Sechs Millionen in deutscher Tracht

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Am 22.9.2018 berichtet die „Tagesschau“, dass man zum Oktoberfest dieses Jahr etwa 6 Millionen Besucher erwartet. Die Zahl 6 Millionen erinnerte mich an die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus…

Von Ruth Zeifert
Zuerst erschienen: Jungle Blog, 03.10.2018

In der Münchner Grundschule meiner Tochter ist zum Oktoberfest ein Trachtentag angesagt. Man darf im Dirndl, aber auch die Tracht seiner Herkunft anziehen. Viele Klassenkameradinnen schwingen sich gerne ins Dirndl, etwas weniger Buben in die Lederhose. Auch meine Töchter möchten lieber ein Dirndl, als in Alltagskleidung zu gehen. Unbedingt. „Mama, Du kommst nicht aus Bayern, aber ich bin ein Münchner Kindl und hier trägt man ein Dirndl.“ Trägt man?

Um die Zeit des Oktoberfests herum dirndlt es die letzten Jahre tatsächlich zunehmend. So gibt es dann auch einige Berichte über die Herkunft, Verwendung und den Unterschied von Dirndl und Tracht. Demnach waren Trachten eher auf dem Land üblich und der Prototyp des Dirndl offenbar Mitte der 40er Jahre von Gertrud Pesendorfer tatsächlich als praktisch-fesches Outfit der guten, reinen deutschen Frau entworfen.

Wurde es 2006 mit dem Fussballweltmeisterschaftssommermärchen wieder unverfänglich, die Deutschlandfahne zu wedeln, „verkleiden“ sich heute, 2018, nahezu 6 Millionen Menschen als Deutsche. Völlig unverfänglich.

Nach dem Trachtentag in der Schule rief die Direktorin an. Meine 7jährige Tochter, der ich verboten habe im deutsch-nationalen Gwand in die Schule zu gehen, habe die Mädchen im Dirndl zum weinen gebracht. Sie habe gesagt, Hitler habe das Dirndl erfunden und der habe viele Menschen umgebracht.

Wir argumentieren. Meiner Ansicht nach hat meine Tochter recht gehandelt. Zudem hat sie die Information aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung. Meine Tochter sitzt jeden morgen neben mir, wenn ich die Zeitung lese. Sie will einige Überschriften, den „Witz“ (die Karikatur) und ein paar Artikel vorgelesen- oder erklärt bekommen. Die Direktorin sagt, das Thema Hitler sei für Zweitklässler nicht zu verstehen. Ganz klar das Privileg von Nichtjuden, denke ich. Spannender aber ist ihre Erklärung, der Trachtentag ist gut gemeint.

Hier bei uns in Bayern ist die Tracht ein Teil unserer Tradition und man geht auf das Oktoberfest. Deshalb trägt man in der Schule als bayrisches Kind einmal im Jahr die Tracht. Man muss ja nicht und man kann ja auch eine andere oder keine Tracht anziehen.

Meine Kinder möchten ein Dirndl, weil sie dazu gehören möchten. Nicht, weil sie eine freie Entscheidung haben. Meine Kinder haben keine Tracht. Keine bayrische und keine andere. Der biodeutsche Münchner Vater ist samt Familie volkstümlichen Gewändern ebenso abgewandt, wie ich und ich habe als gebürtige Hessin keine Tracht. Wenn doch, würde ich diese wohl eher nicht tragen.

Wenn Mary aus Afrika im Dirndl kommt, sagt der große Rest „Wie süß: die Kleine aus Afrika trägt ein Dirndl.“ Die kleine Mary kam mit drei Jahren als Flüchtlingskind nach Bayern. Sie hat keine Verbindung zu einer Tracht aus Afrika. Eine deutsche Tracht, die das tradierte Familien- oder Gemeinschaftserbe ausdrücken soll, sieht an einem äußerlich migrantischen Kind leider doch meist schlicht wie ein schmunzeln-lassender Fremdkörper aus – oder meinen Sie, das ist gelungene Integration? Und wie schön ist es doch aus deutscher Sicht, wenn die Mädchen aus Somalia ihre Kopftücher in der Grundschule nicht tragen. Sollen sie am Trachtentag wie ihre Mütter gehen, die sie täglich in gelebter Tracht abholen? Im langen Rock, mit bunten, schönen Tüchern über dem Kopf? Als Zeichen der Toleranz sollen sie es am Trachtentag zeigen, danach aber wäre es schön, als Zeichen der gelungenen Integration, es wieder abzulegen. Schwierig ist es. Ohne Zweifel.

Gruppenzugehörigkeit an solch einem Tag bedeutet, sich als einer Region, Nation oder einem Volk zugehörig zu präsentieren. Der Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Jörg Häntzschel, schreibt am 29. Juli 2018, es sei merkwürdig, wie schwer es just den Deutschen falle, sein Gegenüber nicht auf seine ethnische, kulturelle oder religiöse Herkunft hin abzuklopfen. Er kommt zu dem Schluß: „Deutschland hat keine Vorstellung vom Deutschsein, das nicht ethnisch definiert ist.“ Und ist darauf auch noch stolz, frage ich mich?

In den letzten Monaten sehen wir, wie diese urdeutschen Bayern so sind. Der Söder und der Seehofer plakatieren, regieren und kommentieren ihre Welt: „Bayern zuerst“, „unsere“ christlich Werte seien die ‚Leitkultur‘ und Heimat über alles – wenn es sein soll mit massivem Grenzschutz und dem Unterrichtsfach Bayrisch. Und dann kommen 6.000.000 Menschen aus München, Bayern, Deutschland und der Welt und spielen im heilen Heimatfilm-Outfit „Deutschsein“.

Dass das private auch politisch ist, ist seit den 1970er Jahren eigentlich bekannt. Ich nehme den einzelnen Dirndl-, Lederhosen- oder Trachtenträger/innen tatsächlich ab, dass sie es nicht politisch meinen. Trotzdem: Vor wenigen Jahren noch war es der Mehrheitsgesellschaft aufgrund der nationalsozialistischen Geschichte eher unangenehm, das Deutschsein rauszuhängen. Man muss schon mal fragen, was passiert ist, dass es heute wieder so angenehm ist? Schämen tut man sich offensichtlich nicht mehr. Es ist doch lediglich zwei/drei Generationen her, dass zum Beispiel meine Großeltern um ihr Leben rannten.

Deutschland ist geläutert. Die Übeltäter bestraft, uralt oder tot. Gedenkstätten errichtet und gepflegt. Die Moral ist wiederhergestellt. Deutschland ist sogar erfolgreich mit neuen Juden besiedelt. Es sind leider nur gut Zweihunderttausend, aber es werden mehr.

Die Dirndl- und Lederhosenträger gehen bald wieder, Leute, wie Söder und Seehofer bleiben. 6.000.000 möchtegern Bayern. Überall, wo ich gerade laufe und stehe. Freunde, Fremde, Kinder, Plakatwand, Glotze, Zeitung. Ist halt so ein Ding grade. Es soll ein Lebensgefühl ausdrücken. Bei mir löst die Zahl der Besucher und die Aufforderung an meine Töchter, sie sollen eine Tracht anziehen, die Assoziation zu einer anderen deutschen „Tracht“ aus. Vor meinen Augen laufen 6.000.000 Muselmanen in den blau-grauen Anzügen der KZ Insassen durch Deutschland. Anstelle der Dirndl. Lageruniformen mit passender Frisur und Figur. Das ist eindrucksvoll und eine grausame szenische Assoziation. Aber sie kommt einfach. So unbeschwert, wie das deutsche Madl/ der deutsche Bua ist die Vorstellung halt nicht. (Vor gut 70 Jahren aber waren die noch Ausdruck der Zerstörung und des Massenmordes.)

Den Nationalsozialismus wird es, davon bin ich überzeugt, nie wieder in den Ausmassen unserer Geschichte geben. Dennoch werde ich wohl erst nach der Wahl glauben können, dass sich hier nicht doch auch eine neues deutsches Nationalgefühl als Gesellschaftsphänomen zeigt, indem so, sagen wir mal liebevoll, ‚rückwertsgerichtete‘ Leute, wie Söder und Seehofer die gewählte Mitte der Gesellschaft repräsentieren. Einer Gesellschaft, die ich so selbstverständlich weder mit meiner Stimme, noch mein Outfit unterstütze.

Bild oben: Mädchen mit spielenden Kindern, 1933, Verschiedene Porträtaufnahmen von Charakterköpfen, gesammelt im Rassepolitischen Amt der NSDAP, (c) Bundesarchiv, Bild 119-5592-12A / CC-BY-SA 3.0

1 Kommentar

  1. Ein sehr interessanter Artikel, ich denke, dass die Trauerkultur und das politisch-geschichtliche Bewusstsein in Deutschland die Reife hat, dass man das Tragen von Dirndl und Trachten nicht als kollektive Selbstvergessenheit deuten muss, die sich politisch negativ auf das jüdische oder anderes intelligente Leben auswirken wird. Die politische Einvernahme von Trachten vollzogen die Faschisten durch „Fachleute“ wie die von Ihnen erwähnte gelernte Sekretärin Gertrud Pesendorfer. Man sollte das nicht so direkt auf heutige Verhältnisse übertragen, ohne den kulturgeschichtlichen Zusammenhang näher zu beleuchten, warum Trachten aktuell tatsächlich ein modischer Sehnsuchtsort zu sein scheinen.

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