Netanjahu will den ESC für seine Zwecke missbrauchen?

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Ein Kommentar zur Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung…

Von Martina Steer

Die Präsenz Israels und der palästinensischen Gebiete in den Medien bietet immer wieder Anlass zur Diskussion. Dies gilt auch für die Berichterstattung in der „Süddeutsche Zeitung“. Auch dort riefen bereits des Öfteren Texte und Karikaturen ungläubiges Kopfschütteln bei denen hervor, die sensible für Antisemitismus sind, und die Verständnis für die schwierige Lage des Landes haben. Doch es waren in der Vergangenheit auch Reportagen darunter, die über die Region und ihre Bewohner berichteten und aus denen man Neues erfahren konnte, die vermeintlich Bekanntes hinterfragten und nachdenklich machten.

Das ist seit dem Korrespondentenwechsel im Herbst letzten Jahres anders. Seitdem die hochgelobte Journalistin und ehemalige Chefredakteurin der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“, Alexandra Föderl-Schmid, als Korrespondentin für Israel und die besetzten Gebiete über diese Region berichtet, bekommt der interessierte Leser oder die interessierte Leserin allenfalls aufgewärmte Kost geboten – Informationen, die man bereits einen Tag zuvor in anderen Medien lesen konnte. Auch die Reportagen sind erstaunlich blass. Die dort zu Wort kommenden Menschen haben das Zitierte so oder so ähnlich bereits in der englischsprachigen Ausgabe von „Haaretz“ oder in andern englischsprachigen israelischen Medien gesagt. Auch wenn Israel gemessen an seiner geographischen Größe und Bevölkerungszahl nach wie vor überproportional große journalistische Aufmerksamkeit widerfährt, auch in der SZ, so mutet die derzeitige Berichterstattung der Zeitung über dieses Land und die angrenzende Region, die Deutschland und Österreich aus historisch nachvollziehbaren Gründen so sehr am Herzen liegen, doch wenig ambitioniert, ja uninformiert an.

Dies zeigt der Kommentar von Föderl-Schmid zum Sieg Israels des Eurovision Song Contest 2018 in besonderer Weise. „Netanjahu will den ESC für seine Zwecke missbrauchen“ kündigt die Korrespondentin da an, und man erwartete Schlimmstes. Dass die Ankündigung Bibi Netanyahus, Jerusalem zum nächsten Austragungsort des ESC zu bestimmen, an und für sich keine besondere Dreistigkeit Netanyahus darstellt, hätte die Korrespondentin übrigens aus Wikipedia erfahren können. Der ESC wurde nach Israels Siegen in den Jahren 1978 und 1998 bereits zweimal, 1979 und 1999 in Jerusalem im „International Convention Center“ ausgetragen. Ganz ungelegen kam dem Ministerpräsidenten der Sieg aber natürlich nicht angesichts der heftig diskutierten Verlegung der US-amerikanischen Botschaft nach Jerusalem.

Nun ist es an und für sich nichts Außergewöhnliches, wenn Regierungen, auch oder besonders die umstrittenen, kulturelle Veranstaltungen wie den ESC zur Selbstdarstellung in ihrem Sinne nutzen. Dies kann man seit neuesten in Dean Vuletics Studie „Postwar Europe and the Eurovision Song Contest“ (Bloomsbury 2018) nachlesen. Über die offensichtlich mediokren Zwecke der medialen Inszenierung des ESC in den Austragungsländern hätte man in der Presse beispielsweise gerne 2013 und 2016 gelesen, als Dänemark sich als kosmopolitisches, aber gemütliches Land präsentierte, aber seine unmenschliche Asylpolitik nicht zum Thema des Gesangswettbewerbs machte. Oder die Ukraine. Auch dieses Land feierte den ESC enthusiastisch, unterstrich seine Zugehörigkeit zu Europa, indem es die Visumspflicht für Besucher aus europäischen Ländern aufhob. In seiner Inszenierung wies es allerdings nicht extra auf die grundlegenden Problem des Landes hin, Korruption etwa und eine komplett zusammengebrochenes Gesundheitswesen.

Erinnert sich einer, dass die Medien den deutschen ESC-Sieg 2010 mit den bereits damals deutlich sichtbaren Folgen der Agenda 2010 in Zusammenhang brachten? Nein, denn anders als Israel nun, wurden diese Länder von den Kommentatoren der europäischen Presse nicht dafür gescholten, dass ihre politischen und sozialen Schattenseiten im Rahmen der Inszenierung des ESC keine Rolle spielten, schon gar nicht so weit im Voraus.

Netanyahu, so argumentiert Föderl-Schmid weiter, wolle mit dieser Entscheidung den tiefen Riss, der in der Tat durch Israels Gesellschaft geht, zwischen säkularen, lebenslustigen, modernen einerseits und religiösen, engstirnigen, rassistischen Israelis andererseits übertünchen und seiner nationalistischen Politik ein weltoffenes, freundliches Antlitz verpassen. Als Beispiel für die Zerrissenheit Israels führt Föderl-Schmid die Diskussion um die Ladenöffnungszeiten an. In Deutschland und Österreich, verfassungsmäßig säkulare Staaten, orientieren sich Feiertage und damit verbundene Ladenöffnungszeiten an einem christlichen Kalender. Doch ist diese religiöse Prägung ein glaubhafter Beweis für die Zerrissenheit der deutschen oder österreichischen Gesellschaft? Im Fall Israels offensichtlich schon.

Den unüberbrückbaren Gegensatz in Israels Gesellschaft versinnbildlichen für Föderl-Schmid die Städte Tel Aviv und Jerusalem. Wobei sie Jerusalem die undankbare Rolle des unschönen Israels zuweist, und Tel Aviv das weltoffene, tolerante Israel versinnbildlichen darf. Der Gegensatz ist banal, ja einfallslos und negiert die Lebenswirklichkeit der Menschen außerhalb dieser beiden Städte komplett. Allein Jerusalem ist eine facettenreiche Stadt; die Hebrew University, die Cinemathek und zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen zeugen von einer kritischen Auseinandersetzung mit der politischen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit des Landes und haben wenig mit dem von Föderl-Schmid skizzierten Bild einer für das „ausgrenzende, einengende“ Israel stehenden Stadt gemein. Ja, gute Kommentare leben von knackigen, treffenden Bildern. Aber sie mögen bitte nicht platt sein und von Ignoranz zeugen.

Auch die Tel Aviver können es bei Föderl-Schmid nicht richtig machen. Partysüchtig seien sie, desinteressiert am Friedensprozess und ignorant gegenüber dem Rassismus, der südlich der Partyzone „offen zur Schau gestellt wird.“ Überhaupt, zeige der unmenschliche Umgang Israels mit den afrikanischen Flüchtlingen einmal mehr, dass die Juden nichts aus der Geschichte gelernt hätten, so Föderl-Schmid. Tief in die antisemitische Mottenkiste greifend, wirft sie ihnen vor, vergessen zu haben, dass es Flüchtlinge waren, die vor siebzig Jahren dieses Land gegründet hätten. Aus deutschem bzw. österreichischem Munde zeugt diese moralische Keule von besonderer Geschichtsvergessenheit.

Alles, was in Israel zurzeit schief läuft, vom Umgang mit den afrikanischen Flüchtlingen bis zur Aggressivität der Haredim, der Ultraorthodoxen, zählt die Korrespondentin im Zusammenhang mit Netanyahus Ankündigung auf. Denen, die das Land wirklich kennen, würde da noch mehr einfallen, Korruption, die Wohnungsnot in den Ballungszentren, die immer weiter auseinanderklaffende soziale Schere, um nur einige der ernsten Probleme des Landes zu nennen. Auf die von Föderl-Schmid genannten Probleme muss Israel in der nahen Zukunft gute Antworten finden und es ist mehr als fraglich, ob die Regierung Netanyahu daran ernsthaft ein Interesse hat. Nur, was hat das mit dem ESC zu tun?

Ein Mindestmaß an Komplexität und Reflexion hätte dem Kommentar gut getan und wäre für einen Text, der in der SZ erscheint, angemessen gewesen. Doch dazu hätte die Korrespondentin ihr Büro verlassen und mit den Menschen reden müssen. Profunde Recherche sei das A und O des guten Journalismus, und unterscheide die SZ von anderen Zeitungen, schärfte man mir während meiner Hospitanz bei der SZ vor vielen Jahren ein. Selbstverständlich ist dies angesichts der Schnelligkeit, mit der heute Informationen, Stellungnahmen etc. in die Medien eingespeist werden müssen, nicht immer möglich. Doch stünde es der SZ gut an, in diesem Fall, einen Kommentar von informierter Seite abzudrucken oder es gleich bleiben zu lassen. Denn einen solchen Text, der derart von Unwissen, Doppelmoral und moralischer Überheblichkeit strotzt, möchte man in seiner Stammzeitung nicht lesen. Wir wissen nicht, was der verstorbene österreichische Journalist Ari Rath, dessen nach ihm benannten Preis Föderl-Schmid letztes Jahr für ihre Verdienste um einen kritischen Journalismus verliehen bekam, zu diesem Kommentar gesagt hätte. Rath war ein kritischer Begleiter Israels, an Netanyahu und seiner Politik hatte er zu Recht viel auszusetzen. Aber im Gegensatz zu Föderl-Schmid war er wohlinformiert und wusste, worüber er schrieb.

Bildmontage: Alon Katz

1 Kommentar

  1. https://derstandard.at/2000079841365/Antisemitismus-Vorwurf-Sueddeutsche-Zeitung-entschuldigt-sich-fuer-Karikatur

    Antisemitismus-Vorwurf: „SZ“ entschuldigt sich für Karikatur
    16. Mai 2018, 09:06 53
    Darauf ist Israels Premier Netanjahu in einem Kleid der ESC-Gewinnerin Netta zu sehen, in der Hand hält er eine Rakete mit Davidstern

    http://www.fr.de/kultur/netz-tv-kritik-medien/medien/antisemitismus-sueddeutsche-keine-antisemiten-nirgends-a-615472

    Antisemitismus Süddeutsche Keine Antisemiten, nirgends!

    Die „Süddeutsche Zeitung“ hat erneut eine antisemitische Karikatur abgedruckt. Horkheimer und Adorno scheinen recht gehabt zu haben – es ist unmöglich, sich offen zu Antisemitismus zu bekennen, aber die Ressentiments scheinen leider noch immer in der Gesellschaft verankert.
    26.02.2014 14:15 Uhr

    https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/16410

    Gefräßiges Monster Israel

    Wie die Süddeutsche Zeitung antisemitischen Spin produziert
    Aktualisiert am 03.07.2013, 16:29

    http://www.hagalil.com/archiv/2004/07/sharon.htm

    Kommentar zur SZ-Karikatur „Sharon et Chirac“:
    Warum von hinten?

    Die Redaktion der Süddeutschen Zeitung erreichten gestern etliche Protestschreiben und -anrufe. Zu den ersten gehörte sicher folgende Mail von Richard Chaim Schneider:

    Betr.: Protestschreiben an die Süddeutsche Zeitung zur antisemitischen Karikatur auf Seite 4 in der heutigen Ausgabe vom 21.7.2004

    … In der SZ vom 21.7.2004 befindet sich auf Seite 4 eine Karikatur, die nicht anders als zutiefst antisemitisch „gelesen“ werden muß.

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