Verfolgt, vertrieben und vergessen

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Gine Elsner, ehemalige Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt/Main), porträtiert drei jüdische Fachärzte…

Die Erforschung und die Diagnose von Berufskrankheiten werden heute im Wesentlichen von Arbeitsmedizinern betrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieser Zweig in Deutschland als „Sozialhygiene“ konzipiert worden. Pioniere dieser medizinischen Fachrichtung waren vor allem Ärzte jüdischer Herkunft. Sie untersuchten das ungleiche Auftreten von Erkrankungen und beleuchteten die Beziehung von Krankheit und sozialer Herkunft.

Mit der Vertreibung und Ermordung vieler jüdischer Mediziner in der NS-Zeit verschwand das Fach. Stellvertretend für diese vergessenen Ärzte werden nun die Biografien von drei Sozialhygienikern erstmals ausführlich dargestellt: Ludwig Ascher (1865-1942, deportiert und ermordet in Litzmannstadt/Lodz), Wilhelm Hanauer (1866-1940) und Ernst Simonson (1898-1974). Gine Elsner beschreibt ihre Lebenswege und ordnet ihre Leistungen für die heutige Arbeitsmedizin ein. (pm/jgt)

Gine Elsner, Verfolgt, vertrieben und vergessen. Drei jüdische Sozialhygieniker aus Frankfurt am Main: Ludwig Ascher – Wilhelm Hanauer – Ernst Simonson,  336 Seiten, 24,80 €, Bestellen?

Leseprobe

Nicht nur die Tuberkelbazillen und die Röntgenstrahlen wurden in Deutschland entdeckt, auch die Sozialhygiene war ursprünglich ein deutsches Projekt. Deutschland war nicht nur federführend in der naturwissenschaftlichen Medizin, sondern auch in einer sozialwissenschaftlich orientierten. Umso bedauerlicher also, wenn diese frühen Erkenntnisse verloren gehen und nichts an diese historischen Wurzeln erinnert.

Dabei war die Sozialhygiene nicht nur ein methodisch-sozialwissenschaftliches, sie war auch von ihren Maßnahmen her ein soziales Projekt. Ihr Untersuchungsgegenstand war die Ungleichheit von Krankheitsverteilungen, und ihr Ziel war somit, eine Gleichheit aller Menschen bei der Gesundheit herzustellen. »Die frühen Sozialhygieniker fingen das Neue ein, das am Rande der deutschen Universitätswissenschaft anbrandete. Sie erkannten die einzigartige Bedeutung der Gesundheit für die Gesellschaft, plädierten zunächst mit Fakten (nicht ideologisch) für unterprivilegierte Gesellschaftsschichten und forderten die Gleichstellung aller vor dem weitgefassten Phänomen Gesundheit. Sie entdeckten und feierten die Interdisziplinarität, das Miteinander und Nebeneinander der differentesten Methoden. Sie wollten Gesundheit … der ganzen Bevölkerung. Mit Statistik und Demographie in interdisziplinärer Verbindung mit Epidemiologie und Gesundheitsfürsorge stießen sie in der Gesundheitslehre das Tor auf in die Zukunft.«[1]

Begründet wurde die Entwicklung auch durch eine »Überfülle quantitativen Materials« in Deutschland – allerdings fehlte es zunächst an einer »soziologischen Durchdringung eben dieses Materials«.[2] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Statistik eine vollwertige akademische Disziplin. Die zweite Traditionslinie eröffneten die Verwaltungsbeamten, die sich statistischer Techniken bedienten und »riesige Mengen an Daten hervorbrachten«, um »das Wissen des Staats und somit auch seine Kontrolle über soziale Ressourcen zu verbessern«.

Mit der sozialen Hygiene entstand in Deutschland ein neues Wissenschaftsprojekt. Die Sozialhygieniker verließen methodisch das Experiment und verzichteten auf das Mikroskop. Unter Anwendung von sozialwissenschaftlichen und ökonomischen Theorie-Anteilen versuchten sie, neue theoretische Konzepte in die Medizinforschung einzubringen. Statistik statt Mikroskop – war ihr Credo.

Ein konsistentes Wissenschaftsgebäude entstand so allerdings nicht. Denn die Disziplin war hin- und hergerissen zwischen Ursachenforschung und angewandten Maßnahmen. Die Aussagen der frühen Sozialhygieniker ließen sich kaum als ein »geschlossenes, widerspruchsfreies und logisch durchgeformtes theoretisches Konzept darstellen« – schrieb Michael Regus 1975.[3] Die Sozialhygiene entwickelte sich vielmehr »als komplexes Bündel wissenschaftlicher Einsichten, praktischer Erfahrungen [und] politischer und sozialer Forderungen«. Wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung waren »neben den allgemeinen gesellschaftlichen Prozessen der Veränderung die eng damit verknüpfte Wandlung in der sozialen Lage der Ärzteschaft und die Zuspitzung der Situation unter den Armenärzten«. Trotz der Heterogenität der Konzeption ließen sich charakteristische Merkmale der sozialen Hygiene bzw. der sozialen Medizin beschreiben. Dabei handelte es sich vor allem um die Einsicht in die soziale Bedingtheit der Morbidität, »insbesondere bei massenhaft auftretenden Volkskrankheiten, sowie um die Reflexion der praktisch-sozialen Dimension der Medizin«, die in der Forderung nach sozialer Parteilichkeit der Medizin und des ärztlichen Handelns zum Ausdruck kam.

Ludwig Teleky, der in Österreich eine »Soziale Medizin« begründete und sie als »Soziale Hygiene« in Deutschland ab 1921 als preußischer Landesgewerbearzt und als Leiter der Düsseldorfer Sozialhygienischen Akademie fortsetzte, nannte die Aufgaben dieser neuen Disziplin:[4]

»[Die Aufgabe ist], die Einwirkungen sozialer und beruflicher Verhältnisse auf die Gesundheitsverhältnisse festzustellen und anzugeben, wie durch Maßnahmen sanitärer oder sozialer Natur derartige schädigende Einwirkungen verhindert oder ihre Folgen nach Möglichkeit behoben oder gemildert werden können … Ihre Aufgabe ist es auch anzugeben, wie die Errungenschaften der Hygiene und der klinischen Medizin jenen zugänglich gemacht werden können, die einzeln und aus eigenen Mitteln nicht im Stande sind, sich diese Errungenschaften zu Nutze zu machen.«

So die Ausführungen von Teleky im Jahr 1909. Als Jude in der NS-Zeit in die USA emigriert, konstatierte er, dass die soziale Hygiene bzw. die soziale Medizin in den angelsächsischen Ländern erst sehr viel später, nämlich erst in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Wissenschaftsdisziplinen relevant wurden.[5]

Die Mehrheit der deutschen Sozialhygieniker war jüdischer Abstammung. Und mit ihrer Vernichtung oder Vertreibung hörte die Sozialhygiene in Deutschland auf zu bestehen. Denn es gab nur ganz wenige Vertreter dieser Disziplin, die nichtjüdischer Herkunft waren.

Mit dem Sistieren der Sozialhygiene in Deutschland übernahmen andere Länder die Federführung. Vor allem in den angelsächsischen Ländern wurde die Forschungsrichtung aufgenommen. Deshalb sprechen wir heute von Pub­lic Health. In Großbritannien erhielt Thomas McKeown (1912-1988) 1945 den Lehrstuhl für soziale Medizin in Birmingham.[6] Er wurde zufällig der Lehrstuhlinhaber, denn niemand hatte sich für den Posten interessiert, sagte er. Aber McKeown wunderte sich nicht über dieses Desinteresse. »Schließlich wird von den Ärzten erwartet, dass sie sich im Wesentlichen mit der Diagnose und Behandlung von Krankheiten einzelner Patienten beschäftigen.«[7] Nachdem man den Ärzten diese Rolle zugesprochen habe, könnten sie nicht für die Gesunderhaltung oder für gemeindeorientierte nicht-personenbezogene Dienstleistungen verantwortlich gemacht werden.

McKeown plädierte für eine neue Definition der Rolle der Medizin. Diese solle so formuliert werden, »dass sie sowohl die Verhütung wie die Behandlung von Krankheit beinhaltet und sich damit zugleich auch der Wichtigkeit von personengebundenen wie von nicht-personengebundenen Diensten bewusst ist«.[8] Denn die Heilmaßnahmen, die ex post ergriffen würden, um die behindernden Auswirkungen von Krankheiten zu kompensieren, seien selten wirklich nützlich. Solche Maßnahmen verlängerten vielleicht das Leben um einige Jahre; jedoch verhinderten sie weder den Ausbruch einer Krankheit noch stellten sie den Patienten so weit wieder her, dass sein Leben eine normale Dauer und Qualität erlange.[9] Wirklich effektiv seien eigentlich nur drei Arztgruppen – sagte McKeown etwas provokativ: die Unfallchirurgen, die Zahnärzte und die Geburtshelfer.

Auf dem 119. Deutschen Ärztetag in Hamburg im Mai 2016 sprach Sir Michael Marmot (geb. 1945). Er leitet das Institut für Gerechte Gesundheit am University College London. Sein Forschungsinteresse gilt seit 40 Jahren den sozialen Determinanten von Gesundheit. Marmot hat sein ganzes berufliches Leben dem Einfluss der sozialen Bedingungen gewidmet, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, leben und krank werden. Als Präsident des Weltärztebunds ruft er die Ärzte auf, die Lebensbedingungen ihrer Patienten zu verbessern. »Wir müssen Anwälte der Benachteiligten sein«, fordert Marmot mit Bezug auf Rudolf Virchow. Mit einem besseren Zugang der Menschen zur Gesundheitsversorgung könne allein die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit nicht bewerkstelligt werden, sondern man müsse die sozialen Determinationen in den Blick nehmen.[10]

Mit seinem Grußwort auf dem Deutschen Ärztetag »löste der Präsident des Weltärztebunds bei den Delegierten Nachdenklichkeit und großen Beifall aus«.[11] Danach diskutierten die Ärzte aber zwei Tage lang ausschließlich über die ärztliche Gebührenordnung.[12]

Ausbildungsziel war [und ist] der kurativ tätige Arzt. »Das Ausbildungsziel der Universitäten [ist] nach wie vor der praktische Arzt und nicht der Medizinalrat.«[13] Ende des 19. Jahrhunderts formulierte es der berühmte Wiener Chirurg Theodor Billroth (1829-1894) ganz ähnlich:[14]

»Wenn die gesamte sociale Medizin durchaus in den Stundenplan der Mediziner hinein soll, so darf sie nicht mehr als zwei Stunden im Semester … einnehmen. Ein großes Interesse wird diese Disciplin dem Studenten nicht bereiten, der alle Hände voll zu thun hat, mit den Krankheiten des Individuums fertigzuwerden, und für die Praxis des Gemeindewohls ebenso wenig im Sinn hat wie für praktische Politik und Diplomatie.«

Denn wer sich mit der Ungleichheit von Krankheiten befasst, landet sehr schnell bei der Politik. Denn die Ungleichheit besteht meist darin, dass ärmere Bevölkerungsschichten häufiger von Krankheit befallen sind. So blieb es nicht aus, dass die meisten Sozialhygieniker politisch auf der linken Seite standen bzw. der Sozialdemokratie angehörten.

So unterschieden sich die meisten Sozialhygieniker nicht nur wegen ihrer religiösen Herkunft von vielen Ärzten ihrer Zeit, sondern auch wegen ihrer politischen Richtung. Denn die weitaus größte Mehrheit der Ärzte war konservativ, wenn nicht gar reaktionär, eingestellt: Sie waren Anhänger von Freikorps, Mitglieder in (schlagenden) Studentenverbindungen, sie waren national denkend, und fast die Hälfte der Ärzte trat später in die NSDAP ein.

Jedenfalls war klar, dass diese konservativen Ärzte nicht in der Lage sein würden, nach der NS-Zeit die Erinnerung an die Sozialhygiene der Weimarer Zeit zu bewahren und die Tradition fortzusetzen. Es musste also erst eine neue Generation heranwachsen. Die 68er-Studentengeneration fragte nach den Lücken in der Geschichte, die nicht thematisiert wurden. Erst ganz allmählich kam ans Licht, was verschwiegen wurde. Aufzudecken waren die Machenschaften der Täter im Nationalsozialismus, aber auch die »verschütteten Alternativen«, die mit den jüdischen Ärzten untergegangen waren.

Der derzeitige Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery (geb. 1952), Sohn eines britischen Offiziers, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland kam, beklagt, »dass die deutsche Ärzteschaft sich erst sehr spät gründlich und wissenschaftlich fundiert mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus beschäftigt hat«.[15] Deutsche Ärzte hätten »zumindest eine Mitschuld an der Verdrängung jüdischer Kolleginnen und Kollegen aus dem ärztlichen Beruf gehabt«. Deutsche Ärzte hätten das ärztliche Ethos an zentraler Stelle preisgegeben, indem sie das Individuum einem ideo­logischen Rassebegriff untergeordnet hätten. »Wir können nichts ungeschehen machen«, sagt Montgomery, »wir können aber die Erinnerung und die Lehre aus der Geschichte von Generation zu Generation weitergeben«.

Diesem Auftrag gemäß soll auch hier die Erinnerung an drei jüdische Ärzte bewahrt werden. Dabei gilt es, die Erinnerung an ihr ärztliches Tun wachzuhalten.

Bei der Beschäftigung mit dem Holocaust geht es immer auch um das Bemühen herauszufinden, was den plötzlichen Umbruch in der deutschen Gesellschaft zur Brutalität hin bewirkt hat. Denn der Holocaust begann ohne Befehl und ohne gesetzliche Grundlage. Wichtiger Gegenstand der NS-Forschung sei, so der Historiker Ulrich Herbert (geb. 1951), die Entscheidungsgebung zur Ermordung der Juden. Wer traf wann die Entscheidung? Herbert verweist darauf, »dass der Kriegseintritt der USA Hitler dazu veranlasst habe, in einer Rede vom 12. Dezember 1941 seine alte Drohung zu wiederholen, wenn es zu einem Weltkrieg käme, würde das die Vernichtung der Juden nach sich ziehen«.[16] Es sehe so aus – so Ulrich Herbert –, dass Hitler an jenem 12. Dezember das Signal zur Endlösung gegeben habe, das dann in der berüchtigten Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 umgesetzt worden sei. Es habe aber nicht den »einen, womöglich einsamen Entschluss gegeben, der alles in Gang brachte«. Der Holocaust war ein Prozess, »der sich über Monate hinzog«, eine »sukzessive, kumulative Radikalisierung«.

Die Vernichtungsmaschinerie in Kulmhof war bereits Anfang Dezember 1941 fertig. Arthur Greiser, der die Anordnung gab, wartete nicht auf die Rede Hitlers. Bereits am 5. Dezember 1941 wurden Juden aus der Nähe von Kulmhof hier ermordet.[17] Am 16. Januar 1942 wurde der erste Transport aus dem Ghetto Litzmannstadt nach Kulmhof zur Vernichtung deportiert. Das war vier Tage vor der Wannseekonferenz, auf der die Vernichtung der europäischen Juden geplant wurde. Welche gesellschaftlichen oder psychologischen Verhältnisse setzten die Vernichtung in Gang? Was bewirkte ein Umschlagen der Diktatur in ein Instrument der fabrikmäßigen Massenvernichtung? Einen förmlichen Befehl zur Einleitung der »Endlösung« gab es jedenfalls nicht.[18]

»Die Zeiten sind lange vorbei, da Historiker glaubten, man könne den Holocaust zurückführen auf eine einzelne Entscheidung Hitlers«, schreibt Nikolaus Wachsmann in seiner Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager.[19] »Stattdessen war der Holocaust die Kulmination eines dynamischen mörderischen Prozesses, vorangetrieben von zunehmend radikalen Initiativen von oben wie von unten.«

Die Vernichtung der Juden war eine »Angelegenheit der Gesinnung«, stellte Raul Hilberg fest, »nicht so sehr das Produkt von Gesetzen und Befehlen«.[20] Die Vernichtungsmaschine sei ein Aggregat aus gegenseitigem Verstehen, der Übereinstimmung und der Synchronisation gewesen. »Keine Behörde wurde allein mit der gesamten Organisation betraut.« Auch wenn ein bestimmtes Amt bei der Durchführung einer bestimmten Maßnahme eine federführende Funktion ausgeübt habe, »hat doch kein einzelnes Organ den gesamten Prozess geleitet oder koordiniert«. Die Vernichtungsmaschine sei ein mannigfacher und vor allem dezentralisierter Apparat gewesen.

Hannah Arendt sagte:[21] »Auschwitz hätte nicht passieren dürfen.« Auschwitz stehe als Synonym für den Holocaust, für das fabrikmäßige Ermorden der Juden. Diktaturen, Brutalitäten, Folter, Terror – die hätte es immer schon in der Geschichte der Menschheit gegeben; die hätte man den Deutschen verzeihen können – damit hätte man leben können. Aber der fabrikmäßige Mord an den Juden – so Hannah Arendt –, »der hätte nicht passieren dürfen«.

Die Ermordung der Juden ist das eigentliche Kernereignis des Zweiten Weltkriegs. »Es steht als Mirakel des 20. Jahrhunderts über uns.« Ulrich Herbert plädiert für eine »personenbezogene Forschung«. »Erst in dem Moment, wo man wie durch ein Vergrößerungsglas die Einzelvorgänge in einer bestimmten Region, in einer bestimmten Stadt, in einem bestimmten Dorf genauestens untersucht«, gewinne das Ganze eine neue Form der Realität. Aber in dem Maße, in dem eine Hinwendung zum Konkreten, zum Teil sogar zum explizit Theoriefernen stattfinde, ergebe sich auch: Alles stellt sich »noch viel furchtbarer dar, als wir annahmen«.[22]

So dient der hier vorliegende Text mindestens zwei Zielen. Zum einen: Die Entwicklung zum Holocaust darzustellen – anhand von drei jüdischen Ärztebiografien den Umbruch in der Gesellschaft aufzuzeigen, der zu Vernichtung oder Vertreibung führte. Zum anderen: das ärztliche Handeln dieser drei jüdischen Sozialhygieniker in der Erinnerung zu bewahren, um daran anzuknüpfen.

Es gilt aber auch drittens herauszufinden, welche gesellschaftlichen Konstellationen begünstigen, dass eine sozialwissenschaftlich orientierte Medizin entsteht, die sich mit der Ungleichverteilung von Krankheiten in der Bevölkerung befasst. So ist bei der Beantwortung der zuletzt gestellten Frage zu konstatieren, dass eine sozialwissenschaftlich orientierte Medizin nie unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen politischen Situation zu sehen ist. Rudolf Virchows Engagement für eine soziale Medizin fand zur Zeit der 1848er-Revolution statt. Die Begründung der eigentlichen Sozialhygiene ging Ende des 19. Jahrhunderts einher mit zunehmender Industrialisierung und mit dem Aufkommen einer erstarkenden Sozialdemokratie. Der Höhepunkt der sozialhygienischen Aktivitäten in der Weimarer Republik fand im Rahmen der Reformpolitik statt, die die Monarchie hinweggefegt hatte und die Republik begründete. In der Bundesrepublik tauchten die Fächer »Sozialmedizin« oder »Medizinische Soziologie« erst mit Beginn der sozialliberalen Koalition im Herbst 1969 auf. Die Verankerung dieser Fächer in einer Prüfungsordnung für Medizinstudenten führte zu ihrer Etablierung an den Universitäten. Sir Michael Marmot formulierte es so:[23]

»Sicher ist es für politisch eher links orientierte Bürger leichter, soziale Einflussfaktoren zu akzeptieren, während Konservative eher die Verantwortung des Individuums betonen.«

Zurzeit ist ein Niedergang dieser »sozialen« Fächer an den Universitäten zu verzeichnen. Diesbezügliche Lehrstühle werden nicht besetzt, und Institute werden geschlossen. Die Universitäten wollen sparen und andere medizinische Disziplinen begünstigen. Im Bereich der präventiven Medizin ist das soziologische Programm zurückgefahren worden.

Prävention ist gegenwärtig ein Projekt der individuellen Verhaltensänderung und der Veränderung von biologischen Parametern, die zu messen sind. Wenn dennoch Lehrstühle neu besetzt werden, so sind mindestens zwei Probleme auszumachen: 1.) Die Belange und Interessen eines etwaigen Stifters werden berücksichtigt. 2.) Die zu erforschenden Präventivmaßnahmen orientieren nicht auf gesellschaftliche Strukturen, sondern auf eine individuelle Verhaltensänderung.

So wurde eine Professur für Arbeitsmedizin an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena ausgeschrieben,[24] die zunächst für fünf Jahre von Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung finanziert werden soll. Nach dieser Zeit sei eine »Verstetigung« vorgesehen. Gesucht wird eine »Führungspersönlichkeit«, die auf dem Gebiet der medizinischen Prävention zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit (»Employability«) ausgewiesen sei. Doch jegliche Finanzierung einer Professur durch eine Versicherung – erst recht durch die arbeitgeberfinanzierte Unfallversicherung – muss als Problem gesehen werden, weil dabei immer ökonomische Aspekte der Versicherung mitthematisiert werden.

Das zweite Beispiel berücksichtigt eine Stellenausschreibung für eine Professur für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Johann-Gutenberg-Universität in Mainz.[25] Obwohl der Stelleninhaber die Medizinische Soziologie vertreten soll, orientiert die Ausschreibung auf psychologische Forschungsinhalte im Rahmen von Verhaltenssucht oder Psychotherapie. Die soziologische Analyse ungleicher Chancen bei Gesundheit oder Krankheit wird also nicht Gegenstand zukünftiger Forschung dieses Medizinsoziologen sein.

Die Orientierung auf das individuelle Verhalten kennt ein neues Zauberwort: Resilienz. Thomas Gebauer, Leiter der Hilfsorganisation medico international, leitet es aus der Werkstoffkunde ab: »Das Wort Resilienz beschreibt die Fähigkeit eines Werkstoffs, auf Störungen, die von außen auf ihn einwirken, unbeschadet zu reagieren.«[26] Resilienz sei zu einem »magischen Wort« geworden, das Katastrophen aller Art verhindern solle. Nichts spreche dagegen, die Widerstandsfähigkeit eines Menschen zu stärken, aber es werde absurd, wenn das Bemühen um Resilienz zur Rechtfertigung dafür herhalten müsse, »nichts mehr gegen die Ursachen von Krisen zu tun«.

Ludwig Ascher sprach auch von Widerstandsfähigkeit. Diese sah er als Folge der sozialen Lage. Und mit Verbesserung der sozialen Lage durch eine Änderung der gesellschaftlichen Strukturen fand er eine erhöhte Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten. Die neumodische Resilienz orientiert jedoch nicht auf soziale Strukturen, sondern auf das Verhalten des Individuums: In der Resilienzforschung geht es darum, wie Menschen sich individuell gegen Störungen von außen wappnen können, um sich der zerstörerischen Umwelt anzupassen. Nicht die Verhältnisse sollen geändert werden, sondern der Mensch.

Präventiv tätige ärztliche Protagonisten wie die Arbeitsmediziner begrüßen das 2015 verabschiedete Präventionsgesetz. Dieses ermöglicht die Gesundheitsförderung mit Rückenschule, Raucherentwöhnung oder Herz-Aktionstagen zulasten der Krankenkassen. Besonders glücklich sind Arbeitsmediziner darüber, dass das Präventionsgesetz »die Option [gibt], [diese Maßnahmen] kurativ zu ergänzen«. So gebe das Präventionsgesetz den Betriebsärzten neue Perspektiven: »Wir können zum Beispiel Impfungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchführen.«[27] Prävention beschränkt sich nun auf persönliche Maßnahmen, auf Anti-Raucherkampagnen, Anti-Alkoholkampagnen und Kampagnen zur gesundheitlichen Ernährung.[28]

Wenn sozial-präventive Fächer an den medizinischen Fachbereichen kaum noch gelehrt werden, wird der Medizinstudent nicht motiviert, sich später für diese Fächer und für diese Facharztpositionen zu interessieren. So gibt es zurzeit einen eklatanten Mangel nicht nur unter den Fachärzten für öffentliches Gesundheitswesen,[29] sondern auch unter den Fachärzten für Arbeitsmedizin.[30] Weder können Arztstellen in Gesundheitsämtern besetzt werden noch Stellen für Betriebsärzte. Es mangelt an arbeits- und sozialmedizinischem Know-how und an Kenntnissen über epidemiologische Forschungsmethoden.

Das Robert-Koch-Institut, ein Folgeinstitut des 1994 aufgelösten Bundesgesundheitsamts, schlägt Alarm. In einem Bericht »Gesundheit in Deutschland 2015« legt das Institut dar, »dass die Chancen auf ein gesundes Leben sehr stark von der Schichtzugehörigkeit abhängen. Materielle Armut und niedrige Bildung gehen mit einer Häufung chronischer Erkrankungen und geringerer Lebenserwartung Hand in Hand.«[31] Die soziale und wirtschaftliche Situation habe wesentlich Einfluss auf die Art und Häufigkeit von Erkrankungen sowie auf die Lebenserwartung. Sozioökonomisch benachteiligte Personen schätzten ihre Gesundheit schlechter ein als Menschen mit hohem Status. Frauen mit niedrigem Einkommen stürben im Schnitt fast acht Jahre früher als Frauen mit hohen Einkünften. Bei Männern betrage der Unterschied sogar elf Jahre. Angehörige unterer Schichten litten häufiger unter Depressionen, und sie führten auch die Statistiken für Herzinfarkte und Schlaganfälle an. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ergänzt mit einem Bericht über die gesundheitliche Situation der Kinder aus 16 deutschen Bundesländern. Danach ergaben soziale Ungleichheiten bei den Kindern Unterschiede in der körperlichen Gesundheit. »Die soziale Struktur des jeweiligen Landes wirkt potenzierend auf die gesundheitlichen Ungleichheiten«, sagt der Leiter des deutschen WHO-Studienarms.[32]

Da lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Es gilt, die frühen Sozialhygieniker aus dem Vergessen herauszuholen. Dazu soll das vorliegende Buch einen Beitrag leisten. Man braucht das Rad nicht immer neu zu erfinden.

Gine Elsner, Verfolgt, vertrieben und vergessen. Drei jüdische Sozialhygieniker aus Frankfurt am Main: Ludwig Ascher – Wilhelm Hanauer – Ernst Simonson,  336 Seiten, 24,80 €, Bestellen?

[1] Heinzelmann, W.: Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft, transcript Verlag, Bielefeld 2009, S. 26.

[2] Sheehan, J.J.: Die Verwendung quantitativer Daten in politik- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zur neueren deutschen Geschichte, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16: 1972, S. 584-614, hier: S. 584f.

[3] Regus, M.: Natur und Gesellschaft im Entwicklungsprozess der Medizin als Wissenschaft, in: Deppe/Regus 1975, a.a.O., S. 29-73, hier: S. 51.

[4] Teleky, L.: Die Entwicklung der Gesundheitsfürsorge. Deutschland – England – USA, Springer-Verlag, Berlin u.a. 1950, S. 3.

[5] Siehe auch Rosen, G.: Die Entwicklung der sozialen Medizin, in: Deppe/Regus 1975, a.a.O., S. 74-131, hier: S. 114-119.

[6] McKeown, Th.: Die Bedeutung der Medizin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1982, S. 18.

[7] Ebenda, S. 255.

[8] Ebenda, S. 256.

[9] Ebenda, S. 222.

[10] Korzilius, H.: »Ärzte sind die Anwälte der Armen«, in: Deutsches Ärzteblatt 113: 2016, S. C 1236f.

[11] Dies.: Gleiche Chancen, in: Deutsches Ärzteblatt 113: 2016, S. C 892.

[12] Möhrle, K.: Gemeinsam gegen wachsende Ökonomisierung in der Medizin, in: Hessisches Ärzteblatt Nr. 7/8: 2016, S. 392-398.

[13] Eulner 1970, a.a.O., S. 151.

[14] Ebenda, S. 144.

[15] Korzilius, H.: Die richtige Zeit, zusammenzukommen, in: Deutsches Ärzteblatt 112: 2015, S. C 1194f.

[16] Reif, A. (im Gespräch mit Ulrich Herbert): »Es ist viel furchtbarer, als wir annahmen«, in: Universitas 53: 1998, S. 383-396, hier: S. 392; Herbert, U.: »Niemand sollte überleben«, in: Die Zeit Geschichte Nr. 1: 2017, S. 98-103.

[17] Getto-Chronik 1941, S. 438.

[18] Mommsen, H.: Die dünne Patina der Zivilisation, in: Die Zeit vom 30.8.1996.

[19] Wachsmann 2016, a.a.O., S. 342.

[20] Hilberg 1999, a.a.O., S. 58.

[21] Hannah Arendt im Interview mit Günter Gaus 1964, a.a.O.

[22] Reif 1998, a.a.O., S. 384-387.

[23] Korzilius 2016, a.a.O., S. C 1236.

[24] Dekan der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Deutsches Ärzteblatt 113: 2016, H. 25 vom 24.6.2016.

[25] Wissenschaftlicher Vorstand der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-
Universität Mainz, in: Ebenda, H. 29-30 vom 25.7.2016.

[26] Gebauer, Th.: Fit für die Katastrophe, in: Chrismon Nr. 4: 2016, S. 48f.

[27] Gerst, Th.: Verband blickt optimistisch nach vorne, in: Deutsches Ärzteblatt 112: 2015, S. C 1383; siehe auch Schmitt-Sausen, N.: Arbeiten im Einklang mit Körper und Seele, in: Deutsches Ärzteblatt 113: 2016, S. C 20-22; Beerheide, R.: Stärkung der Mitarbeiter am Arbeitsplatz, in: Deutsches Ärzteblatt 113: 2016, S. C 1352f.

[28] Anonymus: Das Deutsche Gesundheitssystem könnte besser sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.11.2015.

[29] Reygers, H.: Der öffentliche Gesundheitsdienst: Von der Politik verdrängt, für die Daseinsvorsorge dringend nötig, in: Hessisches Ärzteblatt Nr. 10: 2016, S. 576f.

[30] Schoeller, A.: Arbeitsmedizin. Nachwuchsmangel zu befürchten, in: Deutsches Ärzteblatt 105: 2008, S. C 1348f.; dies.: Arbeitsmedizin. Trendwende beim Nachwuchs, in: Deutsches Ärzteblatt 111: 2014, S. C 1433f.

[31] Baumann, D./Sauer, St.: Geld hält gesund, in: Frankfurter Rundschau vom 4.12.2015; Saß, A.-Ch./Ziese, Th.: Lebenserwartung steigt. RKI legt Bericht »Gesundheit in Deutschland« vor, in: Hessisches Ärzteblatt Nr. 3: 2016, S. 175; Müller, A.-K./Neubacher, A./Sanga, M./Schmergel, C.: Das Schattenreich, in: Der Spiegel Nr. 11: 2016, S. 10-17.

[32] Richter-Kuhlmann, E.: Gesundheit von Kindern. Soziale Unterschiede sichtbar, in: Deutsches Ärzteblatt 113: 2016, S. C 228.