Simchat Tora in Jerusalem

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1936 erschien ein kleiner Band im Verlag „Atid“ Berlin, herausgegeben von Rudolf Melitz, der Briefe junger Menschen aus Erez Israel versammelte. In ihren Briefen schilderten junge Einwanderer die Ankunft im Land, ihre ersten Schritte, ihren Alltag, Land und Leute und besondere Feste. Der vorliegende Brief beschreibt einen Besuch zu Simchat Torah in Jerusalem …

Jerusalem, 1934.

Simchath Torah ist ein Fest der Freude.

Ich bin zu den Festtagen oft in die Viertel der Juden gegangen, die in Tracht und Lebensweise sehr an die Juden des alten Ghetto erinnern. Es hat auf mich deprimierend gewirkt, zu sehen, wie viel Kraft und Inbrunst sie in ihr Beten, Weinen, Klagen legen und doch im täglichen Leben so niedrig, elend und kraftlos sein können. Ich konnte mir diese gebückten Gestalten gar nicht bei Freude und Gesang vorstellen.

Am Vorabend des Simchath Torah war ich im Viertel der Chassidim in Jerusalem. Die alten Juden, die wir nach der „Schul“ fragten, sahen uns gleich an, daß wir nicht zu ihnen gehörten und wiesen uns in eine ziemlich „europäische“ Synagoge. Da ging ich einfach einem Juden im Kaftan und riesiger Pelzmütze nach. Er ging durch mehrere Gäßchen und stieg endlich in einem Haus die Treppe hinauf. Viele Männer waren in einer Stube versammelt. Alle im Kaftan und der breiten Pelzmütze, dem Streimel. Man betete. Die Frauen standen auf dem Korridor und in der Sukkah. Von der Sukkah aus konnte man durch ein Fenster in die Stube schauen. Ich sah mir einige Typen an. Es waren ganz alte dabei, mit weißen Bärten; junge Männer, die in der breiten Pelzmütze eigenartig aussahen. Und vor ihnen der Rabbi, eine schöne Erscheinung, mit dem Tallith über dem Kopf. Das ganze Beten war mir sehr, sehr ungewohnt.

Plötzlich wird die Stimme des Rabbi lauter, man öffnet den Schrank, nimmt die Thora-Rollen heraus, geht mit ihnen kreisum. Einer beginnt zu singen und plötzlich tanzen alle. Ich weiß nicht, wie es anfing, wer zuerst tanzte; die Alten wiegten sich hin und her, die Umstehenden klatschten in die Hände, und die, die eine Thora-Rolle trugen, tanzten. Dann hört das Singen auf. Der Rabbi liest etwas, dann tanzt man weiter. Dieses wiederholt sich unzählige Male. Bald tanzen immer mehr, auch die Alten. Sie umarmen einander, packen sich bei den Händen, klatschen, singen. Die Väter nehmen ihre Kinder auf die Schultern. Einer nach dem anderen trägt die Thora. Sie sind ganz mitgerissen vom Singen, vom Tanzen. Ich habe die ganze Zeit über das Gefühl, als sähen sie mich als eine Fremde an, die nicht dazu gehört. Jetzt aber reißt auch mich dieser Tanz mit, diese Melodie, dieser Fanatismus. Ich möchte zu ihnen gehören, doch im gleichen Augenblick weiß ich, daß ich den Ursprung dieses Tanzes, die Gefühle, denen er entspringt, nie verstehen werde, daß dieses alles mir so fremd ist.

Auf den Tisch in der Mitte des Zimmers sind plötzlich zwei alte Männer geklettert, tanzen hin und her, alle anspornend. Ihre dünnen weißen Bärte flattern. Ein ganz junger Mensch singt mit dröhnender Stimme, klatscht unaufhörlich in die Hände. Zwei Alte tragen gemeinsam die Thora-Rolle. Ein Vater setzt seinen kleinen Sohn auf den Tisch, wo er vergnügt seine Fahne schwenkt. Ein kleiner Junge hat eine Thora-Rolle zum Tragen bekommen, tanzt keuchend unter der Last, voll Stolz über die ihm zuteil gewordene Ehre, in der Mitte des Zimmers steht ein dicker Mann mit dem roten Gesicht eines Bauern. Er fuchtelt mit den Händen, schreit und lacht. An ihm vorüber tanzen gerade die beiden Alten, die vorher auf dem Tisch standen. Ihre Gestalten sind vom Alter gekrümmt. Es ist furchtbar heiß, alle tanzen durcheinander.

Ich möchte nur einmal diese Inbrunst empfinden, die im Tanz dieser Menschen liegt.

Gitta.

Quelle: Jeruschalajim, den… Briefe junger Menschen schildern Erez Israel. Gesammelt und herausgegeben von Rudolf Melitz, Berlin 1936.