Vernichtung und Neuanfang – Das neue Jahrbuch des Nürnberger Instituts

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Den Jahren zwischen 1938–1948 – eine Dekade zwischen Vernichtung und Neuanfang – nähert sich das Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts in seinem inzwischen 9. Jahrbuch: Aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven – Israel und Zionismus, Displaced Persons (DPs), Stadt-, Lokal- und Regionalgeschichte – reflektieren Historiker und Historikerinnen aus Deutschland, Israel und Österreich den Zeitraum zwischen dem Novemberpogrom in Nazi-Deutschland bis zur Errichtung des Staates Israel…

Von Birgit Seemann

„Die Geburt einer Nation“ (zit. n. S. 86) titelte am 5. Dezember 1947 die Exilzeitschrift AUFBAU. Anlass war die UN-Resolution des 29. November 1947, Palästina als britisches Mandatsgebiet aufzulösen und in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufzuteilen. Für die Überlebenden der Shoa und ihre Nachkommen bedeutete und bedeutet ein eigener Staat die Sicherung ihrer Existenz, den Fortbestand des Judentums und Schutz vor Antisemitismus. Die ‚Davongekommenen‘ verstanden sich als Trägerinnen und Träger „einer historischen Mission, die ihre Pflicht gegenüber den Toten erfüllten. Nach der Niederschlagung des NS-Regimes konnte die Welt der Scheerit Haplejta, dem Rest der Geretteten, wie sich die Überlebenden nannten, eine nationale Heimstatt nicht mehr verwehren“ (Editorial, S. 7). Freude und Hoffnung bei der Proklamation des Staates Israel am 14. Mai 1948 wurden sogleich überschattet von der Kriegserklärung der Nachbarstaaten Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon, Saudi-Arabien und Syrien. Nur drei Jahre lag die Shoa zurück, deren Auftakt der NS-staatlich organisierte Novemberpogrom 1938 war.

Dem Zeitraum 1938–1948 – eine Dekade zwischen Vernichtung und Neuanfang – nähert sich das Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts in seinem inzwischen 9. Jahrbuch: Aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven – Israel und Zionismus, Displaced Persons (DPs), Stadt-, Lokal- und Regionalgeschichte – reflektieren Historiker und Historikerinnen aus Deutschland, Israel und Österreich das Schwerpunktthema ‚Flucht, Vertreibung, neue Heimat‘. Zu Anfang widmet sich Siegberts Wolfs instruktiver Beitrag ‚“Hier ist das Leben schwer, aber irgendwie sinnreicher als in Europa jetzt“‚ der Biografie Martin Bubers in Jerusalem: Dort traf der mit 60 Jahren aus Nazi-Deutschland vertriebene bekannte Sozial- und Religionsphilosoph zusammen mit seiner Ehepartnerin, der Schriftstellerin Paula Judith Buber (Pseudonym: Georg Munk) und den beiden noch minderjährigen Enkelinnen Barbara Goldschmidt und Prof. Judith Buber-Agassi im Jahr 1938 ein. Der Familie begegnete ein „unruhiges Land inmitten des seit 1936 andauernden arabischen Aufstandes unter Führung des mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Muftis von Jerusalem, Mohammed Amin el-Husseini […]“ (S. 13). Wolf beschreibt, wie nachhaltig Martin Buber – neben seinen akademischen Verpflichtungen als Professor für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität – seine an Gustav Landauer orientierte libertäre Dialogphilosophie in den Dienst eines binationalen Ausgleichs zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung stellte.

Der Begriff ‚Zionismus‘ wird auch in bundesdeutschen Kontexten noch immer allzu häufig schlagwortartig gebraucht, ohne über seine unterschiedlichen Richtungen und Diskurse nachzudenken. So ist beispielsweise Martin Buber dem von Achad Ha’am (d.i. Ascher Ginsberg) geprägten Kulturzionismus zuzurechnen. Im Schatten der Forschung stehen bislang auch die weiblichen Persönlichkeiten des Zionismus, die seitens der bundesdeutschen Frauenbewegung wenig Beachtung fanden (und finden) – möglicherweise ein Grund, weshalb Meron Medzinis bereits 2008 in einem Berliner Verlag veröffentlichte (2017 als Online-Ausgabe wieder aufgelegte) politische Biografie von Israels Ministerpräsidentin Golda Meir bis dato (2018) nicht ins Deutsche übersetzt wurde? Wichtige Recherche-Wegweiser liefert Andrea Livnat Beitrag mit dem nach Martin Buber zitierten Titel „Aber größer als die Schuld der Jüdin am Niedergang ihres Volkes wird ihr Anteil an seiner Wiedergeburt sein“. Livnat dokumentiert entlang der wechselvollen und spannenden Biografien der frühen Kämpferin Mirjam Schach, der Ärztin Rahel Straus und der Pionierin Rachel Janait das konsequente und vielfältige weibliche Engagement für die Gestaltung und Umsetzung der zionistischen Ideen von den Anfängen bis in das heutige Israel. Kritisch reflektiert sie die Widersprüche zwischen der frühen formellen Gleichstellung der zionistischen Akteurinnen und den ‚real-existierenden‘ Bedingungen. Das Themenfeld ‚Israel und Zionismus‘ rundet die Untersuchung ‚“Von den Fesseln des Weißbuchs befreit!“‚ der nurinst-Mitherausgeberin Nicola Schlichting ab: Für den Zeitraum November 1947 bis Mai 1948 hat sie Artikel und Kommentare aus den beiden wichtigsten zeitgenössischen Publikationen – AUFBAU und Mitteilungsblatt – der deutschen Juden und Jüdinnen in den USA und in Israel gesichtet. Eindrucksvoll führt uns Schlichting die Vielfalt der Standpunkte und Auffassungen zur Gründung des Staates Israel vor Augen.

Mit Fokus auf die jüdischen Displaced Persons stellen drei Mikrostudien weitgehend unbekannte Aspekte der DP-Forschung vor. So widmet sich Marcus Velkes Beitrag ‚“… endlich den Staub Deutschlands von ihren Füßen abschütteln“ – Das Palestine Transit Camp im DP-Lager Bocholt 1946–1948‘ der Geschichte des Stadtwaldlagers Bocholt im Westmünsterland (Nordrhein-Westfalen); dort kamen nacheinander und teilweise gleichzeitig eine SS-­Legion, die Wehrmacht, nichtdeutsche Kriegsgefangene und osteuropäische Zwangsarbeiter/innen, Displaced Persons (DPs) sowie Flüchtlinge aus Ungarn und aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands unter. Über das seit 1946 mit bis zu 12.000 Bewohnerinnen und Bewohnern größte jüdische DP-Camp im Nachkriegsdeutschland informieren Katja Seybold und Thomas Rahe in ihrem Aufsatz ‚Die Gründung des Staates Israel und die Auswanderung aus dem jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen‘. In seinem Beitrag „Die Kinder haben beachtliches Vertrauen entwickelt“‚ macht Jim G. Tobias auf das ‚International Children’s Center Aglasterhausen‘ (Neckar-Odenwald-Kreis, Baden-Württemberg) aufmerksam: Dort wurden zwischen 1945 und 1948 rund 600 unbegleitete minderjährige DP-Flüchtlinge versorgt. Mit teils schweren Schädigungen hatten sie NS-Verfolgung, Shoa und Krieg überlebt – oft als einzige ihrer Familien. Der Gebäudekomplex, in dem das DP-Waisenhaus untergebracht war, weist eine düstere Vorgeschichte auf: Während der NS-Zeit fielen von den im damaligen ‚Schwarzacher Hof‘ durch die Diakonie betreuten Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern über 200 Menschen dem NS-Behindertenmassenmord zum Opfer. Möglicherweise war die schuldhafte Verstrickung in die staatlich organisierte ‚Euthanasie‘-Vernichtung ein Grund, dass die US-Militärregierung den Hof 1945 beschlagnahmte und der UNRRA, einer Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, übergab. In dem nachfolgenden ‚International Children’s Center Aglasterhausen‘ fanden jüdische und nichtjüdische Kinder sowie Jugendliche aus verschiedenen Herkunftsnationen Hilfe und Unterstützung.

In den Beiträgen aus der Stadt-, Regional- und Lokalforschung ist insbesondere Christoph Linds faktenreicher und einfühlsamer Aufsatz ‚“Wo sie bleiben – interessiert nicht“‚ über ein in der Forschung noch weiter aufzuarbeitendes Thema hervorzuheben: die Lebenssituation, Verfolgung und Deportation der so genannten „Provinzjuden“ nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahr 1938. Hier ruft Lind die Zerstörung der österreichisch-jüdischen Landgemeinden in Erinnerung – ein Weckruf für weitere Recherchen. Alexander Schmidt nähert sich in seinem Beitrag ‚“Allmächt, was ist jetzt das, ich habe ja die Hand voll Blut?“‚ entlang gesichteten Akten- und Fotomaterials dem NS-Novemberpogrom in der damaligen „Stadt der Reichsparteitage“ Nürnberg. Monika Berthold-Hilpert skizziert in ihrem Aufsatz ‚Die Judaica-Sammlung des Gottfried Stammler‘ die Geschichte des Heimatmuseums der mittelfränkisch-bayerischen Gemeinde Schnaittach und seiner Exponate mit Bewertung von Stammlers Rolle in der NS-Zeit, bei der Aneignung jüdischen Besitzes sowie seiner Eigendarstellung in der Nachkriegszeit. Abschließend wird wie in den vorausgegangenen Jahrbüchern wieder eine wissenschaftliche Institution präsentiert – diesmal das von Rotraud Ries vorgestellte Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte.

Mit seinem 9. nurinst-Band hat das Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts erneut eine gelungene Publikation mit vielfältigen Beiträgen vorgelegt, wo Unbekanntes und Vergessenes jenseits des ‚Mainstream‘ seinen Ort findet. Es bleibt sehr zu wünschen, dass das nicht öffentlich geförderte Institut auch künftig seine Jahrbuch-Projekte realisieren kann.

nurinst 2018 – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Band 9. Schwerpunktthema: Flucht, Vertreibung, neue Heimat. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Jim G. Tobias und Nicola Schlichting. Nürnberg 2018: ANTOGO Verlag, 171 S. 20 Abb., ISBN 978-3-938286-52-4, 14,- EUR, Bestellen?

Weitere Informationen: http://www.nurinst.org/

Bild oben: Demonstration in Bergen-Belsen gegen die zwangsweise Rückführung der Exodus-Passagiere, 7. September 1947, Foto: The Josef Rosensaft Collection (YVA)