„Als ich mit 13 nach Palästina kam, hatte ich das Gefühl, ich erwache aus einem bösen Traum“

0
124

Die Historikerin Susanne Urban erinnerte im Kölner Lern- und Gedenkort Jawne an die Jugend-Aliyah und an deren Pionierinnen Henrietta Szold und Recha Freier…

Von Roland Kaufhold

Tanya gehörte zu den berühmten 861 „Teheran-Kindern“, die 1943 nach einer jahrelangen Odyssee  über Teheran in das rettende Palästina gelangt waren. Der Schah von Persien hatte die jüdischen Flüchtlingskinder im August 1942 in ein Waisenhaus aufgenommen. Die Haganah und die Jugend-Aliyah retteten sie. Im damaligen Palästina wurden diese weitgehend auf sich selbst gestellten Kinder von Henrietta Szold und deren Helfern aufgenommen. Die 1860 in Baltimore, USA, geborene Henrietta Szold, ihr Vater war Rabbiner, hatte in den USA als Lehrerin und als jüdische Frauenrechtlerin gearbeitet. 1909 reiste sie erstmals nach Palästina, elf Jahre später ließ sie sich endgültig dort nieder. 1933 wurde die 73-jährige Henrietta Szold – die anfängliche Vorbehalte gegen das Projekt überwinden musste – Leiterin der Jugend-Aliyah in Palästina. Sie sammelte, unterstützt durch den Bankier Hans Beyth, Geld, organisierte Wohnunterkünfte und unterrichtete die Neueinwanderer. 1934 legte Szold die Grundlagen für die Errichtung des heute weltberühmten Hadassah Krankenhauses (vgl. Decker 2002). Sie kümmerte sich unter schwierigsten gesellschaftlichen Umständen, fünf Jahre vor der Staatsgründung Israels, um das Aufwachsen dieser schwer traumatisierten, von ihren Eltern getrennten Kindern und Jugendlichen, darunter auch um die einführend erwähnte Tanya. 1944 wurde Szold in Boston die Doktorwürde verliehen, zur Preisverleihung vermochte die 84-Jährige aufgrund ihres Alters nicht mehr zu reisen. Ein Ferienlager für jüdische Jugendliche in Wembach trägt heute den Namen Henrietta-Szold-Heim. Die Frauenorganisation Hadassah, 1912 in New York gegründet, hat ihren höchsten Preis nach Henrietta Szold benannt.

Parallel hierzu wurde die Kinder- und Jugend-Aliyah in Berlin von Recha Freier gegründet. Gemeinsam setzten diese beiden, in ihrer Persönlichkeit wohl sehr unterschiedlichen jüdischen Frauen, in den Zeiten der massivsten existentiellen Bedrohung des jüdischen Volkes, mit der Jugend-Aliyah ein tief beeindruckendes Rettungswerk in die Tat um: Tausende von jüdischen Kindern konnten gerettet werden.[i] 1933 kam die erste Gruppe von sechs Kindern in Eretz Israel an, 1934 trafen 43 weitere Kinder in Haifa ein und wurden in Ein Harod und Rodges untergebracht.

An Jahrestagen wurde hierzulande immer mal wieder an die Jugend-Aliyah erinnert: 2003 hatte die Historikerin Susanne Urban in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der Jugend-Aliyah eine Ausstellung über die Rettung dieser jüdischen Kinder aus Nazi-Deutschland organisiert. Gezeigt wurden dort u.a. zahlreiche Briefe dieser Kinder und von deren Eltern. Es war der erste Schritt einer wirklichen Erinnerung an dramatische Lebensschicksale, über die zuvor hierzulande nur wenig Gesichertes bekannt war.

2008 folgte anlässlich des 75. Geburtstages der Jugend-Aliyah im Münchner Jüdischen Zentrum eine Festveranstaltung, auf der u.a. Michel Friedman einen erinnernden Vortrag hielt. Im kommenden Jahr jährt sich der 85. Jahrestag ihrer Gründung. Quasi im Vorgriff hierauf erinnerte Susanne Urban an einem weiteren historischen Ort an dieses ganz außergewöhnliche Rettungswerk: Im kleinen Kölner Lern- und Gedenkort Jawne. Auch wenn heute nur noch der in der Kölner Innenstadt verborgen gelegene Lern- und Gedenkort Jawne mit seinem Löwenbrunnen als historische Erinnerung übrig geblieben ist: Hier stand früher das jüdische Reformrealgymnasium Jawne. Dessen Direktor Erich Klibansky hatte in einem unvergleichlichen Rettungswerk 130 jüdische Schülerinnen und Schüler nach England gebracht – während er selbst und seine Familie in der Nähe von Minsk in einem Waldstück ermordet wurden. Ein Großteil dieser Kölner Schüler ist später nach Israel gegangen. 

Für die im damaligen Palästina aufgewachsenen Kinder, die dem Tode in Nazideutschland nur durch den unvergleichlichen Mut ihrer jüdischen Retter entronnenen sind, waren diese frühen Jahre eine stark prägende Erfahrung. Viele von ihnen vermochten erst im Alter ihren Kindern und Enkeln hiervon zu erzählen. Die verschriftlichten Lebenserinnerungen etwa von Ralph Giordano, Judith Kerr, Eva Baer zeigen, wie nachdrücklich ihre Kindheit, ihr Alltag durch die antisemitische Bedrohung existentiell geprägt wurde.

Die Erinnerung an die über acht Jahrzehnte zurückliegende Gründung der Jugend-Aliyah hat immer auch schmerzhafte und von einigen als beschämend empfundene Anteile, reagierten Juden doch auf die antisemitische Bedrohung in Nazi-Deutschland verständlicher Weise sehr unterschiedlich: Die Mehrzahl der deutschen Juden wie auch ihre Verbände vertrauten auf die Deutschen. Sie verstanden sich als liberale deutsche Juden, viele auch zuvörderst als Deutsche. Sie verleugneten die existentielle Bedrohung – und bezahlten für das Vertrauen auf die „deutsch-jüdische Symbiose“ mit dem Leben. Andere – darunter übrigens auch der als Helmut Ostermann in Hannover geborene Uri Avnery und dessen Eltern – erkannten die Gefahr sehr früh und verließen bereits 1933 ihre Heimat.

Zu den Ersten, die die Gefahr erkannten und sich über die Bedenken eines Teils ihrer jüdischen Standesorganisationen hinweg setzten, gehörte Recha Freier: 1892 in Ostfriesland geboren heiratete die Lehrerin, ambitionierte Musikerin und Autorin 1919 den Berliner Rabbiner Moritz Freier. 1926 gingen sie nach Sofia, dann kehrten sie wieder nach Berlin zurück.

An einem Frühlingsabend 1932 in der Alten Schönhauser Straße 10 ereignete sich etwas, was für Recha Freiers bisheriges Leben eine scharfe Zäsur darstellte: Fünf 16-jährige ostjüdische Jungen – so führte Urban aus – klingelten und baten die 40-Jährige um ein Gespräch. Ihnen war gekündigt worden, ihre Lebenssituation erschien ihnen als ausweglos. Recha Freier erkannte diese Kündigung in den Zeiten des aufbrechenden rasenden Nationalsozialismus als einen eindeutig antisemitischen Akt. Sie überlegte, wie sie den Jugendlichen helfen konnte, hatte doch selbst die jüdische Arbeitsvermittlung die Entlassungen beschwichtigend allein auf die schlechte wirtschaftliche Situation zurück geführt. Recha Freier erkannte, dass es für diese jüdischen Jugendliche keine Zukunft in Deutschland geben könne: „Eines Nachts hatte ich eine sehr einfache und klare Idee, die Lösung des Problems. Die Jungen sollten nach Palästina gehen, zunächst in die Arbeitersiedlungen. Dort würden sie für ein Leben in Palästina ausgebildet“, erinnerte sie sich im Rückblick.

Ein knappes Jahr später, am 30.1.1933, am Tage der „Machtübernahme“ an die NSDAP, wurde die Kinder- und Jugendaliyah  – das „Hilfskomitee für jüdische Jugendliche“ – ins Leben gerufen. Jüdische Kinder wurden aus den staatlichen Schulen verdrängt, mussten in jüdische Schulen wie die Jawne ausweichen. Ihr Leben fand nur noch in einem bedrohten Mikrokosmos statt, die Kinder spürten die Ängste ihrer Eltern und ihres nun überwiegend jüdischen Umfeldes.

Jüdische Verlage brachten jüdische Kinderbücher oder auch ein Handbuch zur Auswanderung heraus. Zahlreiche Jugenddörfer, Hachsharas, entstanden im nationalsozialistischen Deutschland, um die Jugendlichen auf das beschwerliche Leben im fernen, seinerzeit noch unterentwickelten Palästina vorzubereiten: Das Erlernen der Sprache, Einführungen in die jüdische Kultur und eine landwirtschaftliche Grundausbildung standen im Mittelpunkt.

Im Gedenkort Jawne, wo Urban referierte, werden gleichfalls Dokumente zur Geschichte der Jugend-Aliyah präsentiert: Auf einem großformatigen Foto sehen wir die ehemalige Kölnerin Jehudith Zeiri – einst Trude Meyer – beim Füttern der Hühner in Palästina, Auch sie hatte in Deutschland in einem jüdischen Vorbereitungslager an einem Kurs teilgenommen. 1936 gelang mit Unterstützung der Jugend-Aliyah die Flucht per Zug nach Triest und von dort per Schiff nach Palästina. Rasch verstand Jehudith Zeiri sich als Zionistin. Der jüdisch-demokratische Staat Israel wurde ihre neue Heimat.

Auch den heute in Köln lebende, in Shanghai geborenen Peter Finkelgruen führte die Jugend-Aliyah indirekt nach Israel: Seine Tante Dora gehörte zu den jüdischen Jugendlichen aus Deutschland die dem Holocaust entkamen, weil sie Deutschland rechtzeitig verlassen haben. 1951, bei seiner Übersiedelung in das junge Israel,  lernte er Tante Dora in dem von ihr und ihrem Mann mit aufgebautem Kibbuz Kfar Hammakabi kennen. In späteren Jahren erfuhr er, dass sie in Deutschland zuerst „auf Hachshara“ in der Lohnberger Hütte war. In Dokumenten fand Finkelgruen später eine Postkarte, die sie von ihrem Ausbildungsort geschickt hat. Ihre und ihres Mannes Erzählungen von ihrer Hinwendung zum Zionismus und dem Wunsch nach Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ klangen für Finkelgruen, so erzählt er mir, wie eine Vorwegnahme der 68er Rebellion der Jugendlichen in Europa.

Peter Finkelgruen mit Susanne Urban, (c) R. Kaufhold

Im Februar 1934 kam die erste Gruppe in Eretz Israel an. Der Kibbuz Ein Harod, in der Nähe von Lod gelegen, erklärte sich zuerst bereit, die bedrohten Jugendlichen aufzunehmen, bekam dann aber doch Bedenken. Im bedrohten Eretz Israel hatte man 14 Jahre vor der Staatsgründung ausreichend eigene Probleme. Recha Freier lernte in dieser Notsituation den aus Berlin gebürtigen Kinderarzt Siegfried Lehmann, Leiter des Kinderdorfes Ben Shemen, kennen. Dieser war bereits in den frühen 1920er nach Palästina gegangen. Lehmann ließ sich auf die Idee ein, stellte aber die Bedingung, dass die Finanzierung der Jugendlichen während ihrer zweijährigen Ausbildung im Jugenddorf finanziell abgesichert sein müsse. Eine Bekannte Recha Freiers veräußerte daraufhin ihren Schmuck

Im nationalsozialistischen Berlin hingegen wurde die Lebenssituation für Recha Freier immer schwieriger: 1939/40 wurde sie wegen ihrer „Eigenmächtigkeit“ aus dem Vorstand der jüdischen Jugendhilfe ausgeschlossen – für die außergewöhnlich Engagierte und Mutige ein zutiefst kränkendes Erlebnis. Dennoch gelang es ihr – die exakten Zahlenangaben differieren – mehr als 7600 Kinder aus Deutschland herauszubringen. Insgesamt soll sie, England und Dänemark eingeschlossen, 12.000 Kinder nach Palästina gebracht haben. Zu den in Kinderdörfern der Jugend-Aliyah Aufgewachsen gehören in Israel auch so bekannte Namen wie Moshe Katzav, die Autorin Gila Almagor und der Oberrabbiner Israel Meir Lau. Israel Meirs Eltern wurden – so führte Susanne Urban in ihrem Vortrag aus – ermordet, sein älterer Bruder Naftali überlebte wie auch er selbst  Auschwitz und Buchenwald. Die beiden Brüder wurden zusammen mit anderen Kindern im Winter 1945 aus Buchenwald auf die Reise nach Palästina gebracht. Sie gehörten zu den ersten Überlebenden, die in Palästina ankamen. Jüdische Zeitungen in Palästina verkündeten: „Erste Überlebende in Erez Israel – alles Waisen!“

Erst mit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 war für die Jugend-Aliyah eine wirklich freie und kontinuierliche Arbeit möglich. Heute, unter radikal veränderten Umständen und Anforderungen, existiert die Jugend-Aliyah in Israel immer noch. Die Einwanderungswellen brachten in den folgenden Jahrzehnten nun Kinder aus anderen Ländern und Kulturen ins Land – aus Nordafrika, Jemen, Indien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Seit den 1970er Jahren nimmt die Jugendaliyah in ihren Heimen und Kibbuzim auch Kinder auf, die in Israel geboren wurden. Die große Mehrzahl von ihnen stammen aus zerbrochenen Familien, darunter Drogenabhängige und sexuell Missbrauchte (Decker 1972).

Die Jugend-Aliyah betreibt heute etwa 125 Einrichtungen für 14.500 junge Menschen. Der größte Teil dieser Kinder stammte in den letzten Jahrzehnten vorrangig aus dem Irak, Iran und aus Äthiopien. Die Jewish Agency und das israelische Erziehungsministerium finanzieren ihren Aufenthalt. Heutige Leiterin des deutschen Zweigs der Jugend-Aliyah ist die in Frankfurt lebende Pava Raibstein.

Abschließend eine Marginalie: Dass die Begründerinnen der Jugend-Aliyah auch hierzulande nicht völlig vergessen sind mag auch an diesem kleinen Ereignis zum Ausdruck kommen: Die zwischen Köln und Düsseldorf am Rhein gelegene Kleinstadt Monheim lässt dieser Tage in einem Neubaugebiet ein „israelischen Viertel“ entstehen. Eine Straße ist nach Henrietta Szold benannt.

Literatur:
Judith Decker (2002): Für die Zukunft – für die Kinder. 70 Jahre Kinder- und Jugendaliyah, in: Tribüne Heft 164, Nr. 4/2002, S. 18ff.
Gudrun Maierhof, Chana Schütz & Simon Hermann (Hg.) (2004): Aus Kindern wurden Briefe. Die Rettung jüdischer Kinder aus Nazi-Deutschland. Metropol Verlag: Berlin.

Eine stark gekürzte Version dieses Beitrages ist in der Jüdischen Allgemeinen erschienen.

[i] Neben der Jugend-Aliyah waren die Kindertransporte das zweite Projekt, durch welches über 10.000 jüdische Kinder aus Nazideutschland gerettet werden konnte. Zufluchtsorte dieser Kindertransporte waren vor allem England, Belgien, Schweden, Frankreich, die Niederlande und die USA. Die Website www.kindertransporte.eu – die durch das Autorenteam Ursula Reuter, Cordula Lissner, Adrian Stellmacher, Axel Joerss und Leon Wilmanns erstellt wurde – gibt einen profunden Überblick über diese Rettungsaktionen. Weiterhin werden dort in exemplarischer Weise 13 Biografien von ursprünglich aus NRW Gebürtigen  ausführlicher portraitiert. Siehe hierzu auch: Roland Kaufhold (2012): Kindertransporte aus NRW. Ein Zeitzeugenprojekt, in: TRIBÜNE. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums Heft 201, Nr. 1/2012, S. 43-45.