbewegung und linker Antisemitismus

Die „Friedensbewegung“ der frühen 1980er Jahre betrachtete und analysierte Wolfgang Pohrt mit Verachtung ob ihrer bereits seinerzeit klar erkennbaren Israelfeindschaft und ihres Antiamerikanismus. Dieses bleibt wohl sein größtes Verdienst. Seine Vorträge über „Israel, Juden und Deutschland“ aus den frühen 1980er Jahren sind in bestürzender Weise zeitlos gültig. Der Hass vieler Linker auf Menachem Begin ist in den Jahrzehnten danach durch die Namen von Sharon und heute Netanjahu ersetzt worden, wie auch in der Biografie des linken, viel zu früh verstorbenen Psychoanalytikers Sammy Speier nachgewiesen werden kann. Als Menachem Begin Bundeskanzler Helmut Schmidt 1981, in Erinnerung an dessen Wehrmachtuniform und –tätigkeit, in sehr scharfer Weise attackierte nahmen auch und gerade große Teile der deutschen Linken dies reflexhaft zum Anlass, um eine „Distanzierung“ jedes „guten Juden“ vom Zionismus zu fordern. Der schuldentlastende und sich selbst glorifizierende Mechanismus ist bis heute gleich geblieben, was auch Sammy Speicher bereits vor 40 Jahren sehr präzise beschrieben hat. Der Vernichtungswunsch ist unübersehbar. Auschwitz erschien als ein „kleiner Fehler“. Eigentlich war ja Israel der Täterstaat, da störte die „Erinnerung“ doch sehr. Die Literaten Grass und Walser zehrten hiervon, triumphierten. Gauland und Höcke sind heute deren quasi natürlichen Verbündeten und Weggefährten. Ich weiß nicht, ob und was Pohrt über den veritablen Judenhasser und „Protagonisten des Judenknaxes“, Dieter Kunzelmann, geschrieben hat. Das würde mich wirklich interessieren. Pohrts von Klaus Bittermann – „Abweichler, Rechthaber, Analytiker“ betitelt Bittermann seinen taz-Nachruf auf seinen Freund und Kollegen – herausgegebene elfbändige Werkausgabe bietet Gelegenheit, diese Prozesse im Detail nachzuvollziehen.

„Ein Volk, ein Reich, ein Frieden“

Die liberale ZEIT brachte 1981 einen Beitrag von Wolfgang Pohrt. Er war stilecht mit „Ein Volk, ein Reich, ein Frieden. Über die Friedensbewegung und das neue, alte Heimatgefühl“ überschrieben. Die zornig-polemische Analyse entfaltete eine vielleicht noch stärkere Wirkung, als der gelernte Polemiker geahnt hatte. Pohrts einleitende Bemerkungen lassen keinerlei Unklarheiten entstehen: „Wenn die Atombomben gezündet werden, sind wir tot. Mit den Gegnern der Nachrüstung und der Neutronenbombe aber müssen wir leben. Wenn die Bombe gefallen ist, leidet niemand mehr.“ Daraufhin wurde die ZEIT mit derart vielen empörten Leserbriefen aus dem Kernbereich ihrer „linksliberalen“ Leserschaft überschüttet, dass sie Pohrt nie wieder publizierte. Die Liberalität hatte sehr rasch ihre Grenzen erreicht.

Zur Veranschaulichung von Pohrts Sprachkraft seien einige Passagen wiedergegeben:

„Mögen anderswo menschliche Vernunft, menschliche Absicht und menschlicher Wille bloß eine List der Geschichte gewesen sein – in Deutschland waren sie allesamt ausgekochte, abgefeimte Hinterlist. Sogar die „antikapitalistische Sehnsucht der Massen“ führte hier gegen alle Erwartung nicht zur revolutionären Befreiung von der Herrschaft des Kapitals, sondern zu deren Krönung, Vollendung und Aufhebung im KZ. Die Teilung hat dieses Land nicht, wie von den Alliierten beabsichtigt, halbiert, sondern verdoppelt. Im nationalen Größenwahn ist es untergegangen, aber Untergänge waren für Deutschlands Wirtschaftskraft eine Frischzellenkur. (…) Hier hat man die Abschaffung von Privilegien so verstanden, daß der kleine Mann, so er Blockwart ist, keine Nachteile befürchten muß, wenn er die Privilegierten denunziert. Hier hat man wortgewaltig den Krämergeist und die Kapitalisten beschimpft, und das Kapital gedieh prächtig dabei, aber danach waren alle Juden tot. Hier ist nichts ungefährlich, nicht mal die Begeisterung für den Frieden – schon gar nicht, wenn die Friedensbegeisterung eine deutschnationale Erweckungsbewegung katalysiert.“

Dann geht Wolfgang Pohrt auf die seinerzeitige Diskussion über die Nachrüstung (Stichwort: SS 20) ein:

„Mit Sicherheit sind die Raketen am Ende immer noch da, und nur unser Verstand, unsere Glaubwürdigkeit, unsere Einsichten, und Erkenntnisse sind weg. Eine Friedensbewegung, die keine Parteien und Klassen mehr, sondern nur noch Deutsche kennt, kann nur einen Teilerfolg erringen: die endgültige Niederlage der Linken.“

Pohrt endet in dieser Weise: „Das Volk ist kein Begriff, den die Nazis erst ruinieren mußten, sondern seit hundert Jahren schon die Lüge von der notwendigen schicksalhaften Verbundenheit der einzelnen im nationalen Zwangskollektiv – die Lüge also, welche die aufklärerische Idee der Menschheit und mit ihr das bis heute uneingelöste Versprechen der sozialistischen Revolution dementiert, den Verein freier Menschen.“

„… den Krieg zum Sachwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit machen (1982)“

Auch wenn Wolfgang Pohrt seinerzeit viel gelesen wurde, so blieb seine Rezeption aus meiner Sicht doch eher begrenzt. Eine Ausnahme bildet, wie so oft, Deniz Yücel, etwa als er in seinem gradiosen taz-Essay (2011) „Kolumne Geburtenschwund. Super, Deutschland schafft sich ab!“ auf Pohrts Diktum verwies, Deutschland verfüge über das Privileg, „ den Krieg zum Sachwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit gemacht zu haben.“

Pohrts Einordnung der linken Palästina-Solidarität als Parteinahme für einen „großen militanten Heimatvertriebenenverband“ war bereits mit dem festgefügt „antizionistischen“ Weltbild vieler Linker nicht vereinbar. Ihr Zorn über sein nüchternes Diktum ist in seiner Vehemenz mit den heutigen Ergüssen von AfD- und Pegida-Unterstützern vergleichbar.

Als Henryk M. Broder, von 1979 bis 1980 gemeinsam mit Peter Finkelgruen Herausgeber der in Köln erscheinenden „Freien jüdischen Stimme“, sich noch als dezidiert „links“ verstand zitierte er Pohrt gerne, wenn auch nur vereinzelt. 1983, zu diesem Zeitpunkt hatte Broder „für immer“ das unbelehrbare Deutschland Richtung Israel verlassen (was ihm denn doch nicht ganz gelungen zu sein scheint), zeitgleich mit Peter Finkelgruen, veröffentlichte Broder im Spiegel eine Besprechung von Pohrts bei „Rotbuch“ erschienenem Werk „Endstation“. Das Buch war geprägt von der übereifrigen Wut vieler bundesdeutscher Linker über die israelische Invasion im Libanon 1982 (welche wiederum 400.000 Israelis zum Protest auf die Straßen trieb; Intellektuelle wie Amoz Oz und Abraham B. Jehoschua hatten bereits am ersten Kriegstag öffentlich hiergegen protestiert.). Die Invasion war ein Versuch, mit militärischen Mitteln endlich für Ruhe an der Nordgrenze Israels zu sorgen. Pohrt analysierte in seinem Buch, dass das „linke“ infantile Gebrüll vom „Genozid“, vom „israelischen Holocaust“ und von der „Endlösung der Palästinenserfrage“ nahezu nichts mit der Situation in Nahost des Jahres 1982 zu tun hatte. Es diente im Sinne einer innergenerationellen deutschen Schuldentlastung vielmehr dazu, „die Sünden der eigenen Väter durch den Verweis auf das jetzige Verhalten der väterlichen Opfer auszugleichen“, wie Broder zusammenfassend zutreffend konstatiert. Vor allem in der taz tobten sich Hunderte von Leserbriefschreiber aus und bezichtigten Wolfgang Pohrt der „antideutschen Hetze“. Wie unschwer zu erkennen ist, wiederholt sich 35 Jahre später diese selbstgerechte und geschichtsleugnende Hysterie – jedoch diesmal von radikal „Rechts“, in den Reihen der AfD und von Pegida. Dennoch: Die Lektüre von Broders verständnisvoller Besprechung lohnt sich auch heute noch. 30 Jahre später sollte wiederum Pohrt Broder auf „Achgut“ einen öffentlichen Brief schreiben, in dem er ihn mahnt: „Was den Israelis ganz bestimmt nicht hilft, ist verbale Herumdrescherei auf den Moslems hier. Die alte Langspielplatte seit dem Berliner Antisemitismusstreit, nur dass die Juden durch die Moslems ersetzt wurden: »Sie wollen sich nicht integrieren. Und wenn sie sich integrieren wollen und sich für integriert halten …. sind sie es nicht wirklich.« Also wenn die Moslems sagen, was Augstein sagt, kommt es bei den Moslems vom Islam. Islamophobie ist eine Art Aufbautraining für schwächelnden Antisemitismus. Bei den Moslems risikolos üben, und dann, wenn man es kann: »Ist Israel nicht auch ein Gottesstaat? Wie ist das mit Ehe und Scheidung? Sind die Juden nicht genau so fanatisch wie die Moslems?«“

Zeitgleich mit Pohrts Aufsätzen und vermutlich auch inspiriert durch diese vollzog der frühere „Straßenkämpfer“ Joschka Fischer seine Wende hin zur parlamentarischen Strategie wie auch zu einem angemessenen Verständnis der schwierigen Situation Israels. Während viele Linke Anfang der 1980er Jahre noch von der „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ prahlten, auch als Schuldabwehr und als Versuch einer Umkehrung der deutschen Geschichte auf Kosten der Opfer, warnte Fischer 1982 im Frankfurter „Pflasterstrand“ vor der Romantisierung der Palästinenser, vor einer „blinden Solidarität“ mit deren blutigem Terror gegen Israel.

In Pohrts bis heute vereinzelt erwähntem, im Juni 1982 in der taz publizierten Beitrag Entlastung für Auschwitz. Palästina, Israel und die Deutschen stellt Pohrt lakonisch und doch in historisch-kritischer Breite fest – es lohnt sich, ausnahmsweise längere Passagen seines zornigen Essays wiederzugeben –:

„Die Juden in Deutschland sind tot, vernichtet, es gibt sie nicht mehr. Dennoch gerät man hier leicht in den Verdacht, einer zu sein. Zwar wird dieser Verdacht (noch) nicht ausgesprochen, aber er ist in sonderbaren Verknüpfungen enthalten, die ohne ihn nicht zu erklären sind. Man rechtfertigt zum Beispiel Begins klares und entschiedenes Urteil über den westdeutschen Bundeskanzler als politisch-moralische Person und wird dann prompt aufgefordert, sich vom Zionismus zu distanzieren – als schlösse die Zustimmung zu einem wahren Urteil über den Bundeskanzler dann, wenn es von einem israelischen Ministerpräsidenten gesprochen wurde, auch die Verpflichtung ein, sich über den Zionismus eine Meinung gebildet zu haben und in Fragen israelischer Politik kompetent zu sein. Weil zwischen beidem aber nicht der geringste sachliche oder logische Zusammenhang besteht, muß die Aufforderung, man solle sich zum Zionismus äußern, auf der Vermutung gründen, ein solcher Zusammenhang sei durch die Person gegeben: Wer Begin gegen die beleidigte Volksgemeinschaft in Schutz nimmt, muß ein Jude sein. Als solcher hat er die Pflicht, zu beweisen, daß er ein guter Jude ist, d.h. er muß sich vom Zionismus distanzieren. Die Bitte, den Arier-Nachweis vorzuzeigen, schwingt verstohlen auch in der bei allen linken und alternativen Versammlungen und Diskussionen mittlerweile üblichen Standard-Frage mit, wer er denn eigentlich sei. (…)

Stets folgert aus dem Ideal absoluter Reinheit die deprimierende Diagnose: Totalverseuchung. Totalvernichtung inklusive der eigenen Bevölkerung, war konsequenterweise die Therapie.  
Wenn also, nach Auschwitz, die Juden alle und niemand sind, gegen wen richtet sich dann der Antisemitismus in Deutschland? Er richtet sich nicht gegen jene Deutschen, die beträchtlichen inszenatorischen Aufwand betreiben müssen, um als Juden zu gelten, sondern er richtet sich gegen Israel, und die Rehabilitierung Deutschlands als Nation ist sein Zweck. Weil gerade die Linken hier weder den Nationalsozialismus noch Auschwitz begriffen haben, weil sie ersteren mit einem besonders tyrannischem Regime und letzteren mit einem besonders grausamen Blutbad verwechseln, deshalb haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, das Unrecht, welches sie anderswo entdecken, könne Deutschland entlasten. Wenn sich die deutsche Vergangenheit schon nicht verteidigen und rechtfertigen läßt, dann soll wenigstens niemand besser sein, und schon gar nicht die Juden. Die Annahme, der Zionismus könne diesem Nachweis dienen, hat ihn für die westdeutsche Linke so außerordentlich und weit über das Maß seiner realen Bedeutung hinaus interessant gemacht. Dreihundert von der südafrikanischen Polizei in Soweto erschossene Schüler kümmern niemand. Drei erschossene Schüler in Hebron machen die westdeutsche Linke vor Empörung fassungslos. Die Unterdrückung und Verfolgung der Palästinenser durch Israel wird so genau beobachtet und so leidenschaftlich angeprangert, weil sie beweisen soll: es gibt keinen Unterschied. So merkt die westdeutsche Linke nicht, daß ihr der Unterschied zwischen Deutschland und den anderen Nationen mit jedem Versuch, ihn zu verwischen und zu tilgen, nur umso kolossaler entgegentritt. Gewiß werden die Palästinenser von Israel unterdrückt, in Einzelfällen gefoltert; dies aber unter Bedingungen, unter denen es in Deutschland längst keine parlamentarische Demokratie, keine Opposition und keine bürgerlichen Freiheitsrechte mehr gäbe. Ob im Recht oder im Unrecht -jedenfalls sind die Palästinenser für Israel eine reale Bedrohung. Hier aber hat eine fiktive Bedrohung genügt, um die ganze Bevölkerung in ein Volk von Häschern und Denunzianten zu verwandeln, damals, als man in Stammheim drei Leichen fand, und keiner der tapferen Wortführer gegen Israel hat den Mut gehabt, nach der Todesursache zu fragen. 
Das Unrecht überall auf der Welt zu verurteilen ist das Recht auch der Deutschen. Moralische Empörung aber ist hier stets mit einer guten Portion Heuchelei vermischt. Empörung setzt voraus, daß man sich wundert, daß man die Dinge, die geschehen, für unglaublich hält. Viel weniger aber noch als anderswo kann es in Deutschland wundern, daß Israel seinen erklärten Gegner blutig unterdrückt. Die einzige Frage, die hier Rätsel aufgeben kann, lautet: Warum waren die Machthaber in Israel so zimperlich? Warum sorgte Israel nicht dafür, daß militante Schülerdemonstrationen in Hebron oder Ramallah nicht mehr stattfinden können? Oder ist denn, anders gefragt, auch nur ein Fall bekannt, wo Juden nach 1933 in Deutschland der Polizei eine Straßenschlacht geliefert hätten? Hat es Unruhe und Aufruhr unter denen gegeben, die in Sammellagern auf ihre Deportation warten mußten? Gab es blutige Kämpfe und Schießereien wie in Ramallah oder Hebron, die das Interesse der Weltöffentlichkeit auf sich lenkten? Man kennt die Antwort, und damit kennt man den Unterschied. Überall auf der Welt und zu allen Zeiten wurden Menschen umgebracht. Hier aber hat ein namenloses Grauen lebendige Menschen in bewegliche Tote verwandelt. Gestorben waren sie schon, bevor sie in die Lager kamen. Dort sind sie nur noch vernichtet worden. An deutschen Vernichtungslagern, und nirgends sonst, findet der Begriff Genozid seine Bestimmung: als planmäßiger, systematisch betriebener, kontinuierlicher Mord an Millionen Menschen, mit welchem sich kein anderer Zweck und keine andere Absicht verbindet als bloß die der Vernichtung. (…)

Weil der Antisemitismus, ob er will oder nicht, es stets mit den Mächtigen hält, kann er Israel (…) nicht schaden. Schaden kann er nur den Ohnmächtigen, den Staatenlosen, den Flüchtlingen, zu denen auch jene Palästinenser zählen, die jetzt verbluten, unter den mörderischen Schlägen der israelischen Armee zwar, aber auch unter den anfeuernden Rufen ihrer verantwortungslosen Führer (Kampf bis zum letzten Mann) und unter dem heuchlerischen Wehgeschrei ihrer falschen Freunde nicht nur in den arabischen Ländern, welche den Streit schürten, ohne im Ernst den Palästinensern helfen zu können, ohne es auch nur zu wollen. Denn außer den Palästinensern selber kann niemand wirklich Interesse daran haben an einem zweiten Israel im Nahen Osten -nach den Erfahrungen, die man mit dem ersten Israel machte, und die sich jetzt aufs Deprimierendste bestätigen: Wenn Menschen sich als Volk zusammenrotten und einen eigenen Staat bekommen, sind alle humanitären Traditionen und ist die ganze Leidensgeschichte vergessen. Als Patrioten fügen sie anderen zu, was sie erlitten, als sie als vaterlandslose Gesellen galten. Kein Grund zur Annahme, die Palästinenser würden sich, wenn sie Erfolg hätten, anders verhalten als die Israelis. Kein Grund freilich auch, von den Palästinensern zu erwarten oder zu verlangen, aus den Bombardements ihrer Flüchtlingslager durch die israelische Luftwaffe eine andere Lehre zu ziehen als jene Juden, die Israel gründeten: daß man vertreiben und verfolgen muß, will man nicht zu den Verfolgten und Vertriebenen zählen.“ (Pohrt in der taz 28.6.1982, Quelle: http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr341.htm)

Biografische Facetten

1945 geboren studierte Wolfgang Pohrt in Berlin und Frankfurt Soziologie, Politiologie und Psychologie. Begegnungen mit der Arbeitswelt nahmen ihm alle Illusionen. Marx, Horkheimer Arendt und weitere Klassiker inspirierten ihn. Der Zerfallsprozess der 68er Bewegung erlebte und analysierte er, ohne jemals Sympathien für doktrinäre K-Gruppen zu entwickeln. Von 1974 bis 1980 lehrte er als promovierter Assistent an der Hochschule Lüneburg Soziologie. Eine glänzende Karriere stand dem jungen Wissenschaftler offen, dessen Studien und Aufsehen wegen ihrer Sprachkraft große Aufmerksamkeit erregten.

Der Unibetrieb gefielt ihm nicht, dessen durchschaubare Scheinwelt dürfte in ihm auch Ekel erregt haben, vermute ich. Als er 35 war, 1980, begann er damit, für zahlreiche große Medien und Rundfunkanstalten Beiträge zu schreiben, bis 1987. Unmittelbar nach deren Erscheinen wurden Spiegel, taz und die Zeit mit Dutzenden oder sogar Hunderten von empörten Leserbriefen überschüttet.

Wolfgang Pohrt, heimatlos geworden oder schon immer heimatlos, resignierte angesichts des Elends der Linken sowie der für ihn absehbaren gesellschaftlichen Entwicklung. Er beendete seine Tätigkeit als Publizist, zog sich zurück, wohl auch ökonomisch verarmend. Jan Philipp Reemtsma nahm Pohrts Angebot bzw. Bitte an, als „gesellschaftstheoretisierender Privatier“ ein an Adornos Studien zum Autoritären Charakter angelehntes Forschungsprojekt mit dem Titel Massenbewusstsein in der Umbruchsphase durchzuführen. Pohrt blieb frei von allen institutionellen Verpflichtungen, brauchte nicht in Reemtsmas Institut aufzutauchen. Es folgten weitere kleine Forschungstätigkeiten. Dem Duktus der Provokation blieb er mit zunehmendem Rückzug treu.

Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2004 verstummte er ganz. Mit dieser Welt wollte er wohl nicht mehr im Austausch stehen.

Vereinzelte Vorträge, so einer zum „Gebremsten Schaum. Linksradikalismus im Sozialstaat“ erreichten nur noch eine Partialöffentlichkeit; er wurde 2016 im Netz veröffentlicht.

Zehn Jahre später erlitt Wolfgang Pohrt einen Schlaganfall, an dessen Folgen er nun vier Jahre später verstorben ist. Als 2016 mit Triumph des guten Willens eine linke filmische Hommage an Pohrts Freund und Weggefährten Eike Geisel erschien hatte Wolfgang Pohrt daran nicht mehr als Zeitzeuge mitzuwirken vermocht. So musste sich die filmische Erinnerung auf Interviews mit Alex Feuerherdt, Klaus Bittermann, Hermann L. Gremliza und Henryk M. Broder beschränken.

Zur Werksausgabe: Wolfgang Pohrt – Werke in 11 Bänden

Bild oben: (c) Edition Tiamat

Wolfgang Pohrt – Bye Bye Sozialismus from Magazin on Vimeo.

1 Kommentar

  1. Es fehlt hier eine Würdigung des späteren Pohrts:

    >>Für erneute Kontroversen sorgte sein Auftritt am 30. September 2003, im Vorfeld des 13. Jahrestages der Deutschen Wiedervereinigung, auf einer Podiumsdiskussion zusammen mit Henryk M. Broder, zu der das Berliner Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus geladen hatte.[8] Dort vertrat Pohrt die Ansicht, dass die Gefahren von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Deutschland „von allen Medienkonzernen und überhaupt allen einflussreichen Gruppen“ aufgebauscht würden „mit dem Zweck, später unbehelligt die sogenannte Agenda 2010 durchziehen zu können, ein Programm zur Verelendung der Armen“. Sein Resümee in dieser Frage lautete: „Menschen brauchen soziale Kontrolle, und für die Ausländer in Deutschland gibt es davon derzeit zu wenig.“ Auch die Renaissance eines aggressiven deutschen Nationalstaates wurde von Pohrt bestritten: Die Deutschen wären dazu gar nicht in der Lage, da sie sich aufgrund ihrer Altersstruktur vielmehr um Rente und Zahnersatz kümmern müssten.[9] Infolge der Diskussion seines Berliner Auftritts entstand Pohrts Buch FAQ, in dem er sich – zwischenzeitlich von Robert Kurz als „antideutscher Turnvater“ bezeichnet – von den Antideutschen distanziert. Nicht mehr Rassismus und Antisemitismus seien mittlerweile Konsens, sondern deren Kritik. Die staatliche Förderung dieser Kritik diene dazu, die soziale Frage zu verschleiern.<>Jetzt, wo die Verelendung der Armen beschlossene Sache ist, auf dass der Reichtum der Reichen wachse, ziehen sich die Volksfreunde enttäuscht zurück. Sie hatten sich als Fürsprecher der Arbeiter und der Armen aufgeführt, weil sie in ihren Schützlingen die Sieger von morgen sahen und von ihnen mit Erfolg und Ruhm belohnt zu werden hofften. Sie merken jetzt: Sie hatten auf das falsche Pferd gesetzt. Die Armen sind wirklich nur noch arm, und seither hat das Thema für diese Linke jeden Reiz verloren. Kein siegreiches Proletariat in der Sowjetunion mehr, unter dessen Schutz man sich stellte, wenn man die Schwachen hier zu schützen vorgab. Anlehnung wird seither anderswo gesucht, aber auf die gleiche Weise. In manchen Gemütshaushalten anlehnungsbedürftiger Menschen scheinen die USA heute eine ähnliche Rolle zu spielen, wie die Sowjetunion sie zu Zeiten des Ostblocks eingenommen hat. Während die Armen auf den Status von Almosenempfängern zurückgeworfen werden und die arbeitende Bevölkerung zwecks Altersvorsorge zum Kauf von Spekulationspapieren angehalten ist, welche dem Verkäufer einen Platz an der Sonne und dem Besitzer einen im Armenhaus sichern, währenddessen also kennt diese Linke keine Klassen mehr, nur noch Rassen. Rassismus, Antisemitismus, nichts sonst.<< "FAQ (Politische Kritik)" S. 23

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