Ein radikaler israelischer Friedensaktivist und
Grenzgänger:
Uri Avnery wird 85 Jahre alt
Von Roland Kaufhold
" ... Zionist sein, das
bedeutete auch, dass einem die Leiden der Juden anderer Länder nicht
gleichgültig waren und dass man mit Sympathie an dem Bemühen jener wenigen
Pioniere Anteil nahm, die im Nahen Osten ein neues Land aufzubauen suchten
(...). Doch der Zionismus rettete uns das Leben. Ich habe das nie vergessen,
als ich später ein Nichtzionist, vielleicht sogar ein Antizionist wurde."
Uri Avnery (1969, S. 9)
"Während des (1948-er, RK) Krieges verfasste
ich gelegentlich auch politische Artikel, in denen ich meine damaligen
Gedanken zusammenfasste. In einem solchen Artikel schrieb ich gegen den Hass
auf die Araber, den einige Leute hegten. Ich sagte darin, wir seien eine 'Armee
der Liebe' - der Liebe zu den Kameraden und der Liebe zum Land - und keine
Armee des Hasses."
Uri Avnery (2005, S. 10)
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Uri Avnery bei einer Demonstration in Tel Aviv, 2002
Foto: © haGalil |
Vor 85 Jahren, am 10. September 1923,
wurde Uri Avnery unter dem Namen Helmut Ostermann in Beckum/Westfalen
geboren. Er war eines von vier Kindern eines jüdischen, vom
deutsch-humanistischen Geist geprägten Elternhauses.
1913 hatten seine Eltern geheiratet, und
ein Freund hatte ihnen aus diesem Anlass gemäß alter zionistischer Tradition
eine Urkunde für die Anpflanzung eines Baumes in Palästina geschenkt. Seine
Großeltern stammten ebenfalls aus dem Rheinland, sein Großvater war als
Lehrer der jüdischen Gemeinde in Beckum tätig. Nach einem Jahr siedelten die
Ostermanns nach Hannover über, wo Helmut die Grundschule sowie die 5. Klasse
des katholischen humanistischen Kaiserin-Auguste-Victoria-Gymnasiums
besuchte. Sein Vater war im Finanzwesen tätig und verfügte über einen
gewissen Wohlstand. Sie wuchsen in einem assimilierten deutsch-jüdischen
Milieu auf. Ihre Nachbarschaft in Hannover war nicht jüdisch; sie gingen nur
an zwei Feiertagen in die Synagoge, dennoch bestand der größte Teil ihrer
Freunde aus Juden.
Mit neun Jahren trat Helmut der
zionistischen Jugendbewegung "Die Werkleute" bei; gemeinsam machten sie
Ausflüge, Helmut las alles, was es seinerzeit über Palästina gab, und sie
sangen gemeinsam hebräische Lieder, obwohl sie kein Wort vom Text
verstanden. Diese frühen Interessen und Identifikationen sollten sich als
bedeutsam für seinen weiteren Lebensweg erweisen, erleichterten ihm den Weg
nach Palästina: "Also, seelisch waren wir total auf Palästina vorbereitet.
Aber, was heute ja keiner mehr wahrhaben will, als Zionisten stellten wir
eine winzige Minderheit dar! Damals in Deutschland Zionist zu sein, das war
– wie soll ich sagen – so, als wäre man in Israel Maoist" (in: Koppel 2000,
S. 134), erinnerte sich Avnery vor acht Jahren an seine Jugend.
Als Helmut Ostermann – der sich mit
Erreichen seines 18. Lebensjahres in Israel in Uri Avnery umbenannte – in
das dortige, zum ganz überwiegenden Teil katholische Gymnasium wechselte,
machte er eine Bekanntschaft, die sich Jahrzehnte später als bedeutsam
erweisen sollte: Ein gewisser Rudolf Augstein war sein Banknachbar. 35 Jahre
später sollte dieser ihm anbieten, gelegentlich im Spiegel über Israel zu
schreiben; gut 60 Jahre später verfasste er ein Vorwort zu einem
Interviewband mit Avnery, in dem er die Gemeinsamkeiten in ihrem
publizistischen Wirken sowie in ihrer Biographie hervorhob (Augstein 1995).
Einige Jahre später wiederum verfasste Avnery für den Spiegel einen Nachruf
auf Augstein (Avnery 2003a).
Der Alltag des Jungen wurde zunehmend
durch den erstarkenden Nationalsozialismus geprägt. Die Aufmärsche der Nazis
sowie der Kommunisten prägten seine kindliche Weltwahrnehmung, bildeten,
neben der Musik Bachs, zunehmend das Hauptthema beim Mittagstisch. Das
Politische war eine selbstverständlicher, existentiell bedeutsamer
Bestandteil des Lebens.
1933, Helmut war gerade ins Gymnasium
gewechselt, wurden dort regelmäßig alle Schüler in der Aula versammelt, um
alte deutsche Waffensiege zu feiern. Helmut war der einzige jüdische
Schüler. Ein Ereignis prägte sich ihm tief ein:
"Einmal, (...) stand ich allein inmitten
von tausend deutschen Jungen, die das Horst-Wessel-Lied, die blutrünstige
Nazi-Hymne, sangen. Ich sang nicht mit und hob auch nicht die Hand zum
Nazi-Gruß wie die anderen. Hinterher trat eine Gruppe meiner
Klassenkameraden zu mir und sagte, wenn ich noch einmal beim Absingen der
Hymne des neuen Deutschland den Arm nicht höbe, 'würden sie es mir zeigen'."
(Avnery 1969, S. 9) Dennoch erinnert sich Avnery mit warmer Untertönung
eines katholischen Pfarrers, welcher ihm auch nach der "Machtergreifung"
seine Unterstützung versicherte.
Zu der angedrohten Prügel durch seine
rassistisch aufgehetzten Mitschüler kam es nicht. Die zionistischen
Überzeugungen seines Vaters schärften dessen Wahrnehmung der existentiellen,
scheinbar noch unwirklichen Gefahr. Nach einer antisemitischen Drohung, die
ihm im Frühjahr 1933 zugetragen wurde, beantragte er bei der Polizeibehörde
von Hannover seine Auswanderung, verkaufte seinen Besitz. Eine Woche nach
diesem schulischen Zwischenfall emigrierte die Familie auf Schleichwegen
über Frankreich nach Palästina. Ihre Verwandten versuchten sie noch davon
abzuhalten: "Du bist völlig verrückt; euch droht keine Gefahr", versuchten
sie ihn zu überzeugen. Sie selbst blieben – und wurden alle von den
Deutschen ermordet. Auf einem Gedenkstein in Hannover ist ihr Name
verzeichnet.
Ankunft in Palästina - die Jeckes
1933 fuhren die Ostermanns mit der "Sphynx"
von Marseille nach Palästina und landeten im Hafen von Jaffa. Der
zehnjährige Helmut war sehr begeistert, Deutschland verlassen, in sein
geliebt-phantasiertes Palästina reisen zu können. Die Szene, in der sie in
den Hafen Jaffas einliefen, war von einer eindrucksvollen Symbolik, deren
sich viele Flüchtlinge der damaligen Zeit erinnern. Der Hauch des
Abenteuerlichen verankerte sich in Uri: "Eines Morgens, kurz nach
Sonnenaufgang, standen wir alle an Deck und sahen am Horizont einen braunen
Streifen, der langsam näher kam. Es war die Küste von Palästina, und ich
muss Ihnen sagen, es ist noch heute, Jahrzehnte später, ein erregender
Moment für mich, wenn ich vom Flugzeug aus die Wüste sehe." (Koppel 2000, S.
130)
Da die Dampfer seinerzeit noch nicht
direkt am Hafen anzulegen vermochten, wurden die Flüchtlinge von stämmigen
Arabern mit kleinen Booten abgeholt und ans sichere, rettende Ufer gebracht.
Für seinen Vater war die Emigration nach
Palästina mit einem radikalen Bruch mit seiner Vergangenheit verknüpft. Er
beschloss, nicht mehr im Finanzwesen, sondern im Sinne eines Idealisten in
der Landwirtschaft zu arbeiten. Bei Avnery schwingt, trotz seiner eigenen
Abneigung gegen eine körperliche Arbeit, eine tiefe Bewunderung für seinen
Vater mit, wenn es ausführt:
"... Aber mein Vater war glücklich hier
im Lande und bis zum letzten Augenblick idealistisch. Er, der nie in seinem
Leben körperlich gearbeitet hatte, begann hier nicht nur zu arbeiten,
sondern zu schuften, zwölf, vierzehn Stunden am Tag. Wir hatten am Ende eine
Wäscherei, und er trug die Wäsche mit dem Fahrrad aus, bei Hitze und Regen.
Meine Mutter arbeitete genauso. Er war glücklich, und sie war zumindest
zufrieden. Das hing auch damit zusammen, dass sie wussten, was sie hinter
sich gelassen hatten. Je mehr man von dem hörte, was in Deutschland
passierte, um so glücklicher war man, dass man rechtzeitig herausgekommen
war. Und dass man vier Kinder gerettet hat. Mein Vater war ein Mensch, den
alle Leute furchtbar gern hatten. Ich glaube, sie haben uns die Wäsche
hauptsächlich gebracht, damit er zu ihnen nach Hause kommt und sich mit
ihnen unterhält. Auf deutsch natürlich, denn unsere Kundschaft war zum
großen Teil deutschsprachig. (...) Ja, er war glücklich, obwohl er nie ein
Wort hebräisch gelernt hat." (Koppel 2000, S. 137f.)
In dem Buch "Die Jeckes" von Greif/McPershin/Weinbaum
(2000) (s. auch Greif 2003) ist die außerordentliche Integrationsfähigkeit
veranschaulicht worden, welche den aus Deutschland nach Israel geflohenen
Juden – welche in Israel etwas spöttisch als Jeckes bezeichnet werden –
abverlangt wurde. Vielen gelang es nicht mehr, Hebräisch bzw. Ivrit zu
lernen; sie fanden in Tel Aviv oder Haifa Heimat in dem letztlich kleinen,
heute langsam aussterbenden Kreis der deutschstämmigen Juden.
Eine solche nur partielle Integration in
die Gesellschaft und Kultur Israels gehört auch zu Avnerys familiärem
Erfahrungshorizont. Sowohl seine Eltern als auch seine aus Berlin stammenden
Schwiegereltern vermochten nicht mehr Ivrit zu lernen – und dennoch scheint
es ihnen gelungen zu sein, hiermit ohne Kränkung umzugehen. Avnery gibt
hierfür ein schöne Erinnerung an seine Mutter wieder: "Einmal sagte eine
Bekannte zu meiner Schwiegermutter: 'Sie sind jetzt 50 Jahre im Lande und
sprechen immer noch kein hebräisch, schämen Sie sich nicht?' Sie sagte:
'Natürlich schäme ich mich. Aber es ist viel leichter, sich zu schämen als
hebräisch zu lernen.'" (Koppel 2000, S. 138) Und 1969 (Avnery 1969, S. 11)
erinnert er sich an das neue Leben seiner Eltern in Israel:
"Aber was mögen unsere Eltern in jenem
Augenblick empfunden haben? Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Welch
einen ungeheuren Mut müssen sie gehabt haben. (...) Als ich später als
Journalist über den Eichmann-Prozess zu berichten hatte (s. Avnery, 1961),
dachte ich zurück an meinen Vater, dessen Intuition uns das Leben gerettet
hatte. Ich bin ihm zutiefst dankbar. Ich sehe ihn noch, wie er die Wäsche
auf seinem Fahrrad transportierte, todmüde, doch von unzerstörbarer
Fröhlichkeit, glücklich, wie er es niemals hinter seinem Direktionstisch in
Hannover gewesen war. Er war wirklich ein Mensch."
Sein Vater blieb ein unverbesserlicher
Optimist; dieser Optimismus übertrug sich auch auf seine neuen – zum größten
Teil deutschstämmigen – Kunden, wie auch erkennbar auf seinen lernbegierigen
Sohn Uri. Dieser Optimismus wurde offenkundig zu Uri Avnerys unzerstörbarem
inneren Erfahrungskern.
Uri besuchte gemeinsam mit seinem Bruder
für einige Monate eine kooperative Siedlung in Nahalal, um Hebräisch zu
lernen; nachmittags arbeiteten sie in der Landwirtschaft. Danach kehrte Uri
zu seinen Eltern nach Tel Aviv zurück und besuchte bis zum Alter von 14
Jahren die dortige Grundschule. Nun erschien ihm die Schule angesichts ihrer
schwierigen ökonomischen Lebenssituation als ein "verschwenderisch langsamer
Weg zum Wissenserwerb" (Avnery 1969, S. 12). Er begann für fünf oder sechs
Jahre eine Tätigkeit als Sekretär bei einem Rechtsanwalt, lernte so die
Gerichtshöfe kennen und wohnte stundenlang Gerichtsverhandlungen bei. Auch
erlernte er bei seinen Kontakten mit der englischen Mandatsverwaltung
Englisch – welches seine dritte Muttersprache wurde. Diese Tätigkeit brachte
es mit sich, dass er regelmäßig ein- oder zweimal pro Woche für seinen
Anwalt im arabischen Jaffa arbeitete. Jaffa liegt zwar unmittelbar vor Tel
Aviv, dennoch gab es nahezu keinerlei Kontakte zwischen diesen beiden
Bevölkerungsgruppen; Avnerys Tätigkeit als "Grenzgänger" war eine ganz große
Ausnahme. Dort lernte er die Armut, aber auch die Kultur, die Sprache, die
Musik und die Speisen der Araber kennen.
Es entwickelten sich über diese
kontinuierlichen Begegnungen mit der arabischen Bevölkerung zwar keine
direkten Freundschaften, dennoch erwuchs hieraus ein Gefühl des
Vertrautseins – der Mangel solcher Begegnungen zwischen Israelis und der
arabischstämmigen Minderheit in Israel, der heute nach der kurzen
euphorischen Hoffnungsphase Mitte der 1990er Jahre die Beziehungen – bzw.
Nicht-Beziehungen – prägt, ist einer der Gründe für das Scheitern eines auch
nur partiellen Verständigungsprozesses dieser beiden tragisch-existentiell
miteinander verknüpften Völker (s. Bernstein 2000, 2006, Guggenheim-Shbeta/Shbeta
2005).
Auch hatte Uri als Kind mit großer
Begeisterung die arabischen Bücher Karl Mays und Walter Scotts gelesen, sich
mit deren abenteuerlichen Schilderungen des Lebens in Arabien identifiziert.
Avnery erinnert sich: "Jaffa war eine ganz typisch orientalische Stadt mit
völlig anderen Gerüchen und Geräuschen und einem ganz anderen Anblick. Was
mir auffiel, war, dass die Läden keine Fensterläden hatten, keine Vitrinen,
und alles war voller Kutschen und Pferde. Die Menschen gestikulierten auf
eine Art, die wir nicht kannten. Es war alles furchtbar interessant, und ich
habe mich so glücklich dabei gefühlt. Ich erwähne das immer gerne, weil es
eine Beschreibung von Ben-Gurion gibt, der 17 oder 18 Jahre vorher [1]
an derselben Stelle ins Land gekommen war und alles ganz schrecklich fand.
'Was für Geräusche, was für Gerüche, was für Stimmen; ist das das Land
unserer Väter?' soll er gesagt haben. Diese beiden ersten Eindrücke erklären
viel von dem, was später mit ihm und mir passiert ist." (Avnery 1995, S.
105; vgl. Avnery, 1969, S. 81-103)
In diesen ersten Monaten seiner
Tätigkeit beim Rechtsanwalt wurde Uri im Gerichtsgebäude der britischen
Mandatsregierung für den Irgun angeworben.
Untergrundkampf beim Irgun und bei "Simsons Füchsen"
"Ich saß in einem verdunkelten Zimmer.
Ein starker Scheinwerfer war auf mein Gesicht gerichtet, damit ich nicht
sah, mit wem ich sprach. Hinter dem Scheinwerfer standen Gestalten, die ich
nicht erkennen konnte, und dann wurde ich befragt:
'Hasst du die Araber?'
'Nein'.
Es folgte eine beklemmende Stille.
'Hasst du die Engländer?'
'Nein.'
Einen Augenblick lang hatte ich Angst, dass sie mich nicht aufnehmen würden.
Sie taten es aber trotz dieser beiden Fehler. Damit war ich Mitglied im
Irgun, um von nun an im Untergrund gegen die Araber und die
Mandatsherrschaft der Engländer zu kämpfen. Das war kurz vor meinem 15.
Geburtstag." (Avnery 2000, S. 131)
Dies ist die symbolhafte, Avnerys
wechselhaftes und doch zugleich bemerkenswert stringentes Leben prägende
Szene, in der der knapp 15-jährige 1938 in die von den Engländern als
illegal betrachtete Widerstandsbewegung Irgun eintrat. Der Irgun war 1936
als eine rechtsnationalistische Abspaltung von der Haganah entstanden und
kämpfte mit militärischen Mitteln sowohl gegen die britische
Militärverwaltung als auch gegen die Araber für die Gründung eines Staates
Israel. Uri blieb dort drei oder vier Jahre, bis 1941 oder 1942, neben
seiner Tätigkeit beim Rechtsanwalt. Avnery hat die Szene seiner Aufnahme in
die Untergrundgruppe des Irgun verschiedentlich geschildert, so jüngst in
dem Kapitel "Eines jeden Schwert wider den andern... Richter 7,22) in "Die
Kehrseite der Medaille" (Avnery 1950, S. 294-313).
Neben der schutzbietenden Identifikation
mit der jüdisch-nationalistischen Freiheitsbewegung wurde vom Irgun ein
romantisches Gefühl befriedigt. In seinem literarisch-journalistischen
Frühwerk "Die Kehrseite der Medaille" (Avnery 1950) lässt Avnery seinen
jugendlichen Protagonisten formulieren: "Wache! Untergrund! Romantische
Bücher und Filme gehen mir durch den Kopf. Das ist die Gefahr! Das wahre
Leben! Ich bin von dem Willen überwältigt, für etwas zu kämpfen, obwohl ich
noch nicht genau genau weiß, wofür" (Avnery 1950, S. 295).
Das junge Irgun-Mitglied Uri verteilte
Flugblätter, ließ sich im Umgang mit der Waffe ausbilden. Das Waffenlager
seiner Kompanie war in seiner Wohnung gelagert, worauf die Todesstrafe
stand. Für das Bombenlegen war er jedoch noch zu jung; dies "machten" ältere
Kameraden.
Auch heute noch vermag Avnery die
außergewöhnliche Faszination zu vermitteln, welche diese Befreiungstätigkeit
im Untergrund bei einem Jugendlichen in seiner spezifischen
historisch-politischen Situation auslöste - eine Faszination, die der
Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin in seinem Jugoslawien-Buch "Es ist
Krieg und wir gehen hin" (Parin 1990) sehr anschaulich beschrieben hat (s.
Kaufhold 1996).
Avnery führt über den
prickelnd-konstruktiven Bruch, den sein Eintritt in den Irgun darstellte,
aus: "Von dem Augenblick an war alles ganz, ganz anders. Das Leben bekam
einen völlig neuen Mittelpunkt. Tagsüber arbeitete ich beim Rechtsanwalt,
und abends war ich im Untergrund. Mein Chef war Jude, aber alle seine
Freunde, die auch viel in unserem Büro verkehrten, waren englische
Kolonialbeamte. Bei einer Aktion, 1939, gegen das englische Weißbuch,
zündeten wir deren Büros an: die Büros, in denen ich sonst für den
Rechtsanwalt zu tun hatte. Ja, ja, das waren gewisse Paradoxe!" (Koppel
2000, S. 141)
Und er verdeutlicht das ihn und seine
ca. 120, großteils jugendlichen Mitstreiter stimulierende Gefühl des
Abenteuertums, der existentiellen Gewissheit, das Rechte zu tun, welches
sich tief in ihm eingrub, ihm existentiellen, an Tollkühnheit grenzenden Mut
verlieh:
"Eine meiner Aufgaben war, diese Waffen
herumzutragen. Es ist ein wunderbares Gefühl, mit einer Pistole unter dem
Arm auf der Straße herumzuspazieren in dem Bewusstsein: Das ist bei
Todesstrafe verboten! Du gehst an englischen Polizisten vorbei, und keiner
außer dir weiß, dass du eine Pistole hast – das ist ein herrliches Gefühl
für einen Jungen!" (Koppel 2000, S. 142)
Schuldgefühle hat er hierüber nicht
entwickelt, auch später stellten sich keine ein. Die historische Situation
ließ den Kampf als gerecht erscheinen, als die einzig angemessene
Möglichkeit, sich in der Befreiungsbewegung zu engagieren: "Für einen Jungen
von 16, 17 Jahren war es damals richtig! Wir lebten im Krieg, im
Guerillakrieg. Auf beiden Seiten hat man mit mehr oder weniger denselben
Methoden gekämpft." (Koppel 2000, S. 142) Als Vergeltungsaktion für
arabische Angriffen wurden Bomben in den arabischen Märkten von Jaffa,
Jerusalem und Haifa gelegt, bei denen es zu Dutzenden von Toten kam.
Doch bald kamen in ihm Zweifel auf.
Anfangs war er noch voller jugendlichen Stolzes auf seinen Wagemut, auf
ihren militanten Kampf gegen die Araber: "Ich könnte platzen vor Stolz,
fühle mich wie ein Held, bin bester Laune. Ich habe mich an einem
gefährlichen Einsatz beteiligt, sage ich zu mir. Ich bin ein Mann. Ich lege
meinen Arm um Rivkas Hüften" (Avnery 1950, S. 299), schriebt Avnery 1950.
Doch plötzlich vermochte Avnery sich
nicht mehr vorbehaltlos mit den Vorgaben, den militanten Methoden seiner
"Führer" zu identifizieren, die Araberfeindlichkeit, die Ablehnung der
Kibbuz- und Gewerkschaftsbewegung sowie die nationalistischen Losungen des
Irgun behagten ihm nicht mehr. Und doch lautete ihre Hymne: "Aus unseren
Reihen befreit nur der Tod." Ein Austritt aus ihrer Untergrundbewegung "war
psychologisch so gut wie unmöglich." (Koppel 2000, S. 142) Ein Riss trat in
der Gruppe der Untergrundkämpfer auf. Nach einer schicksalhaften Nacht traf
der wohl 18-jährige Uri eine ganz und gar außergewöhnliche Entscheidung, die
er in Israel mit nahezu Niemandem teilt: "Ich habe den Irgun verlassen; so
etwas war beinahe unerhört. Man verließ eine Untergrundbewegung nicht." (Avnery
1995, S. 108)
Wie bereits erwähnt gab sich Helmut
Ostermann, wie viele nach Israel eingewanderte Juden, mit Erreichen seines
18. Lebensjahres einen neuen Namen. Uri Avnery: Uri bedeutet Licht; Avner
war ein Feldmarschall König Davids, also ein biblischer Name. Diese
Namensgebung als symbolischer, eigenverantwortlicher Akt stellte einen
endgültigen, symbolischen Bruch mit seiner Herkunft, mit Deutschland dar.
Avnery (1969, S. 8) führt aus:
"Durch diesen Akt erklärten wir uns von
unserer Vergangenheit unabhängig. Wir brachen mit ihr unwiderruflich. Die
jüdische Diaspora, die Welt unserer Eltern, ihr kultureller und
gesellschaftlicher Hintergrund – wir wollten nichts mehr damit zu tun haben.
Wir waren eine neue Rasse, eine neues Volk, geboren an dem Tage, an dem wir
den Fuß auf den Boden Palästinas gesetzt hatten. Wir waren eher Hebräer als
Juden. Unsere neuen hebräischen Namen verkündeten das."
Nach seiner Trennung vom Irgun setzte
Avnery sein politisches Engagement unter modifizierten Prämissen fort. 1946
war er an der Gründung einer kleinen politischen Gruppe beteiligt, die sich
"Junges Palästina" nannte und nun auch politisch postulierte, man sei "eine
separate neue Nation innerhalb des jüdischen Volkes" (Avnery 1995, S. 108).
Immer mal wieder, wenn man etwas Geld zusammen hatte, gab man eine
Zeitschrift heraus: "Bamaawak" ("Im Kampf"). Ein Jahr später, im Herbst
1947, unmittelbar vor der Staatsgründung, publizierte der 24-Jährige seine
erste Broschüre unter dem Titel "Krieg oder Frieden in der semitischen
Region"; diese wurde auch in einer Zusammenfassung ins Arabische übersetzt
und an verschiedene Zeitungen und Gruppierungen im nahöstlichen Raum
verschickt.
Die Staatsgründung Israels sowie der
1948er Krieg, den die arabischen Völker Israel aufgezwungen hatten,
veränderten jedoch die gesamte Situation, ließen seine Schrift als überholt
erscheinen. Avnerys schloss sich der Haganah an, kämpfte in der legendären
Kommandoeinheit "Simsons Füchse" an der Südfront in der Nähe Jerusalems,
dann gegen die ägyptische Armee. Gleichzeitig verfasste er regelmäßig
journalistische Texte, in welchen er, mit bemerkenswertem literarischem
Talent und sehr eigenem Stil, über seine Kriegserlebnisse schrieb. Diese
zahlreichen Texte wurden in israelischen Tageszeitungen publiziert und
machten ihn binnen kürzester Zeit im jungen Staat Israel zu einer
Berühmtheit.
Gegen Kriegsende, am 8.12.1948, wurde
Avnery bei einem Gefecht in der Nähe des Kibbuz Negba durch Bauchschüsse
sehr schwer verletzt. Vier aus Marokko eingewanderte Soldaten retteten in
einem tollkühnen Einsatz sein Leben – eine Erfahrung, die seinen Respekt für
die arabischstämmigen jüdischen Israelis entscheidend prägte:
"Meine Leute waren eine eigenartige
Mischung aus marokkanischen, tripolitanischen und türkischen Juden, die als
Freiwillige direkt von den Schiffen zu uns gekommen waren. Ich hatte sie
selber ausgebildet mit Hilfe von Gesten und einfachen Worten; wir konnten
uns kaum miteinander unterhalten." (Avnery 1969, S. 19).
Die lebensbedrohliche Verletzung zwang
ihn zu einem mehrwöchigen Erholungsaufenthalt - den er gleich literarisch
nutzte. In dem mit "Die weiße Front" betitelten Schlusskapitel von "In den
Feldern der Philister" (Avnery 1949, S. 233-248) beschreibt er in
literarischer Form die Ereignisse, die zu seiner lebensbedrohlichen
Verletzung führten. Trotz seiner übermenschlichen Schmerzen, der hohen
Wahrscheinlichkeit seines Todes, verlor er nicht das Bewusstsein: So "nutzte
ich die Zeit, um über den Krieg nachzudenken. Die Gedanken gefielen mir
nicht." (Avnery 1949, S. 233). Diese Phase bildete die Geburtsstunde seiner
zwei disparaten Bücher, die er nun binnen kürzester Zeit publizierte.
"In den Feldern der Philister" - frühe
journalistisch-literarische Werke
Beeinflusst durch die Schriften Erich
Maria Remarques publizierte der 25jährige unmittelbar nach dem erfolgreich
bestandenen Krieg seine - so hat er es selbst einmal selbstironisch
formuliert - "pazifistischen Kriegstagebücher" in einem Buch, unter dem
Titel "In den Feldern der Philister". Dieses Erstlingswerk wurde gleich ein
Bestseller, mit 20 Auflagen allein im ersten Jahr. Das Buch bildete eine
Grundlage für sein zukünftiges politisches und literarisches Engagement,
aber auch für die zutiefst ambivalente Rezeption und Wertschätzung seines
Wirkens in der israelischen Bevölkerung. Als Avnery durch Gespräche mit
jungen Israelis realisierte, dass dieses Buch von diesen als ein den Krieg
romantisierendes Werk rezipiert wurde beschloss er, während seiner
Genesungsphase ein neues Werk zu schreiben - in welchem er die Kehrseite des
Krieges beschreiben wollte: Gewalt, Übergriffe, Vergewaltigungen,
Vertreibungen, seelische Verrohungen.
Dieses knapp 200 Seiten umfassende Werk
verfasste er "in drei bis vier Wochen auf meiner kleinen
Hermes-Schreibmaschine" (Avnery 2005, S. 12); es stellte eine gewagte
Mischung zwischen nüchterner Recherche, politischer Stellungnahme gegen Ben
Gurion und literarischer Fantasie dar. Der vehementen öffentlichen Reaktion
im jungen Staat Israel auf sein Antikriegsbuch erinnert sich Avnery im
Rückblick:
"Der neue Band verursachte einen
Skandal. Über Nacht wurde ich vom Helden des Tages zum Volksfeind Nummer
eins. 'Lüge! Betrug!', schrien die Patrioten, die im Krieg zu Hause
geblieben waren. 'So fluchen unsere Soldaten nicht! Unsere Soldaten morden
und stehlen nicht! Sie haben keine Araber vertrieben! Es ist doch bekannt,
dass die Araber aus eigenem Antrieb geflüchtet sind. Sie sind doch nur der
Aufforderung ihrer Führung gefolgt! Unsere Waffen sind 'rein'! Unsere Armee
ist die moralischste der Welt!" (Avnery 2005, S. 12)
Und 1995 erinnert sich Avnery in einem
Interview folgendermaßen an die Rezeption seiner beiden Frühwerke:
"Plötzlich war ich der Liebling der
Gesellschaft und auch der Regierung. Das dauerte genau ein Jahr. Das hat mir
sehr geholfen, denn vorher war ich schrecklich unpopulär. (...) Mit diesem
Kriegsbuch, das ich einst als pazifistisches Kriegsbuch auffasste, ist
dasselbe passiert wie mit den Büchern Erich Maria Remarques. Nämlich, dass
Jugendliche es gelesen und sich dadurch für den Krieg begeistert haben –
Kameradschaft, Abenteuer und so weiter. Daher schrieb ich noch ein zweites
Buch, Die andere Seite der Münze[2], worin ich schilderte, was sonst noch im
Krieg passiert war. Dieses Buch war ein nationaler Skandal ohnegleichen. Ich
schrieb darin über Kriegsverbrechen, wie zum Beispiel die Tötung arabischer
Flüchtlinge. Das Buch wurde dann boykottiert, und es erschien nur eine
Auflage..." (Avnery 1995, S. 100)
Dieses beiden frühen Bücher Avnerys, in
welchen sich bereits das außergewöhnliche literarische und journalistische
Talent des erst 25-Jährigen zeigten, haben im deutschsprachigen Raum eine
bemerkenswerte Entwicklungsgeschichte: Auf sie wurde zwar immer wieder
verwiesen - erstmals auf deutsch publiziert wurden sie jedoch erst 56 Jahre
später, im Jahr 2005.
In seinem 2005 hinzugefügtem, mit "'Den
Gefallenen der nächsten Runde'" überschriebenem Vorwort zur deutschen
Erstausgabe zeichnet Avnery den Entstehungshintergrund dieser beiden
scheinbar so disparaten Bücher nach. Zugleich ist dieses Vorwort eine
psychologisch und historisch faszinierende Wiederbegegnung zwischen dem
25-Jährigen sowie dem 81-Jährigen Uri Avnery: "Zwei unterschiedliche
Menschen - und doch derselbe Mann. Der 25-Jährige ist ein Teil des
81-Jährigen. Der eine ist von den Erinnerungen des anderen nicht zu trennen.
Aber er ist dennoch sehr weit entfernt, fast fremd, undeutlich erkennbar
durch den Nebel der Jahre." (Avnery 2005, S. 7)
Avnery analysiert, welche existentielle,
kreative Bedeutung das eruptive Schreiben für den jungen, im 1948-er
Befreiungskampf engagierten Aktivisten hatte:
"In den nächsten Monaten wurde mir das
Schreiben zur Obsession. Ich schrieb und schrieb und schrieb. Es half mir,
die Spannungen abzubauen, die Ängste zu überwinden, die Erlebnisse zu
verarbeiten. Es wurde mir ein ständiges Bedürfnis.
Ich schrieb vor den Einsätzen, während der Einsätze und danach. Wenn eine
anstrengende Aktion vorüber war, legten sich meine Kameraden auf den Boden
und schnarchten. Ich nahm Papier und Bleistift zur Hand und schrieb. Ich
schrieb auf dem Boden, in den Schützengräben und auf der Motorhaube eines
Jeeps. Ich schrieb in der Kantine zwischen Hunderten von lärmenden Kameraden
und ich schrieb nachts im Bett." (Avnery 2005, S. 8).
Diese mehreren Dutzend Berichte
erschienen unmittelbar nach ihrem Verfassen in den israelischen
Tageszeitungen Yom Yom (Tag für Tag) und in Haaretz (Das Land). Sie
gelangten auf verschlungenen Wegen vom Kriegsgebiet zu den Redaktionen,
Avnery übergab sie in passenden Situationen irgendwelchen
Versorgungsfahrzeugen oder aber befreundeten Soldaten, die zu einem
Heimaturlaub aufbrachen. Kein Bericht ging verloren. Tief beeindruckt war
Uri in dieser Zeit von dem zutiefst demokratischen, antihierarchischen,
brüderlichen Geist in großen Teilen der damaligen israelischen Armeen - was
seine heutige, sehr scharfe Kritik an bestimmten harten Gewaltmaßnahmen der
israelischen Armee verständlicher erscheinen lässt. Avnery gibt hierfür ein
aus eigenen Erfahrungen erwachsenes eindrückliches Beispiel. Eigentlich war
es Soldaten verboten, ohne Genehmigung von militärischen Ereignissen
öffentlich zu berichten...:
"Jedes Wort in diesem Buch wurde unter
klarer Missachtung eines eindeutigen Befehls geschrieben: Soldaten durften
keine Interviews geben und sie durften auch nicht ohne ausdrückliche
Genehmigung für Zeitungen schreiben. Meine Vorgesetzten drückten beide Augen
zu. Als ein höherer Offizier aus der Etappe begann, Ärger zu machen, rief
mich ein hoher Offizier aus unserem Bataillonsstab zu sich und erklärte sich
bereit, meine Berichte persönlich und heimlich an die Zeitung weiterzugeben.
Eines Tages, nachdem mir wieder mal ausdrücklich befohlen worden war, nicht
mehr zu schreiben, wurde ich zum Bataillonschef bestellt. Voller Sorge
meldete ich mich. Dort wurde mir ein kleiner, brauner Umschlag übergeben. Er
enthielt den handgeschriebenen Brief des legendären Brigadekommandeurs
Shimon Avidan. Er beglückwünschte mich zu einem Bericht, in dem ich die
besondere Rolle des Infanteriesoldaten beschrieben hatte. So eine Armee
waren wir damals." (Avnery 2005, S. 9)[3]
Uri Avnery lässt sein Antikriegsbuch aus dem Jahr 1950 mit einer Erinnerung
an einen der vielen toten Kameraden ausklingen. Der junge tote israelische
Soldat spricht aus dem Grab zu seinen Verwandten und Freunden:
"'Ich bin tot. Hört ihr? Tot. T o t! Ich
brauche eure Gedenkfeier nicht! Ich mache euch keine Vorwürfe. Aber ihr
könntet etwas für andere Söhne, für andere Eltern tun. Geht auf die Straße
und schreit! Hört ihr? Schreit! Dass ihr mich 24 Jahre lang für nichts
versorgt habt. Dass ich starb, bevor ich irgendetwas im Leben tun konnte.
Schreit anderen Eltern zu, sie sollen nicht zulassen, dass man ihre Kinder
in den Krieg schickt. Die sollen das verbieten!'" (Avnery 1950, S. 413)
Und er lässt sein Buch einige Zeilen später so enden:
"Der Regen hat aufgehört.
Eine merkwürdige Stille herrscht im Zimmer. Eine unnatürliche Stille.
Etwas fehlt. Etwas ist verschwunden.
Was ist es?
Das Röcheln hat aufgehört.
Der Verwundete mir gegenüber liegt regungslos da. Sein Kopf ist zur Seite
geneigt.
Er atmet nicht mehr.
Ein Mensch ist gestorben." (Avnery 1950, S. 414)
Die Staatsgründung im Jahre 1948, von
welcher Avnery bei einem Aufenthalt in einem Kibbuz im Radio eher
zufälligerweise hörte, war für ihn eher unbedeutend - hier wird erneut
deutlich, wie sehr sich Avnerys Wahrnehmung von der der meisten anderen
Israelis unterschied. Die Staatsgründung Israels war für nahezu alle Juden
der damaligen Generation ein emotional außerordentlich bewegender Akt.
Avnery führt aus:
"Als Frontsoldaten hatten wir eine
gewisse Verachtung für Leute, die in Tel Aviv oder in Jerusalem Reden
hielten, und darum war die Staatsgründung für uns eine Sache, die wir mit
einem Achselzucken abtaten. Aber für andere mag sie die Einlösung von Herzls
Worten gewesen sein, die er nach dem 1. Zionistischen Kongress in Basel
geschrieben hat," betont Avnery (2000, S. 146). Diese gegensätzlichen
Erfahrungen und politischen Zugänge bildeten den Ausgangspunkt für bis heute
anhaltende Differenzen zwischen Avnery und großen Teilen der israelischen
Öffentlichkeit.
Noch vor Kriegsende verfasste er weitere
Artikel, in denen er sich für eine Beendigung des Krieges und für eine
wirkliche Verständigung mit den Arabern einsetzte. Gustav Schocken, aus
Chemnitz nach Israel eingewanderter legendärer Publizist, Chefredakteur der
auflagenstarken Tageszeitung Haaretz, interessierte sich für den Autor und
bot ihm an, regelmäßig Leitartikel in Haaretz zu verfassen – eine hohe
Auszeichnung für einen 25-jährigen, der keine professionelle journalistische
Ausbildung durchlaufen hatte. Dennoch gab Avnery diese verlockende Tätigkeit
bereits nach einem Jahr freiwillig auf, da er nicht zu inhaltlichen
Konzessionen beim Schreiben bereit war, welche von ihm erwartet wurden.
Publististische Tätigkeit bei Haolam Hazeh
Zeitgleich mit dem Erscheinen von "Die
Kehrseite der Münze" kaufte Avnery mit dem Geld, welches er von der Armee
für seine Kriegsverletzung erhalten hatte, die farblose Wochenzeitung Haolam
Hazeh ("Diese Welt") – ein Entstehungsumstand, der in Israel später häufig
Anlass für Witze bildete. Binnen kurzer Zeit gestaltete er diese Zeitschrift
zu einem in Israel gefürchteten Blatt um, welches gleichermaßen geschätzt,
beargwöhnt und verhasst war. Gleich mit seiner ersten Ausgabe sorgte er für
einen Boykott seiner Zeitschrift durch die israelische Armee, da er in einem
Beitrag die Berufung von Frauen zur Armee als unzeitgemäß bezeichnete – in
Israel bis heute ein schwer erträglicher Vorschlag. Haolem Hazeh wurde
"innerhalb kürzester Zeit zum unpopulärsten gemacht, was es überhaupt je in
Israel gegeben hat." (Avnery 1995, S. 112). "Wir stritten uns mit allen
Teilen des Establishments. Das führte dazu, dass wir etwa 20 Jahre lang
nicht einen Millimeter an Anzeigen verkauften", erinnert sich Avnery (1995,
S. 131).
Dies brachte enorme ökonomische Probleme für das Blatt mit sich, da es sich
ausschließlich durch den Kioskverkauf finanzieren musste. 41 Jahre später,
1990, musste Avnery seine Zeitung aufgrund unüberwindbarer finanzieller
Schwierigkeiten verkaufen. Avnery hat häufig versucht, die Besonderheit
seines Blattes ausländischen Journalisten zu verdeutlichen, was ihm nur
schwer gelang. Inhaltlich angelehnt an den Spiegel oder die Times stellte es
eine Mischung zwischen unpolitischen Nachrichten, gesellschaftlichem Klatsch
und Enthüllungsjournalismus dar: "Es ist, als wenn die Bild-Zeitung und die
Zeit eine gemeinsame Zeitung wären, und noch extremer." (Avnery 1995, S.
133)
Avnery bezeichnet seine Wochenzeitung ironisierend als ein Untergrundblatt:
"Es gab jedoch sehr viele Witze darüber, dass viele Käufer – auch
Regierungsbeamte – sie quasi in anderen Zeitungen versteckten. Sie war die
Zeitung der Sabras, der neuen Generation, die in Israel aufgewachsen ist.
Offiziere und Beamte lasen sie mit großer Begeisterung, offiziell aber war
sie absolut verpönt. Ben-Gurion sprach nie ihren Namen aus, er hat vielmehr
einen anderen Namen erfunden, den wir dann auch mit Stolz getragen haben:
'ein gewisses Wochenblatt'; diese Bezeichnung benutzten wir als eine Art
Untertitel." (Avnery 1995, S. 132)
Avi Primor, nach der Beendigung seiner Tätigkeit als Botschafter Israels in
Deutschland heute einer der tatkräftigsten Unterstützer der
zukunftsorientierten "Genfer Initiative", hat
2003 anlässlich der Verleihung des internationalen Friedenspreises des Lew
Kopelew Forums an Uri Avnery und Sari Nusseibeh
in seiner Laudatio in anschaulicher Weise hervorgehoben, wie sehr er selbst
als junger Student durch Avnerys Zeitschrift geprägt, aber auch zum
Widerspruch herausgefordert wurde. In seiner Kölner Laudatio führte er aus:
"Als ich Student war (...) da habe ich, so wie alle meine Freunde,
leidenschaftlich seine Zeitung gelesen. Aber die hat uns auch aufgewühlt,
aufgeregt. Weil er so viele Dinge gesagt hat, die uns unangenehm waren, an
die wir nicht glauben wollten. So bat ich einmal um einen Termin bei ihm. Er
hat mich in seinem Büro in seiner Zeitung mit zwei Kollegen von mir
empfangen, in Tel Aviv, am Freitagnachmittag, vor dem Wochenende, wo seine
Zeitung schon raus war und wo er ein bisschen Zeit hatte, und wir hatten
eine Reihe von Fragen vorbereitet. Aggressive Fragen, provokative Fragen:
Wie können Sie so etwas schreiben? Ja, und er lächelte und sagte 'Warum
lesen Sie das alles so leidenschaftlich? Es scheint, dass Sie es jede Woche
lesen. Warum eigentlich, wenn es Sie so aufwühlt? Darum schreibe ich es,
damit Sie darüber nachdenken. Sie müssen nicht unbedingt mit mir
einverstanden sein, mir zustimmen. Aber nachdenken sollen Sie!' Und das
haben wir seitdem immer getan." (Primor 2003.)
Hauptgegner von Haolem Hazeh in den ersten Jahren war eben dieser
Ben-Gurion, Israels langjähriger Ministerpräsident; gemäß Avnerys
Verständnis verhinderte Ben-Gurion grundsätzlich jegliche Möglichkeit für
eine Verständigung mit den Arabern. Diese inhaltliche Kontroverse in einem
von Avnery als entscheidend eingeschätzten Punkt führte dazu, dass Haolam
Hazeh bald als die einzige Oppositionszeitschrift galt. "Wir wollten den
Staat selbst gestalten. Das war der große Vorteil meiner Generation
gegenüber allen späteren Generationen, die bereits einen vorgefunden haben"
(Avnery 1995, S. 112), fasst Avnery ihre
Grundposition zusammen. Die Zeitschrift setzte sich für einen liberalen,
modernen Staat ein, plädierte für eine strikte Trennung zwischen Religion
und Staat – in Israel bis heute ein ungelöstes Dilemma. Auch wurden in
Haolam Hazeh zahlreiche Skandale aufgedeckt, so 1954 die legendäre
Lavon-Affäre (s. Avnery 1969, S. 105-126) über einen israelischen Spionage-
und Sabotagering in Ägypten.
Avnery (1995, S. 136) betont:
"Die ganze Geschichte von Haolam Hazeh ist eine Kette von Skandalen und
Korruptionsaffären, die wir aufgedeckt haben. Wir umgingen dabei immer die
Zensur. Wir haben alles aufgedeckt, was wir enthüllen wollten, durch alle
möglichen Methoden. Wir erfanden damals Methoden, die heute schon beinahe
legendär sind."
Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen um Avnerys Blatt, welche z. T.
militant ausgetragen wurden: Es überlebte drei Bombenanschläge auf die
Redaktion sowie Druckerei, zahlreiche erfolgreich niedergeschlagene
Verfahren auf Strafverfolgung wegen Aufruhrs, zwei Mordanschläge. 1953
überfiel ein Unbekannter Avnery und brach ihm beide Hände und alle Finger.
Doch selbst dieser traumatische Schicksalsschlag fand für Avnery eine
positive Wendung: Rachel, die mit ihren Eltern im Alter von einem Jahr aus
Deutschland nach Palästina geflohen war und immer noch Deutsch spricht,
pflegte ihn – und wurde seine Ehefrau: "Wir haben fünf Jahre in Sünde gelebt
und dann geheiratet. Ich glaube, wir sind so ziemlich das einzige mir
bekannte israelische Ehepaar, das nicht geschieden ist." (Avnery 1995, S.
132)
Der Geheimdienstchef Ben-Gurions schrieb später einmal in einem Buch, dass
Avnery seinerzeit für den Geheimdienst als Staatsfeind Nummer eins galt.
Rachel und Uri Avnery, 1999 © Chanah Esch
Mitglied der Knesset (1965 – 1981)
1965 versuchte der damalige Ministerpräsident Eshkol, Haolam Hazeh in recht
offenkundiger Weise mittels eines gegen dieses Magazin gerichteten
Pressegesetzes zu ruinieren. Als Reaktion hierauf unternahm der seinerzeit
42-jährige Avnery zusammen mit einigen Kollegen einen außergewöhnlichen
Versuch: Er gründete eine Partei, die den Namen dieser Zeitschrift trug und
deren Parole lautete "Freiheit für Haolam Hazeh". Dies war für Israel, wo es
keine Fünf-Prozent-Hürde im Parlament gibt, ein höchst ungewöhnliches
Ereignis, war es doch – wenn man von vereinzelten Parteiabspaltungen und
Namensumbenennungen absieht – die erste Neugründung einer politischen Partei
in Israel seit dessen Staatsgründung im Jahre 1948. Zur allgemeinen
Überraschung erhielt die Partei knapp anderthalb Prozent, und Avnery zog als
Parlamentarier in die Knesset ein. Von 1965 bis 1973 sowie von 1979 bis 1981
gehörte er dieser an und entwickelte im Parlament rasch einen völlig neuen,
streitbaren Diskussionsstil; die Auswirkungen seines singulären Engagements,
verknüpft mit seiner Zeitschrift, auf die heutige politische Kultur in
Israel, insbesondere auf die intellektuelle Oberschicht, scheint nicht hoch
genug eingeschätzt werden zu können.
Avnery trug in diesen zehn Jahren in der Knesset über 1000 Reden vor, von
denen allein hundert das Thema der Anerkennung eines palästinensischen
Staates behandelten - bis dahin ein absolutes parlamentarisches Tabu. So
forderte er gleich in seiner ersten Rede vor der Knesset, dass einer der
stellvertretenden Parlamentspräsidenten aus der kleinen Gruppe der
arabischstämmigen Parlamentarier kommen solle. Am Ende seiner ersten
Parlamentsperiode, 1969, publizierte sein langjähriger Sekretär Amnon
Zichroni, ein Rechtsanwalt, eine Auswahl seiner parlamentarischen Reden
unter dem bezeichnenden Titel "1 gegen 119".
Seine Ein-Mann-Fraktion brachte mehr Gesetzesinitiativen und
parlamentarische Anfragen ein andere die meisten übrigen, sehr viel größeren
Fraktionen. Im Grunde genommen musste sich Avnery jedoch kaum umstellen:
Statt seine politischen Analysen und Streitschriften in seiner Zeitschrift
zu publizieren trug er sie nun in der Knesset vor. Seine juristischen
Kenntnisse, die er sich als Jugendlicher Ende der 1930er Jahre angeeignet
hatte, waren ihm hierbei eine außerordentliche Hilfe. Avnery wurde bald zu
einem enfant terrible der israelischen Politik: "Die Partei war ein
schreckliches Ärgernis", hebt Avnery (1995, S. 138) hervor.
Seine frühere Tätigkeit beim Irgun bewahrte ihn wohl vor einer
gesellschaftlichen Marginalisierung; die durch ihn entfachten kontroversen
Diskussionen wurden in der Knesset vorwiegend im Grundtenor eines
wechselseitigen Respekts ausgetragen. Eine häufige parlamentarische
Gegenspielerin für ihn war die frühere Ministerpräsidentin Golda Meir, mit
der ihn eine abgrundtiefe wechselseitige Abneigung verband:
"Nach ein paar Jahren erklärte Golda Meir als Ministerpräsidentin, sie sei
bereit, auf die Barrikaden zu steigen, um Uri Avnery aus dem Parlament
herauszubekommen. Gerade mit Golda hatte ich viele interessante
Zwischenfälle gehabt. Wir konnten uns nicht ausstehen. Ich hielt in den 60er
Jahren einmal eine Rede über Haschisch und sagte, es sei Unsinn, Haschisch
zu verbieten. Und mitten in meiner Rede habe ich mich selbst unterbrochen:
'Ich möchte der Abgeordneten Frau Meir antworten.' Der Vorsitzende: 'Aber
Frau Meir hat überhaupt nichts gesagt.' Darauf ich: 'Ich antworte nicht auf
ihre Zwischenrufe, sondern auf ihre Zwischengrimassen.' Solche Dinge gab es
immerzu. Ich muss sagen, ich habe mich in den ersten Jahren im Parlament
sehr amüsiert, als alles noch interessant war." (Avnery 1995, S. 138)
Innerhalb sowie außerhalb des Parlaments versuchte Avnery häufig, auf seine
eigenen Erfahrungen im Irgun Bezug nehmend, seinen Parlamentskollegen und
der israelischen Öffentlichkeit die moralische und historisch-politische
Vergleichbarkeit zwischen ihrer eigenen Befreiungsbewegung – oder wir mögen
auch sagen: den Terrorakten des Irgun – in den 30er und 40er Jahren gegen
die Engländer und Araber sowie der heutigen Aufstandsbewegung der
Palästinenser gegen Israel zu verdeutlichen. Diese Bemühungen blieben
weitgehend erfolglos. Hauptgrund hierfür sei die kollektive Verdrängung der
fürchterlichen wechselseitigen Gewalttaten, die sich Israelis und Araber in
einer Eskalationsstufe wechselseitiger Vergeltungen ab den 1920-er Jahren
zugefügt haben, vermutet Avnery. Er führt beispielhaft hierfür eine
parlamentarische Kontroverse mit Menachem Begin an. Wenn sie beide auch
nicht zeitgleich im Irgun gearbeitet hatten (Begin stieß erst zum Irgun, als
Avnery bereits ausgetreten war, und wurde dann ihr Anführer), so wusste
Begin doch von Avnerys seinerzeitiger Untergrundarbeit.
In seinem Buch aus
dem Jahr 1969, "Israel ohne Zionisten" (1969, S. 141f.) - sein erstes ins
Deutsche übersetzte Werk - , führt Avnery aus:
"Israelis meiner Generation, die im Untergrund waren, sind meistens
außerstande zu verstehen, was heute Araber in den Untergrund treibt und wie
sie dort reagieren. Ich habe das später sehr oft mit Menachem Begin und
Yitzhak Shamir, zwei Exterroristen, erlebt. Ja, natürlich waren wir
Terroristen! Aber das können sie bis heute nicht akzeptieren. Wir waren
Freiheitskämpfer, sagen sie. Terroristen sind die anderen. (...) Einmal
hielt er (Begin) in der Knesset eine Rede für die Todesstrafe. Ich
antwortete: 'Abgeordneter Begin, Sie wissen doch besser als irgendjemand in
diesem Haus, dass Todesstrafe das allerbeste ist, was einer
Untergrundbewegung passieren kann.' Da sah er mich doch tatsächlich mit
großen, traurigen Augen an und sagte: 'Abgeordneter Avnery, wollen Sie
unsere Freiheitskämpfer etwa mit diesen abscheulichen arabischen Terroristen
vergleichen?' Das ist eine Sache, die mich immer etwas amüsiert. Aber, wie
gesagt, der Untergrund war ein sehr, sehr heftiges Erlebnis."
1973, unmittelbar nach dem traumatischen Yom-Kippur-Krieg, schied seine
Partei aus dem Parlament aus. Für fünf Jahre gehörte er dem Leitungsgremium
der damals starken israelischen Gewerkschaft Histadrut an, eine Tätigkeit,
die jedoch nicht seinem Naturell entsprach: "Es war unglaublich langweilig,
ich denke daran nur mit sehr großem Unbehagen zurück." (Avnery 1995, S. 141)
1979 gelang ihm mit der neugründeten Partei Sheli (Akronym für "Frieden in
Israel"), einem Zusammenschluss mehrerer kleiner linker politischer
Gruppierungen, noch einmal der Einzug in die Knesset. Als er 1981 das
Parlament verließ – er rotierte für einen arabischen Abgeordneten seiner
Partei – empfand er dies scheinbar nicht als sonderlichen Verlust: "Ich
hatte aber keine richtige Lust mehr, denn das Parlament hatte sich sehr
verändert. Das Niveau sank von Wahl zu Wahl." (Avnery 1995, S. 141)
"Israel ohne Zionisten"
1968, unmittelbar nach dem von Israel gewonnenen Sechs-Tage-Krieg, welcher
weitreichende geopolitische Veränderungen im Nahen Osten zur Folge hatte,
fügte Avnery seine Analysen und Reflexionen in dem Buch "Israel without
Zionists", zusammen, welches ein Jahr später auf Deutsch unter dem Titel
"Israel ohne Zionisten" erschien. Es besteht aus 14 essayhaft gestalteten
Kapiteln, die auch heute noch sehr lesenswert sind. Der autodidaktisch
geschulte Journalist Avnery hielt sich seinerzeit zu einem dreiwöchigenn
Besuch in den Vereinigten Staaten auf und plante für jeden Tag die
Fertigstellung eines Kapitels. Da er an einem Tag an einer
Massendemonstration gegen den Vietnamkrieg teilnahm und keine Zeit zum
Schreiben fand, musste ein Kapitel ungeschrieben bleiben. In seiner
Einleitung, mit "Ein Israeli" betitelt, entfaltet Avnery seine hohe
literarisch-essayistische Kompetenz. Er hat zu einem reifen Stil gefunden:
"Ich gebe nicht vor, objektiv zu sein, was Israel angeht. Ich glaube,
niemand ist es oder könnte es sein. Es liegt etwas in der Luft unseres
Landes, das extreme Haltungen und Erscheinungen hervorruft. Extrem ist das
Licht des Sommers, extrem sind die Regenfälle im Winter. (...) Fast alles,
was heute über Israel geschrieben wird, ist Propaganda. (...) Ich will in
diesem Buch versuchen, ein anderes Bild zu zeichnen. Ich glaube, dass auf
beiden Seiten Menschen stehen, die teils recht, teils unrecht haben. Ich
möchte aufzeichnen, wie zwei große historische Bewegungen, beide
authentisch, beide von hohen Idealen beflügelt, auf den Schlachtfeldern
Palästinas zusammenprallten, vergeblich versuchten, sich gegenseitig zu
vernichten, und nichts weiter vermochten, als die Seele der einen wie der
anderen an ihrer Entfaltung zu hindern.
Doch während ich versuche, beiden Seiten gerecht zu werden, bin ich mir
bewusst, dass ich als Teil der einen nicht objektiv sein kann. Ich bin ein
Israeli. Wie die meisten von uns bin ich stolz auf die vielseitigen
Leistungen meines Volkes. Wie einige von uns habe ich ein waches Empfinden
für unsere Fehler und unser Versagen. Ich bin ein Israeli, der
leidenschaftlich an den Frieden glaubt, der jedoch den größten Teil seines
Lebens im Krieg gelebt hat." (Avnery 1969, S. 7)
Avnery, inspiriert durch seine höchst außergewöhnlichen biographischen
Erfahrungen sowie die höchst außergewöhnliche Situation Israels unmittelbar
nach dem eindrucksvoll bestandenen 1967-er Sechstagekrieg gegen mehrere
arabische Staaten, sieht die große Chance, über die Vermittlung seiner
eigenen Biographie die komplexen und tragischen Ursachen für die tödlichen
Eskalationen der nahöstlichen Tragödie seinen Landsleuten besser verstehbar
zu machen.
Der Intellektuelle Avnery lässt sein Buch in einem für ihn ungewohnten Ton
ausklingen. Wir mögen uns an das Lebensmotto des jüdischen KZ-Überlebenden
Bruno Bettelheim erinnert fühlen, wonach Herz und Verstand nicht länger
getrennt bleiben dürfen: "Unser Herz muss die Welt der Vernunft kennen, und
die Vernunft muss sich von einem wissenden Herzen leiten lassen."
(Bettelheim 1960, S. 8; s. Kaufhold 2001, 2003) Er formuliert abschließend:
"Wenn wir mit unserem Herzen wie mit unserem Verstand verstehen lernen,
welches die Gründe für den Ausbruch des israelisch-arabischen Konfliktes
waren und wie es geschehen konnte, dass dieser Konflikt bereits drei
Generationen lang andauert, werden wir die Weisheit erlangen, zu heilen." (Avnery
1969, S. 236)
Bücher, Bücher, Bücher – Kontakte zu Hamami, Sartawi und Arafat
Avnery hat eine unüberschaubare Anzahl von Zeitschriftenbeiträgen und elf
Bücher veröffentlicht, von denen nicht alle ins Deutsche übersetzt wurden.
So publizierte er anlässlich seiner journalistischen Tätigkeit beim
Eichmann-Prozess Anfang der 60er Jahre – der die Verarbeitung der Shoah in
einer entscheidenden Weise fokussierte und dynamisierte (s. Greif 2003) –
das Buch "Das Hakenkreuz", welches nur auf Hebräisch erschien. Hierin
versuchte er seinen israelischen Landsleuten zu erklären, wer die Nazis
waren und wie sie an die Macht gekommen sind.
Zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung reiste Avnery gemeinsam mit seiner
Frau Rachel durch sechs Staaten des ehemaligen Ostblocks, führte dort
zahlreiche Gespräche. Es entstand mit "Lenin lebt hier nicht mehr" ein
journalistisches Reisebuch, welches ebenfalls nur in Israel erschien, dort
jedoch recht erfolgreich war.
Von zentraler, existentieller Bedeutung war für Avnery jedoch der
lebenslange Versuch, Brücken zu einigen führenden Palästinensern zu
schlagen, um die wechselseitige Eskalation der Feindseligkeiten zwischen
Israelis und Palästinensern zu durchbrechen. Am 11. Juni 1967, am fünften
Tag des Sechstagekrieges, appellierte er in einem offenen Brief an den
damaligen Ministerpräsidenten Eshkol, den unterlegenen Palästinensern
unverzüglich die Gründung eines eigenen Staates anzubieten. Nicht wenigen
Nahostforschern erscheint das Unterbleiben einer solchen Geste der
Versöhnung – der unumstrittene militärische Siegers streckt dem Unterlegenen
seine Hand zur Versöhnung aus – , als eine historisch vielleicht einmalige
Chance, die ungenutzt geblieben ist (s. Bernstein 2000, 2006).
1975 gründete Avnery, u.a. gemeinsam mit dem bekannten ehemaligen
israelischen General Matti Peled, den Israelischen Rat für
Israelisch-Palästinensischen Frieden; der Auftakt für zahlreiche Gespräche
zwischen israelischen und palästinensischen Intellektuellen und
Schriftstellern in den 1980er und 1990er Jahren. Bereits Ende 1973,
unmittelbar nach seinem ersten Ausscheiden aus dem Parlament, begann Avnery
seine direkten Gespräche mit einigen ausgewählten einflussreicheren und
gesprächsbereiten palästinensischen Gesprächspartnern – mit Said Hamami und
Issam Sartawi, beide Funktionäre der PLO. Regelmäßig trafen sie sich, meist
unter absoluter Geheimhaltung – Kontakte, die für beide Seiten
lebensgefährlich waren und sowohl für Hamami als auch für Sartawi tödlich
enden sollten; sein Freund Hamami wurde 1978, Sartawi im April 1983 am Rande
einer Konferenz der Sozialistischen Internationalen in Portugal von
palästinensischen Extremisten der Abu-Nidal-Bande ermordet.
Avnery hatte Yitzhak Rabin, mit dem ihn eine lockere Freundschaft und eine
wechselseitige Wertschätzung verband, über den Inhalt ihrer Gespräche
informiert. Diese wurden von Rabin, obwohl sie seinerzeit in Israel de jure
verboten waren, stillschweigend geduldet. Sie führten 1982 zu Avnerys
weltweit beachtetem, spektakulärem Besuch bei Arafat im seinerzeit
belagerten Beirut.
Diese den Zeitraum von 15 Jahren umspannenden Gespräche publizierte Avnery
1988 in seinem journalistischen, teilweise wie ein Krimi zu lesenden Buch
"Mein Freund, der Feind". Es ist ein eindrucksvolles Dokument des
wagemutigen Versuches einiger Weniger, mit ungebrochenem Mut, in klarer
Einsicht von der äußersten Fragwürdigkeit, wenn nicht sogar Vergeblichkeit
der eigenen Bemühungen, Brücken zwischen zutiefst verfeindeten Lagern zu
bauen.
So leitet er das ebenfalls mit "Mein Freund, mein Feind" überschriebene
Kapitel (Avnery 1988, S. 58-64) mit einer Beschreibung der Szene ein, in der
er Said Hamami 1973 erstmals traf – es war überhaupt das erste Treffen eines
PLO-Offiziers mit einem Israeli; ihm waren monatelange konspirative Kontakte
und Vermittlungen Dritter vorausgegangen:
"Es klopfte leise an der Tür.
Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich öffnete.
Der Mann sah jünger aus, als ich erwartet hatte, etwa 34. Er hatte sanfte
dunkle Augen, schwarzes Haar, ein ziemlich rundes Gesicht. Er war
konservativ gekleidet, nach englischer Art. Er sah ganz und gar nicht wie
ein gefährlicher Terrorist aus.
Ich sagte ahlan wa-sahlan. Willkommen.
Er trat ins Zimmer, blickte sich rasch um, sah, dass ich allein war. Wir
sahen uns an, zwei Menschen in einem Londoner Hotelzimmer. Ich glaube, wir
mochten uns.
Wir waren Feinde.
Es war eine gefährliche Begegnung. Wir hatten beide ein Risiko auf uns
genommen. Er kannte meinen Namen und wusste wofür ich eintrat. Aber er
konnte nicht sicher sein, dass die ganze Sache nicht eine Falle des Mossad
war." (Avnery 1988, S. 58)
In dem abschließenden Kapitel "Gefangene ihrer Geschichte" blickt Uri Avnery
auf diese langen Gespräche zurück, die mit dem Tod seiner beiden Freunde
endeten, die doch zugleich seine Feinde waren; Freunde, deren Tapferkeit und
Entschlossenheit für ihn ein Vorbild wurden. In ihren Gesprächen hatten sie
Neuland betreten, fortgesetzt mit vielfältigen Tabus belegte Grenzen
überschritten, sich in die gefährliche Position eines Aussenseiters, eines
von der kollektiven Ausstoßung Bedrohten begeben, sich an Tollkühnheit zu
überbieten versucht.
Avnery resümiert: "An dieser Stelle beende ich meine Geschichte. Nicht weil
sie zu Ende wäre. Im Gegenteil. (...) Ich habe mich bemüht, diese Geschichte
so wahrheitsgemäß zu erzählen, wie ich konnte. Vielleicht ist es eine
traurige Geschichte, vielleicht macht sie auch Mut. Wir haben eine Unmenge
Niederlagen und Rückschläge erlitten. Aber wir sind auch auf menschliche
Beharrlichkeit gestoßen, auf Hingabe an ein Ideal, auf Mut im Angesicht des
Gegners. Menschen haben ihr Leben hingegeben. (...) Ist überhaupt etwas
erreicht worden? (...) Für mich ist die Antwort selbstverständlich. Diese
lang Mühe, dieses Abenteuer für den Frieden ist von historischer Bedeutung."
(Avnery 1988, S. 404)
Avnery zeichnet die Entwicklung der PLO nach; sie habe eine immense
Entwicklung hin zu einer Verständigung gemacht, habe das Existenzrecht
Israels anerkannt. Der Dialog sei grundsätzlich möglich – trotz langer
Phasen der Irritation, trotz aller Rückschläge. Mit ungebrochenem Optimismus
hebt er die Bedeutung des Dialogs hervor:
"... Man wechselt nicht nur Worte, man tauscht Blicke aus, unfreiwilliges
Mienenspiel, unbewusste Gesten. Man überredet und wird überredet auf
vielfache Weise, bewusst und unbewusst. (...) Man schließt nicht anders
Frieden als mit Feinden, und man schließt nicht Frieden mit Feinden, die man
verabscheut oder als unmenschliche Monster betrachtet. Nach vier
Generationen des Kampfes zwischen Juden und Palästinensern werden die Feinde
– die PLO und ihre Führer – von jüdischen Israelis als Dämonen angesehen,
als Ungeheuer. Genau so sehen die Palästinenser die verhassten Zionisten
nicht als normale Menschen mit ihren alltäglichen Hoffnungen und Sorgen,
sondern als die neuen Nazis, außerhalb der Grenzen der Menschlichkeit. Unser
Dialog hat dazu beigetragen, diese diabolischen Bilder zu erschüttern. Er
hat jede Seite in den Augen der anderen entdämonisiert." (Avnery 1988, S.
405)
Avnery ließ sich trotz aller Rückschläge nicht entmutigen. Es folgte die
Gründung des "Friedensblocks"
Gush Shalom, eine
radikal-progressiv eingestellte Gruppierung innerhalb des breiten Spektrums
der israelischen Friedensbewegung.
Neben gemeinsamen Demonstrationen von Israelis und Palästinensern gegen
militärische Übergriffe, gegen den Mauerbau sowie gegen den Ausbau von
jüdischen Siedlungen auf vormals palästinensischem Gebiet hat Gush Shalom
auch detaillierte Pläne ausgearbeitet und publiziert, wie die verschiedenen
komplexen Streitfragen zwischen Israelis und Palästinensern rechtlich und
politisch geklärt werden können. 1991, zu Zeiten des Irak-Krieges,
publizierte Avnery auf Deutsch den leicht zu lesenden, informativen Band
"Wir tragen das Nessos-Gewand. Israel und der Frieden im Nahen Osten".
Der sogenannte Friedensprozess zwischen Israel und "den" Palästinensern ist
vor allem an vier Fragenkomplexen gescheitert, die weitgehend aus den Osloer
Verhandlungen ausgeklammert worden sind: Die Frage des Rückkehrrechts der
1948 geflohenen bzw. vertriebenen Palästinenser, das Siedlungsproblem, die
Jerusalemfrage und die Frage nach den künftigen Grenzen. Doch über all
diesen Problemen steht der Streit über die Souveränität in den
palästinensischen Gebieten (s. Bernstein 2000, 2006). 1996 veröffentlichte
Avnery zusammen mit Azmi Bishara auf Deutsch den umfangreichen
Interviewband
"Die Jerusalemfrage", in dem elf namhafte Israelis und
Palästinenser über mögliche Lösungsversuche befragt werden.
Die Streitgespräche verdeutlichen die große Fülle von Einschätzungen und
Lösungsvorschlägen sowie zugleich die Komplexität dieser Thematik. Azmi
Bishara, 1956 in Nazareth geboren, hatte in Ostberlin Philosophie studiert.
Er war ein Palästinenser mit israelischem Pass, der Mitglied der Knesset
war. Vor zwei Jahren floh er aus Israel in ein arabisches Land, um einer
Verhaftung zu entgehen. Er wurde beschuldigt, während des Libanonkrieges
militärische Staatsgeheimnisse an die Hisbollah verraten zu haben.
Preise, Preise, Preise oder: Ein unverbesserlicher Optimist
Die Liste der Auszeichnungen, welche Uri Avnery in den letzten Jahren
erhalten hat, ist lang und eindrucksvoll – und doch sind ihm diese Preise
nahezu ausschließlich nur in Europa verliehen worden. In Israels selbst, so
will es mir scheinen, ist Avnery in eine immer randständigere Position
geraten. Das Scheitern von Oslo, der Ausbruch der zweiten Intifada, aber
auch die Verzweiflung vieler progressiver israelischer Intellektueller über
einen vermeintlichen Mangel an Ansprechpartnern innerhalb der
palästinensischen Intelligenz – wie dies u.a. vom israelischen
Schriftsteller Yoram Kaniuk beklagt wird –, hat zum Erosionsprozess
innerhalb der israelischen Linken, zu einem zunehmenden Prozess der
Resignation und des Fatalismus geführt. Und dennoch: Unbeirrbar hält Avnery
an seinen Positionen fest, vertraut auf die Umkehrbarkeit der
blindwütig-gewalttätigen Esakalationsprozesse.
1995 erhielt Avnery den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt
Osnabrück, 1996 die Ehrenbürgerschaft der israelisch-arabischen Ortschaft Kafr Kassem, in Anerkennung seines Anteils an der Aufdeckung eines Massakers
im Oktober 1956, bei dem 48 Menschen ums Leben kamen, 1997 (zusammen mit
Gush Shalom) den Aachener Friedenspreis, 1998 den Wiener Bruno-Kreisky-Preis
für Verdienste um die Menschenrechte, den Niedersachsen-Preis für
hervorragende publizistische Leistungen sowie den Palästinensischen Preis
für Menschenrechte, 2001 den renommierten alternativen Nobelpreis (zusammen
mit seiner Frau Rachel sowie Gush Shalom), 2002 die Ehrenmitgliedschaft in
der Erich-Maria Remarque Gesellschaft Osnabrück, ebenfalls 2002 den
Carl-von-Ossietzky-Preis, und kürzlich, im Mai 2003, wurde ihm in Köln durch
Fritz Pleitgen der Lew-Kopelew-Preis verliehen. 2005 erhielt er erstmals
einen israelischen Preis - den Sokolew Preis für sein lebenslanges
journalistisches Wirken. 2003, anlässlich seines 80. Geburtstages, erschien
unter dem Titel "Ein Leben für den Frieden" ein Band mit seinen politischen
Essays aus den letzten Jahren. Diese Essays verschickt Avnery seit vielen
Jahren mit außergewöhnlicher Zuverlässigkeit per e-mail an ein
internationales Publikum. Einig Teil dieser Essays wird ins Deutsche
übersetzt und in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen, u.a. im freitag,
publiziert.
Bei der Verleihung des Lew-Kopelew-Preises 2003, Uri
Avnery im Gespräch
mit Bernd Nitzschke (links) und Roland Kaufhold (Mitte),
© Maria Nitzschke
Die augenfällige Diskrepanz der
politischen Wertschätzung, die Avnery unter Israelis und Palästinensern
einerseits und in Europa andererseits genießt, legt die Frage nach den
Quellen seines offenkundig unversiegbaren Optimismus nahe. Hierzu könnte man
diverse Vermutungen und Erklärungsansätze bemühen. Ich habe mich in diesem
Beitrag an einem biographisch-psychologischen Verstehenszugang versuchen.
Dass dieser Zugang durchaus im Einklang mit Uri Avnerys eigenen publizierten
Bemühungen steht, glaube ich zumindest zwei Umständen entnehmen zu können:
Ich habe vorhergehend die Passage zitiert, in der Avnery in dem Interview
mit Koppel an den "ansteckenden Optimismus", an den Glauben seines Vaters an
den Menschen erinnert, wodurch dieser bei seinen Mitmenschen in Israel so
beliebt wurde. Avnery schließt hieran eine psychologische Deutung an, wenn
er über seinen Vater ausführt: "In Deutschland war er immer ziemlich krank
gewesen – er hatte Nierensteine und solche Sachen, die ihn sehr quälten,
aber hier im Lande war das alles sofort weg. Vielleicht vom Fahrradfahren,
das war seine Theorie. Aber vielleicht war es auch psychosomatisch." (Koppel
2000, S. 138)
Auch möchte ich auf Avnerys (1969a) tiefgründiges, trotz aller gravierenden
politischen Differenzen liebevoll gehaltenes psychologisch-biographisches
Porträt Moshe Dayans verweisen, ein Beispiel einer an Aufklärung
interessierten politischen Psychologie.[4] Avnery bemerkt hierin einführend:
"Das Leben und die Karriere Dayans sind des Studiums wert, nicht nur wegen
des Einflusses, den er auf die israelische Politik ausübte, sondern vor
allem, weil Dayan selbst ein exemplarisches Produkt der zionistischen
Geschichte ist." (S. 127)
Und:
"... Wie ist er ein solcher Mann geworden? Was treibt ihn und hält ihn in
Gang? Soweit es überhaupt möglich ist, auf diese Fragen eine Antwort zu
finden, muss man sie sowohl im psychologischen Bereich wie in der Geschichte
des Zionismus suchen." (S. 132)
Es finden sich hierin deutende Passagen über Dayans markante
Persönlichkeitsstruktur – welche Dayan insbesondere nach dem 67er-Krieg in
Israel zu einem Nationalhelden und im Ausland zum wohl berühmtesten Israeli
machten –, die den Ausführungen Wirths (2002) über narzisstische
Persönlichkeitsstrukturen entsprechen., wie etwa die folgende:
"Dayan hat keinen Kontakt zu Menschen. Er hat keinerlei enge Bindungen,
weder im Kreis seiner Familie noch in einer sozialen Gruppe[5]. Er hat
keinen einzigen Freund in der Welt. Er verfügt über einen unwahrscheinlichen
Charme und kann jeden bezaubern, aber er kann zu keinem eine echte innere
Beziehung knüpfen." (S. 131) Oder: "Der Knabe Mosche, der unter dem Schutz
seiner Mutter in dem kooperativen Dorf Nahalal aufwuchs, war sensibel und
sanft. Auf Bildern, die ihn als Dreijährigen zeigen, hat er ein liebliches
rundes Gesicht; (...) Es ist das Gesicht eines Knaben, der in einer anderen
Gesellschaft ein empfindsamer Mann geworden wäre, ein Schauspieler
vielleicht oder ein Dichter. (...) Nach der Grundschule besuchte er die
landwirtschaftliche High School. Das war insofern recht ungewöhnlich, als es
sich um eine Mädchenschule handelte, und Moshe Dayan war der einzige Junge.
(...) Wie alle sensiblen Kinder, die gegen ihren eigentlichen Charakter
angehen, verfiel er ins entgegengesetzte Extrem, und er musste für diese
künstliche und seiner Natur zuwiderlaufende Abhärtung einen Preis zahlen; er
legte sich ein psychogenes Geschwür zu, unter dem im allgemeinen die
Menschen leiden, die versuchen, hinter einer ihrem wahren Wesen
widersprechenden Fassade ihre Gefühle zu verbergen. Dayan lernte nicht, mit
seinen Emotionen zu leben, sondern er unterdrückte sie und wurde unfähig zu
gefühlsmäßigen Beziehungen zu anderen Menschen. Er ist nicht ein Mann, der
die Furcht besiegte, sondern eher einer, der seine Ängste abtötete, für den
Furchtlosigkeit ein Kult wurde – der Krieger, der in die Schlacht rennt, der
General, der persönlich an Vergeltungsüberfällen teilnimmt, der
Generalstabschef, der während des Sinai-Krieges im Mittelpunkt des
Schlachtfeldes auftaucht, der Verteidigungsminister, der in einem offenen
Jeep den Ölberg hinauffährt, während rundherum alles voll ist von wild
schießenden Heckenschützen." (S. 132-134)
Avnerys auffallende Fähigkeit, sich in Dayans innere Konflikte einzufühlen,
diese als pointierte Charakterstrukturen zu verstehen, die zugleich einige
typische israelische Charakterzüge repräsentiere, mit denen jeder im Land
aufgewachsene Israeli sich auseinandersetzen müsse, zeichnet Avnery auch als
einen politischen Psychologen aus. Dayans Lebensweg spiegele in verdichteter
Weise die massiven Konflikte und inneren Widersprüche Israels [wider] und
verweise hierdurch zugleich auf Möglichkeiten einer friedlicheren Zukunft,
für die es sich zu entscheiden gelte. Abschließend betont Avnery, auf die
ungewisse Zukunft Israels verweisend: "Es kann geschehen, dass Israel "dajanisiert"
wird – es kann aber auch eine völlig andere Entwicklung nehmen. Es steht
jetzt an einem Kreuzweg. Welchen Weg es einschlagen wird, hängt weitgehend
davon ab, wie es seine inneren Konflikte löst." (Avnery 1969a, S. 153)
Avnery hat verschiedentlich die psychologische Vorbildfunktion seines
ungebrochen optimistischen, innerlich stolzen Vaters für seine eigene
Entwicklung als publizistisch-literarischer und politischer Aktivist
hergehoben (s.o.).
In einem Interview vor acht Jahren fasste der damals 77jährige seinen
Respekt vor dem Lebenswerk seines Vaters mit den Worten zusammen: "Je älter
ich werde, um so mehr denke ich an meine Eltern. Was mussten sie auf sich
nehmen! Von einem Klima in ein anderes, von einer Sprache in eine andere,
von einer Kultur in eine andere, von einer Gesellschaftsschicht in eine
andere, von einer Lebensform mit Tausenden von Einzelheiten in eine andere
mit tausend anderen Einzelheiten, von einer Landschaft in eine andere, von
einer Lebensart in eine andere. Je älter ich werde, um so mehr bewundere ich
unsere Eltern, die das irgendwie überlebt und überstanden haben und es dazu
noch fertigbrachten, hier ein glückliches Leben zu führen. Alle Achtung!"
(2000, S. 147f.)
Aktualisierte und erweiterte Version
der Studie: Roland Kaufhold: Vom Irgun zur israelischen Friedensbewegung.
Zum 80. Geburtstag des israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery,
psychosozial Nr. 93, H. 3/2003, S. 107 - 122; diese Studie wurde unter dem
Titel "Uri Avnery: Ein Porträt" weiterhin publiziert in: Uri Avnery (2003):
Ein Leben für den Frieden. Heidelberg (Palmyra), S. 258-287. Wir danken dem
Psychosozial-Verlag, Gießen sowie seinem Inhaber, Prof. Dr. Hans-Jürgen
Wirth für die freundliche Abdruckgenehmigung.
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Anmerkungen:
[1] Hier unterliegt Avnery einer Fehlerinnerung: 17 bzw. 18
Jahre nach Ben-Gurions Ankunft in Palästina wurde er geboren; insofern
liegen zwischen ihrer jeweiligen Ankunft in Palästina 27 bzw. 28 Jahre.
[2] In der 2005 publizierten, von seinem früheren, heute
in Deutschland lebenden Mitarbeiter Michael K. Nathan übersetzten
deutschsprachigen Version wird der Titel mit "Die Kehrseite der Medaille" (Avery
2005) übersetzt.
[3] Siehe hierzu inhaltlich ergänzend das Buch "Fremd in
Zion. Aufzeichnungen eines Unzuverlässigen" von Daniel Cil Brecher (2005),
in welchem eine vergleichbare Erfahrung beschrieben wird. Internet:
http://www.hagalil.com/01/de/index.php?itemid=1341
[4] Siehe hierzu das von Hans-Jürgen Wirth (2002)
verfasste Buch "Narzissmus und Macht", welches ein vorzügliches
Grundlagenwerk einer politischen Psychologie ist.
[5] Dayans Tochter Yael Dayan, welche Avnery in diesem
Essay mehrfach zustimmend zitiert, gehörte von 1992 bis 2003 als Abgeordnete
der Knesset an – zuerst für die Arbeiterpartei; im Herbst 2002 wechselte sie
zur linksliberalen Meretz. In der tageszeitung (taz) vom 30.1.2003, S. 6,
ist ein lesenswertes Interview mit ihr erschienen, in welchem sie die
schwere Wahlniederlage der Arbeiterpartei sowie von Meretz selbstkritisch
analysiert.
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