Vladimir Jabotinsky läutet in „Die Fünf“ eine neue Morgenröte ein…
Von Galina Hristeva
Zuerst erschienen auf: Literaturkritik.de
Sein neuester Biograf Hillel Halkin schwärmt für ihn in Jabotinsky. A Life (2014) und nennt den Roman Die Fünf „his greatest literary achievement and one of the finest twentieth-century Russian novels“. Vladimir Jabotinskys Roman erschien seit 1933 in Fortsetzungen in der Pariser russisch-jüdischen Zeitschrift Rasswyet (Morgendämmerung), wurde 1935 fertiggestellt und 1936 in Buchform veröffentlicht.
Vladimir Ze´ev Jabotinsky wurde als radikaler Zionist, Begründer des revisionistischen Flügels des Zionismus sowie der Irgun, der National Military Organization in the Land of Israel, bekannt. Er war ein Kämpfer durch und durch. Hillel Halkin zitiert sein Credo: „You either march on with all the cruelty to yourself and others that this calls for or you give up and are swallowed by oblivion together with all your hopes.“ Die Fünf – laut Untertitel ein „Gesellschaftsroman über Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ – besticht jedoch mit seiner bedächtigen Diktion und offenbart einen zartbesaiteten Jabotinsky.
Der Roman erzählt die Geschichte der jüdischen Familie Milgrom und ihrer fünf Kinder. Die Handlung beginnt nicht zufällig im Stadttheater von Odessa, wo die Familie lebt: Was folgt, ist eine Familien-, Stadt- und Kulturchronik. Wie Marussja, die rothaarige jüngste Tochter der Milgroms, ist auch die Zeit „vollblütig“; wie die Vorstellung von Maurice Maeterlincks Monna Vanna ist vieles in dieser Stadt „grandios“. Geistiger Aufschwung, Leidenschaft, die nietzscheanische „Umwertung aller Werte“ und mehr als ein Hauch von décadence lassen den „fremdländischen, lateinischen und hellenistischen Genius“ dieser multikulturellen Stadt neu erblühen. Polen, Russen, Juden und Griechen machen die „babylonische Buntheit“ Odessas aus, „Goldmünzen und Geldscheine aller Planeten des Sonnensystems“ schmücken die Stadt und insbesondere die Deribassowka, „die Königin aller Straßen dieser Welt“. Ein „unbeschwertes, sattes Odessa“, aus dem auch der „revolutionäre Sinn“ nicht wegzudenken ist.
Ein Träger des odessitischen Geistes ist der Familienvater der Milgroms, Ignaz Albertowitsch. Kaufmann und „Intelligenzler“ zugleich, kennt er die Welt und „den Wert von Menschen und Dingen“. Seine Liebe gehört seiner Familie, seinem Getreidegeschäft sowie Ludwig Börne, Adelbert von Chamisso und Nikolaus Lenau. Die Porträtgalerie seiner fünf Kinder, die im Roman entfaltet wird, ist lebendig, dynamisch, warmherzig – erfüllt von der Gastfreundschaft der Milgroms, von Marussjas unbeschwertem Lachen, von Serjoshas Scharfsinn und Ungestüm, von Likas Fanatismus, von Markos Schwärmereien, von Toriks Vernunft. Treu seiner lebenslangen Überzeugung, dass nichts über das Individuum geht, hat Jabotinsky fünf grundverschiedene, einzigartige Charaktere erschaffen. Erzählt wird die Familiensaga von einem jungen Journalisten, der zum großen Teil Zeuge ihrer „Abenteuer“ ist. Bewunderung empfindet der Erzähler insbesondere für die Familienmutter Frau Milgrom – eine noch junge, lebhafte Frau, ein „echter Kamerad“.
„Monate vergingen. Ich verreiste und kam wieder und verlor die Familie Milgrom oft für lange Zeit aus den Augen“, berichtet der Erzähler. Nach den fröhlich dahinplätschernden ersten fünf Kapiteln markiert Kapitel 6 eine tiefe Zäsur im Roman. Aus dem ursprünglichen „Frühling“ wird eine „Massentragödie“. Die Zeichen an der Wand mehren sich, eine Unruhe ergreift Odessas Bewohner, das politische Klima verdüstert sich schlagartig, die Staatsmacht entmachtet den Bürger: „Der Bürger meinte, die Bastionen der Selbstherrschaft zu stürmen; in Wirklichkeit war es die Obrigkeit, die seine Festung belagerte – Millionen Festungen, jedes Haus, und die Avantgarde der Belagerungsarmee saß bereits in ihren Schützengräben in den Kellern diesseits der Tore.“ Der Frühling ist zu Ende, der Glanz erlischt und verwandelt sich in Elend, aus Licht wird Schatten, aus Liebe Gift. Zum Symbol der neuen Zeit avanciert Choma, ein ehemaliger Bauer und jetziger Hauswart, dessen Dienstbeflissenheit rasch in Unverfrorenheit umschlägt, je mehr er mit seinesgleichen zur „Hauptstütze der Staatsmacht“ aufsteigt. Protestdemonstrationen werden nun gewaltsam gesprengt: „Sie seien keine zwanzig Schritt weit gelaufen, als von allen Seiten Regimenter von Schutzleuten und Hauswarten auf sie zu stürmten; Frauen hätten geschrien, es sei ein großes Durcheinander und Grauen gewesen; berittene Kosaken hätten das Publikum auseinandergejagt, mit Hufen und Peitschen die Trottoirs gesäubert.“
Diese und ähnliche Ereignisse in der nun von Hass „überschwemmten“ Stadt und ganz besonders der Potjomkin-Tag im Juni 1905, an dem Odessa nach der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin von dort aus beschossen wurde, kündigen den Untergang auch der Milgroms an. Selbst die lebensfrohe Marussja muss feststellen: „Überall Pistolen, Galgen und Pogrome.“ Vier der fünf Kinder der Milgroms erleiden in jener „schwarzen Zeit“ ein tragisches Schicksal. Nur Torik überlebt, er konvertiert aber zum Christentum. Mutter Anna Michailowna Milgrom muss „die Machtlosigkeit aller Mütter und Väter jener Generation des Umbruchs und Zusammenbruchs“ erleben und wird zur Niobe. Ignaz Albertowitsch Milgrom wiederum begegnet dem Schmerz über den Verlust seiner Kinder mit dem Buch Hiob. Seine Antwort auf die Frage „Was ist stolzer – [gegen Gott] zu rebellieren oder zu salutieren?“ lautet: Indem man Gott nach dem Unglück „salutiert“, sieht man sich selber als Teil seines großartigen Planes, stellt sich „an die Seite ebendieses Gottes“, wird zu dessen „Kompagnon“.
Jabotinskys Roman entführt uns trotz biblischer Verweise und mythologischer Bezüge, trotz des Diktums vom „bösen Gott“, der das Unglück herbeiführt, nicht in archaische, entlegene Zeiten. Seine Stärke besteht in der genauen Analyse und in der exemplarischen Darstellung derjenigen Prozesse, die zum Verfall einer Gesellschaft führen – „wie in einem klassischen Beispiel aus dem Lehrbuch“. Der Erzähler blickt zurück, erinnert sich, analysiert. Viele Dialogstellen weisen einen dramatischen Charakter auf, lyrische Einschübe fehlen auch nicht, und doch wird die Narration von einem scharfsinnigen, hellsichtigen, teilweise ironischen, teilweise abgeklärten Erzähler zusammengehalten, der keine apokalyptische Stimmung aufkommen lässt. Der Erzähler ist wie Jabotinsky zum Zeitpunkt des Erzählens ein Emigrant, der seit 1915 nicht mehr in Russland gewesen ist. Er leidet unter „dem giftigen Fluch“ der Emigration, trauert jedoch keiner rückwärtsgewandten Utopie nach. Der Erzähler weiß, er wird Odessa „wahrscheinlich nie wiedersehen“ und er „hänge überhaupt an keinem Land“. Dieser Roman über den Verfall einer kaufmännischen Familie wird mit den Buddenbrooks verglichen, ist aber kein Verfallsroman: Der Erzähler zieht keinen Schlussstrich unter Odessa. Odessa ist für ihn etwas, das „nicht vorbei“ ist und „nie vorbei sein“ wird.
Eine „Metropole für die ganze Welt“ hat Jabotinsky Odessa in einem Brief an den Zionisten S. D. Salzman genannt. Die Fünf ist eine Hymne auf Odessa – nicht aber auf das Odessa am Schwarzen Meer, sondern auf das Odessa, das überall sein kann als ein Ort der Geistigkeit, an dem „das schönste Lied der Menschheit“, die Vielsprachigkeit, zu Hause ist. Wie Vater Milgrom konstruiert Jabotinsky aus dem Verfall einen strahlenden Neubeginn, stellt eine neue Morgenröte in Aussicht. Oder wie sein Erzähler am Ende des Buches sagt: „Eines ist wohl bereits bewiesene historische Wahrheit: Nur über den Verfall gelangt man zur Restauration. Der Verfall ist also so etwas wie der Nebel bei der Geburt der Sonne und wie der vormorgendliche Traum.“ Den Zionismus selbst beschrieb Jabotinsky einmal in Einklang mit seinem Odessa-Roman als „einen Traum, der dem Tränenmeer und dem Leid des jüdischen Volks entsprungen ist“ und der „größer als seine Verunglimpfer“ ist. In diesem Traum von einem neuen Morgen, von einem neuen Frühling liegen auch die Wurzeln von Jabotinskys auf liberalen europäischen Werten beruhendem „hebräischen Humanismus“ (Hillel Halkin).
Vladimir Jabotinsky: Die Fünf. Ein Gesellschaftsroman über Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Die Lyrik wurde übertragen von Jekatharina Lebedewa, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2017, 288 S., 14,00 EUR, Bestellen?