Nuklearer Wettlauf im Nahen Osten

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Iran nuclear deal agreement in Vienna. From left to right: Foreign ministers/secretaries of state Wang Yi (China), Laurent Fabius (France), Frank-Walter Steinmeier (Germany), Federica Mogherini (EU), Mohammad Javad Zarif (Iran), Philip Hammond (UK), John Kerry (USA), 14.07.2015, Foto: Dragan Tatic, Author Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres

In zahlreichen anderen Ländern der Region sind Atomkraftwerke geplant oder bereits im Bau – auch dort nicht immer rein zu »zivilen« Zwecken…

Von Detlef zum Winkel
Erschienen in: Jungle World v. 9. Mai 2018

Seit US-Präsident Dwight D. Eisenhower vor fast 65 Jahren das Märchen von den »Atoms for Peace« (Atomen für den Frieden) in Umlauf gebracht hat, verbreitete sich in der Welt der fromme Glaube, errichte man Atomkraftwerke (AKW) nur in sicherer und stabiler Umgebung und überwachten demokratische Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene ihren Betrieb, dann würden sie dem Frieden dienen und einen Beitrag zur Völkerverstän­digung leisten. Leider ist das Gegenteil eingetreten: Kriegs- und Krisengebiete scheinen die Nuklearenergie magisch anzuziehen, Standorte, die durch Erdbeben, Überschwemmungen oder andere Naturkatastrophen gefährdet sind, scheinen potentiellen Betreibern durchaus für die empfindliche Technik geeignet und statt demokratischer Kontrollinstanzen dominieren geheimdienstliche Manöver.

Nach dem Super-GAU von Tschernobyl 1986 gingen die Aufträge für neue Atomkraftwerke in den westlichen Ländern drastisch zurück. Nun waren Russland, China, Indien, Südkorea und Japan am Zuge, bestellten bei den darbenden AKW-Herstellern, kauften Patente und Beteiligungen und bauten ei­gene Nuklearunternehmen auf. Mit dem Multi-GAU von Fukushima 2011 stieß auch die asiatische Nachfrage an ihre Grenzen. Einzig Nordkorea setzte weiterhin unbeirrt auf Atomkraft, freilich nicht mit friedlichen Absichten. Inzwischen ist der Nahe Osten zum nächsten großen Markt für Atomanlagen geworden. Wie vorausgesagt und befürchtet folgen viele Länder dem Vorbild des Pioniers auf diesem Gebiet, dem Iran.

Die Republik, die sich auf den Islam gründet, setzt ihren ganzen Ehrgeiz daran, Atomstaat zu werden und alle dazu erforderlichen Technologien zu besitzen. Der Iran verfügt mittlerweile über einen eigenen Uranbergbau, zwei Urananreicherungsanlagen, eine Zentrifugenentwicklung, eine Brennelementefabrik, eine Schwerwasseranlage, ein Atomkraftwerk, einen Forschungsreaktor und viele Labors. Um eine Erklärung für diese kostspieligen und gefährlichen Unternehmungen zu finden, musste man nicht erst auf die Enthüllungen warten, die der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am 30. April im Fernsehen präsentierte. Das war schon vor 15 Jahren klar, als Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) plötzlich Spuren von angereichertem Uran im Iran entdeckten. Auf ihre Nachfragen erhielten sie nie schlüssige Antworten, sondern ­bekamen nur Ausreden zu hören.

Es folgte ein jahrelanger, mühseliger diplomatischer Prozess, in dem der Iran den internationalen Widerstand gegen seine nuklearen Installationen zermürbte und eine Anerkennung des Status quo erreichte. Das im Sommer 2015 in Wien ausgehandelte Atomabkommen, der Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), verfolgte schon nicht mehr das Ziel, das iranische Regime auf den von Eisenhower fabulierten friedlichen Weg zurückzubringen. Man gab sich faktisch damit zufrieden, dass es versprach, eine zehnjährige Pause bei der Entwicklung von Atomwaffen einzulegen.

Vor lauter Freude über das Iran-Abkommen sah man geflissentlich über das hinweg, was die IAEA in einem abschließenden Bericht Ende 2015 offi­ziell feststellte: Dass der Iran bis 2003 sehr wohl ein Atomwaffenprogramm verfolgt hat und es teilweise bis 2009 fortgesetzt wurde. Folglich haben die iranischen Politiker die internationale Öffentlichkeit unablässig angelogen, wenn sie etwa eine Antiatom-Fatwa ihres »Revolutionsführer« erfanden oder ungeniert behaupteten, sie hätten niemals den Besitz von Atombomben angestrebt. Die westlichen Regierungen kennen diesen Sachverhalt natürlich, zogen es aber vor, ihn zu ignorieren. Er passte eben schlecht zur allgemeinen Begeisterung über den Sieg der Diplomatie, der mit dem JCPOA scheinbar erreicht wurde, und zu den Aussichten auf lukrative Geschäfte. Deshalb sind viele Politikerinnen und Politiker nun so konsterniert darüber, dass Netan­yahu mit Nachdruck an diese Fakten erinnert hat.

Keineswegs überrascht reagieren die Nachbarn des Iran. Sie haben nie daran gezweifelt, dass der Mullah-Staat nach der Atombombe strebt, weil sie es genauso machen würden. Und das tun sie nun auch. Seit sich herausgestellt hat, dass der Iran sein Atomprogramm gegen alle Widerstände behaupten kann und allenfalls geringfügige Abstriche beim Tempo machen muss, verfolgt eine Reihe von Ländern ebenfalls ehrgeizige Pläne. Saudi-Arabien stellte schon während der Wiener Verhandlungen unmiss­verständlich klar, es werde jede nukleare Ausrüstung besitzen, die der Iran besitzt. »Saudi-Arabien will keine Atombomben erwerben«, erklärte Kronprinz Salman nun Mitte März dem Fernsehsender CBS, »aber wenn der Iran eine entwickelt, ziehen wir so schnell wie möglich nach.« Saudi-Arabien möchte mit zwei Atomkraftwerken starten, um in 20 bis 25 Jahren in 16 Reaktoren 17 Gigawatt Atomstrom zu erzeugen. Die Regierung würde Lieferanten aus den USA bevorzugen. Bisher scheitert das allerdings daran, dass Salman, ganz wie das iranische Regime, ein »Recht auf Urananreicherung« fordert.

Ägypten hat im Dezember 2017 mit Russland die Errichtung eines AKW an der Mittelmeerküste in El Dabaa vereinbart, 170 Kilometer westlich von Alexandria. Vier russische Druckwasserreaktoren des Typs WWER-1200 zu ­einem Gesamtpreis von 30 Milliarden US-Dollar sollen 4 800 Megawatt pro­duzieren. Der ehemalige stellvertretende Leiter der ägyptischen Atomenergiebehörde (NPPA), Ali Abd al-Nabi, verstieg sich aus diesem Anlass zu der kühnen Behauptung, der Betrieb von AKW sei billiger als der von Gaskraftwerken, die das Land derzeit für seine Stromversorgung betreibt.
Auch Jordanien beabsichtigt, sich von Russland bis zum Jahr 2025 zwei Reaktoren für zehn Milliarden US-Dollar bauen zu lassen. Zwar würde man lieber mit den USA zusammenarbeiten, doch die Gespräche kamen vor zwei Jahren ins Stocken, da die USA einen Verzicht auf Urananreicherung zur Bedingung machten. Als Standort kommt nur der schmale jordanische Küstenstreifen am Roten Meer östlich vom israelischen Eilat in Frage.

Das am weitesten fortgeschrittene Projekt befindet sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Seit 2012 baut die südkoreanische KEPCO in Barakah am Persischen Golf, nahe der Grenze zu Saudi-Arabien, ein AKW mit vier Druckwasserreaktoren vom Typ APR-1400. Das Auftragsvolumen liegt bei 20,4 Milliarden US-Dollar, 21 000 Beschäftigte sind auf der Baustelle tätig. Block 1 ist bereits fertiggestellt, hat jedoch noch keine Betriebsgenehmigung erhalten, weil der Betreiber bisher nicht die erforderlichen Qualifikationen vorweisen könne. Die VAE sollen in einem Vertrag mit den USA auf Urananreicherung verzichtet haben.

Der APR-1400 ist die südkoreanische Variante eines Reaktors der sogenannten dritten Generation. Die herstellenden Firmen werden derzeit allerdings von heftigen Korruptionsskandalen erschüttert. Südkoreas Präsident Moon Jae-in hat eine Energiewende eingeleitet und möchte weitere AKW-Neubauten in seinem Land stoppen. Das würde zu der Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel passen, die er kürzlich mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-un verkündet hat. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neuen Entwicklungen in Südkorea auf das Barakah-Projekt auswirken werden.

Unter allen Nacheiferern des Iran kommt der türkische Präsident, was seine Intentionen und Methoden betrifft, den Herrschenden im Nachbarland am nächsten. Für osmanischen Ruhm und Größe ist Recep Tayyip Erdoğan jedes Mittel recht, deshalb braucht er möglichst schnell möglichst viele AKW. Vor kurzem wurde der Bau des AKW Akkuyu an der Mittelmeerküste gegenüber von Zypern feierlich begonnen. Zum Preis von 18 Milliarden US-Dollar will das russische Staatsunternehmen Rosatom dort vier WWER-1200 Reaktoren errichten – deutlich günstiger als der Preis, den Ägypten entrichten soll. 22 Milliarden US-Dollar soll ein zweites AKW kosten, das die Türkei in Sinop an der Schwarzmeerküste errichten will. Der Auftrag ging an die französisch-japanische Firma Atmea, ein Joint Venture von Mitsubishi, EDF und Framatome, dem Nachfolgeunternehmen von Areva. Bei Erdoğans Staatsbesuch in Paris hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kein Problem damit, dieses schmutzigste aller Türkeigeschäfte zu bekräftigen.

Netanyahus Fernsehauftritt empfand die ARD-Tagesschau als »in Teilen bizarr«. Seine Behauptung, der Iran habe gelogen, trifft jedoch zu. Richtig ist auch, dass der JCPOA den nuklearen Wettlauf im Nahen Osten nicht gestoppt, sondern beschleunigt hat. Falsch liegt der israelische Ministerpräsident hingegen, wenn er die weiteren Entscheidungen US-Präsident Donald Trump überlässt. Andere Möglichkeiten hat Netanyahu jedoch kaum, wenn die EU im Interesse ihrer Unternehmen das Spiel des iranischen Regimes – »alte Freunde«, wie es Sigmar Gabriel ausdrückte – mitspielt. Bizarr ist die Außenpolitik, die diese Situation herbeigeführt hat.

Bild oben: Iran nuclear deal agreement in Vienna. From left to right: Foreign ministers/secretaries of state Wang Yi (China), Laurent Fabius (France), Frank-Walter Steinmeier (Germany), Federica Mogherini (EU), Mohammad Javad Zarif (Iran), Philip Hammond (UK), John Kerry (USA), 14.07.2015, Foto: Dragan Tatic, Author Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres