Jüdische Ausbildungsstätte, Hachschara-Camp, NS-Zwangslager – Gedenkort? …
Von Harald Lordick
Erschienen in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen, Heft 2/2017
Bild oben: Blick vom Turm des Gutshauses auf den Hof und den Bahnhof, Courtesy of the Leo Baeck Institute
Das Gut Neuendorf bei Fürstenwalde liegt in besonders schöner landschaftlicher Lage in der Nähe von Berlin … Das Gut verfügt neben einer großen Landwirtschaft und Gärtnerei über Werkstätten aller Art, so Tischlerei, Schlosserei, Stellmacherei. Die Unterbringungsmöglichkeiten sind angemessen und ausreichend, die Leitung liegt in besonders qualifizierten Händen: sozialpädagogische und auch sonst vorgeschulte Kräfte werden dem Betrieb eine gute soziale und jüdische Atmosphäre sichern.
So wurde 1932 die soeben eingerichtete jüdische Arbeiterkolonie Landwerk Neuendorf erstmals vorgestellt.(1) Sie war zunächst Resultat einer längeren Diskussion im Kreis der jüdischen Wanderfürsorge und insbesondere eines 1929/30 erfolgten ambitionierten Aufrufs, mit dem die neue, soeben fusionierte Zeitschrift für jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik (2) aufmachte: Der Appell „Aktion der deutschen Juden für Erziehung und Arbeit“ stellte die berufliche Ausbildung in den Mittelpunkt, sowohl hinsichlich der Modernisierung der jüdischen Jugendfürsorgeerziehung als auch bezogen auf die Wanderfürsorge. So zielte man einerseits darauf, junge Menschen, „die sich dem sozialen Leben … nicht ohne Schwierigkeiten einfügen können, … im Geiste neuzeitlicher Erziehung … einem freien, arbeitsamen Leben durch Arbeitsschule und Arbeitschulung“ zuzuführen. Und der „der Arbeit entfremdete Wanderer“ sollte „durch Einordnung in ein vorbildliches Heim und durch Arbeitsgewöhnung dem produktiven Leben wiedergewonnen werden.“(3)
Die Initiative zu diesem nur als Gemeinschaftsprojekt zu verwirklichenden Vorschlag war von der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge ausgegangen, und „ohne Unterschied der Partei“ hatten damals viele der relevanten jüdischen (Wohlfahrts-) Organisationen den Aufruf mitunterzeichnet: Gemeindebund, Central-Verein, Zentralwohlfahrtsstelle, die Zionisten, die Liberalen, die regionalen jüdischen Wohlfahrtsverbände. Während aber das jüdische Jugend- und Lehrheim Wolzig kurz darauf, am 28. November 1929 öffnete,(4) ließ die Gründung einer jüdischen Arbeiterkolonie noch zweieinhalb Jahre auf sich warten. Am 15. Juli 1932 konnte dann endlich das „Landwerk Neuendorf“ eröffnet werden. Die „Übernahme des Gutes“, das der jüdische Geschäftsmann Hermann Müller 1919 erworben hatte, gelang durch finanzielle Unterstützung des Preußischen Wohlfahrtsministeriums, des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden, der 1929–1931 45.000 Mark dafür aufbrachte,(5) und weiterer Landesverbände.
Man startete moderat, mit ca. 30 bis 40 Auszubildenden, um zunächst Erfahrungen zu sammeln und einen größeren Betrieb vorzubereiten. Da die Bewirtschaftung eines solchen landwirtschaftlichgärtnerischen Unternehmens mit 1500 Morgen Land natürlich auch Werkstätten für die Substanzerhaltung und den Eigenbedarf brauchte, war gleichzeitig auch die Basis gelegt, Arbeitslose in weiteren handwerklichen Berufen auszubilden und zu beschäftigen. Verantwortlich für das Gut war der mit Fachleuten besetzte Verwaltungsausschuss der Jüdischen Arbeitshilfe e. V. (Landwerk Neuendorf) in Berlin, dem Salomon Adler-Rudel, Alfred Berger, Max Kreutzberger, Arthur Lilienthal, Wilhelm Marcus und Bruno Woyda angehörten.
Freiwilliger Arbeitsdienst
Die Zielsetzung, die „‚Produktivierung langjähriger Erwerbsloser durch geregelte Arbeit‘ in der Landwirtschaft und verschiedenen handwerklichen Berufen“ (6) hatte sich unter dem Druck der Wirtschaftskrise allerdings ausgeweitet. Während in den ursprünglichen Konzepten eher ‚Problemgruppen‘ die Adressaten der geplanten Maßnahmen waren, in den Worten Max Kreutzbergers die „Resozialisierung langjähriger Erwerbsloser und völlig aus ihrer Bahn geworfener, insbesondere langfristig Wandernder“, (7) gehörten aufgrund der prekären Arbeitsmarktsituation und der überaus großen Jugendarbeitslosigkeit nun bald nach der Gründung der Arbeiterkolonie tatsächlich auch Jugendliche mit regulärem Schulabschluss und Ausbildung zur Zielgruppe. So stellte das Landwerk, äquivalent zu gesamtgesellschaftlichen Programmen, im Rahmen des sogenannten ‚Freiwilligen Arbeitsdienstes‘ Plätze für 50 jugendliche Arbeitslose in prekärer Lage aus allen Teilen Deutschlands bereit, die auch Abiturienten offen standen.
Nicht nur in Neuendorf, auch in Hamburg, Berlin oder München suchten die jüdischen Gemeinden nach Hilfsprogrammen und beteiligten sich am ‚Freiwilligen Arbeitsdienst‘. So bot etwa das Essener jüdische Jugendheim eine entsprechende Maßnahme an.(8) Und die Leipziger Gemeinde erschloss mit seiner Hilfe ihren neuen Friedhof, und konnte auch den historischen Begräbnisplatz renovieren: „Durch die Arbeiten, die wir im FAD ausführten, konnten wir dieses Denkmal der Leipziger jüdischen Geschichte in würdigen Stand versetzen.“ Zur Aufklärung und Unterstützung der Träger vor Ort erstellte die Berliner Hauptstelle für jüdische Wandererfürsorge und Arbeitsnachweise ein Merkblatt zum Freiwilligen Arbeitsdienst – offensichtlich sah man hier ein breites Anwendungsfeld und eine größere Nachfrage.
Der ‚Freiwillige Arbeitsdienst‘ war allerdings auch innerjüdisch umstritten, stand er doch bei manchen Parteien in einem politischen Kontext, der geradewegs die Einführung einer allgemeinen Arbeitsdienstpflicht als Ersatz für die in Deutschland verbotene Wehrpflicht anstrebte. Insbesondere Max Kreutzberger setzte sich intensiv und differenziert damit auseinander, und sah darin „eine Notmaßnahme“, die möglichst bald wieder überflüssig sein würde. „Man könnte leichten Herzens den FAD ablehnen, … wenn nicht die mehr als dringende Not von ca. 6 Millionen Arbeitslosen bald jedes Mittel, das sich nur irgendwie sinnvoll gestalten lässt, als Linderung begrüßenswert machte.“ (9) Andererseits sah Kreutzberger hierduch aber auch das konstruktives Potenzial, „eine umfassende jüdische und sozial-pädagogische Arbeit an der Jugend“ „in ganz anderem Umfang und mit ganz anderer Intensität durchzuführen, als es sonst von Jugendbünden und anderen jugendpflegerischen Einrichtungen realisiert wird.“(10)
Einig war man sich darin, dass der FAD über die Förderung der Persönlichkeit hinaus hinsichtlich Identität und jüdischer Bindung die positive Wirkung haben konnte, „Jugendliche, die durch die Not völlig entwurzelt und haltlos geworden, sich in bedenklichem Ausmaße dem Judentum zu entfremden drohen, durch die Zusammenfassung in eigenen Gruppen in ihrem jüdischen Zusammengehörigkeitsgefühl neu zu beleben und zu stärken.“(11)
Im Rahmen des FAD wurden in Neuendorf in dieser ersten Zeit insbesondere Landarbeiten zur Bodenverbesserung durchgeführt. Die teilnehmenden Jungen planierten, rodeten Wurzeln und gruben Ackerflächen um. Dass sie die „Fähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit“ mitbrachten, hatten sie bei ihrer Bewerbung durch ein ärztliches Untersuchungszeugnis nachweisen müssen.(12)
„Von den männlichen Jugendlichen werden in der Hauptsache Bodenkultivierungsarbeiten (Umwandlung eines 15 Jahre lang unbebauten Bodens in Gartenland) ausgeführt, aber auch sonst mangelt es nicht an Arbeit für die verschiedensten Berufe. Die Unterkunftsräume werden mit den vorhandenen Kräften hergerichtet und ausgestattet, wobei Maler, Tischler, Schlosser, Tapezierer sich in ihrem Berufe betätigen können. Für Fleischer, Schuster, Friseure, Schlosser und Tischler gibt es ständig Beschäftigung. Die Mädchen versehen die Hausarbeit. Daneben wird in reichlichem Umfange Sport getrieben, Kurse der verschiedensten Art zur Fortbildung in beruflicher und bildungsmäßiger Beziehung werden ständig abgehalten.“ (13)
1933 widmeten die Auszubildenden des Landwerks „seinem Mitbegründer und Förderer Herrn W. Marcus zum 50. Geburtstag“ ein Fotoalbum mit 61 Schnappschüssen – Marcus war der Repräsentant des jüdischen Handwerks in Deutschland. Das Album vermittelt ein breites Spektrum der Arbeiten: Handwerk in Schmiede und Stellmacherei, Bau und Reparatur der Stallungen und Scheunen, Viehwirtschaft mit Hühnern, Schweinen, Kühen und Pferden, manuelle Rodungsarbeiten, maschinelle Getreideernte mittels Mähbinder und Dreschmaschine, Milchwirtschaft, Heuernte, Pflanzenanbau, und gibt auch einen Eindruck von den Räumlichkeiten auf dem Gut.
Nicht sichtbar jedoch wird in diesen Bildern die den schwierigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschuldete Depression der Jugendlichen, die keineswegs mehr nur eine wirtschaftliche war, und die aus der Schilderung des Ausbilders Kurt Lichtensteins hervorgeht: „Nur sehr wenige Jungen kommen in das Lager, um sich auf einen neuen Beruf vorzubereiten. Viele sind mit ihrem Beruf nicht zufrieden. Nur sehr wenige haben aber ein festes Ziel einer Berufsumbildung. Ist es Mutlosigkeit? Ist es die klare Erkenntnis, dass es gleichgültig ist, welchen Beruf man erlernt hat; daß fast keiner von ihnen eine Chance hat, jemals richtige, anständige, voll bezahlte Arbeit zu bekommen? Immer wieder fragen die Jungen: „Was wird mit uns nach den 20 Wochen? Sollen wir wieder stempeln gehen? Sollen wir unseren Eltern, die sich selbst kaum durchhungern können, weiter zur Last fallen?“ (14)
Nach nur sechs Wochen konnte bereits eine positive Zwischenbilanz gezogen werden, wurde von den „ausgezeichneten Erfahrungen“ berichtet: „Das zuständige Arbeitsamt habe Neuendorf als Musteranstalt bezeichnet und die Zuweisung weiterer Arbeitsdienstwilliger und die Ausgestaltung des Betriebes als Führerschule für den FAD angeregt.“ (15)
Nach dem Umbruch 1933 – Berufsumschichtung und Hachschara
Die Machtübergabe an den NS 1933 änderte die Situation schlagartig und dramatisch. Auswanderung war „über Nacht einziger Ausweg für einen nicht unwichtigen Teil des deutschen Judentums geworden“. „Palästina“ wurde „für breite Schichten, insbesondere aber für die jüdische Jugend, die einzige Hoffnung und der einzige Ausweg.“(16) Eine geeignete, handwerkliche Berufsausbildung galt dafür als entscheidendes Kriterium. So stand nun mit besonderer Dringlichkeit die sogenannte ‚Berufsumschichtung‘ auf dem Programm.
Dass es in dieser Situation schon überregionale Lehr- und Wirtschaftsbetriebe gab, die „Bewerbern aus dem ganzen Reich“ offenstanden, war nun sehr hilfreich. „Einrichtungen wie Ahlem, Landwerk Neuendorf, Hattenhof, sowie die neu geschaffenen Ausbildungsstätten Wilhelminenhöhe, Groß-Gaglow haben für die Berufsumschichtung ihre besondere Bedeutung erlangt.“ (17) So bezuschusste später beispielsweise die Provinzialstelle für jüdische Wirtschaftshilfe Westfalen die Ausbildung von Hans und Herbert Gumpel mit einem monatlichen Beitrag. Die beiden aus Lemgo stammenden Jugendlichen waren 1936 mit ihrer Frankfurter Hechaluz-Gruppe komplett nach Neuendorf gegangen. Ihr Bruder Kurt war ebenfalls in Neuendorf in Ausbildung: „Als Landwirt durchaus geeignet“, bescheinigte man ihm – „einer unserer besten Praktikanten, den man ohne Weiteres mit jeder Arbeit betrauen kann“. (18)
Ausbildung der jüdischen Jugend für das Handwerk, für die Landarbeit, Berufsumschichtung – waren ideologisch aufgeladenene Forderungen, die immer wieder seit Beginn des 19. Jahrhunderts im öffentlichen und vor allem auch im innerjüdischen Diskurs aufgekommen waren. Dass es ohnehin einen substanziellen Anteil an jüdischen Arbeitern und Handwerkern gab, wurde dabei gelegentlich übersehen. Seit 1908 existierte ein Zentralverband jüdischer Handwerker mit Lokalvereinen in zahlreichen Städten Deutschlands. (19)
Eine spezifische Ausprägung hatte in diesem Zusammenhang die in Rußland um 1900 entstandene zionistische Hechaluzbewegung. Ideal des Hechaluz war der Aufbau einer neuen jüdischen Gesellschaft – er zielte auf die konkrete, praxisbezogene berufliche und auch kulturelle Ausbildung (Hachschara) jugendlicher Pioniere (Chaluzim) als Vorbereitung für ihr Leben in Palästina. Im Gegensatz zu bloßer ‚Berufsumschichtung‘ mit ungewissen Aussichten in Deutschland war das Konzept des Hechaluz nun deshalb so überzeugend, weil er ein Gesamtprogramm integrierte, jüdische Erziehung und Identität sowie wirtschaftliche Notwendigkeit mit einem klaren Zielpunkt verband – der Einwanderung („Alija“, „Aufstieg“) nach Palästina und dessen konstruktive Entwicklung. Die Zahl der Hechaluz-Mitglieder stieg deshalb sprunghaft an – im Sommer 1933 hatte sich die Mitgliederzahl schon von 600 (1932) auf 4.500 vervielfacht –, und das Landwerk Neuendorf stand seitdem vor allem in diesem Kontext. 1936 zählte man „etwa 5000 Menschen auf Hachscharah“. (20)
Zu diesem Zeitpunkt gab es in Neuendorf ca. 150 Auszubildende. Das Ausbildungsgut „Jüdische Arbeitshilfe e. V. (Landwerk Neuendorf)“ war organisatorisch seit 1. April 1935 gemeinsam mit der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge und der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden e.V. in die Reichsvertretung eingegliedert. (21) Auch für die Programme der Jewish Colonisation Association (ICA), die ab 1935 jüdische Familien in Argentinien ansiedelte, stellte das Gut zusätzliche Plätze bereit. Jeweils zwei Familienmitglieder der ausgewählten Familien mussten zur Vorbereitung und zum Nachweis ihrer grundsätzlichen Eignung an einer landwirtschaftlichen Schulung teilnehmen. (22) Diese Möglichkeiten wurden intensiv genutzt: „Da die Plätze in Neuendorf für die wachsende Zahl der zu einer Vorschulung entsandten Familienmitglieder nicht ausreichten – trotz der Errichtung einer besonderen Wohnbaracke für 34 Personen –, wurden auch im Lehrgut Groß-Breesen Anwärter für die argentinischen ICA-Siedlungen vorgeschult. Im Jahre 1937 unterzogen sich auf beiden Plätzen 161 Personen diesem Training.“ (23) Zu den unterschiedlichen, keineswegs homogenen parallelen Gruppen und Nutzungen des Gutes gehörte auch der Plan, die Friedhofsgärtnerei der Berliner jüdischen Gemeinde, die selbst nun ebenfalls der Berufsumschichtung diente, aus Platzmangel auf dem Gut Neuendorf unterzubringen. (24) Gegen die Tendenz, dass eher nur zionistisch orientierte oder aber unterstützungsbedürftige Jugendliche an den Kursen teilnahmen, plädierte Georg Josephthal dafür, dass auch bürgerliche Kreise sich beteiligen sollten, und hielt gerade die „großen Berufsausbildungsgemeinschaften mit mannigfaltiger Ausbildungsmöglichkeit“ wie etwa Neuendorf als dafür besonders geeignet. (25)
Die Stellung des NS-Regimes zur jüdischen Berufsausbildung und Berufsumschichtung war von Beginn an widersprüchlich. Einerseits wurde sie gefördert oder geduldet, weil sie die Auswanderung unterstützte und damit den NS-Zielen entsprach; andererseits fielen viele solcher Initiativen willkürlichen lokalen antijüdischen Restriktionen zum Opfer. So stand die Ausbildung während der NS-Zeit immer wieder neuen Herausforderungen und Krisensituationen gegenüber, und litt unter der zunehmenden Verfolgung und Unterdrückung und den daraus resultierenden widersprüchlichen Entwicklungen.
Jüdische Jugendliche waren spätestens 1936 von jeder Form landwirtschaftlicher Ausbildung oder Tätigkeit ausgeschlossen; sie konnte nur in den wenigen jüdischen Einrichtungen erfolgen. Während durch die Herausdrängung der Juden aus dem gesamten Wirtschaftsleben die Nachfrage nach Stellen stetig zunahm, wurden gleichzeit durch die Ausplünderung und zunehmende Verarmung die Mittel für die Einrichtung solcher Stellen bzw. auch für die Teilnahme an Maßnahmen immer knapper. (26) Entsprechend konnte sich 1938 das Inserat freiwerdender Plätze im Lehrgut Neuendorf zur landwirtschaftlich-gärtnerischen Ausbildung von Jungen sowie Mädchen in Haushalt, Geflügelzucht und Milchwirtschaft zunächst nur an „Selbstzahler“ richten. (27) Als im gleichen Jahr 145 Hektar Land zur Erweiterung des angrenzenden Neuendorfer Flugplatzes abgegeben werden mussten, (28) verlor das Landwerk wohl annähernd die Hälfte seiner Wirtschaftsfläche. Die Novemberpogrome 1938 hatten allgemein eine weitere dramatische Verschlechterung der Ausbildungsmöglichkeiten und einen drastischen Einschnitt hinsichtlich der Zahl an verfügbaren Ausbildungsplätzen zur Folge.
Das Landwerk Neuendorf hat zahlreichen Menschen das Überleben der NS-Zeit ermöglicht. Zwischen 1932 und 1938 gingen die Jugendlichen nach Abschluss der Ausbildung in Neuendorf mehrheitlich nach Palästina, viele aber auch nach Argentinien und in alle Welt. (29)
Zwangslager
1941 verbot das NS-Regime die Berufsausbildung für Juden grundsätzlich und schloss die wenigen noch bestehenden Hachschara-Einrichtungen. Neuendorf wurde Zwangslager und diente nun der Ausbeutung: „Umgestellt auf ‚Arbeitseinsatzbetrieb‘“, hieß es knapp. (30) Jugendliche aus Ahrensdorf, Jessen und anderen Hachschara-Stätten wurden nach Neuendorf verbracht. (31) In der umliegenden Gegend, in Fabriken in Fürstenwalde und in der Landwirtschaft, missbrauchte man sie als Zwangsarbeiter – und das Gut Neuendorf wurde Sammellager für Deportationen.
Zu den jüdischen Jugendlichen, die in Neuendorf Zwangsarbeit leisten mussten, gehörte auch der spätere Fernsehmoderator Hans Rosenthal. Seine Familie hatte nach den Novemberpogromen intensiv über Auswanderung nachgedacht und in diesem Zusammenhang den fünfzehnjährigen Sohn zur Hachschara in das Lehrgut Jessen (Niederlausitz) geschickt. Nach dessen Zwangsauflösung 1941 wurde Hans Rosenthal in das Neuendorfer Lager verlegt und musste in der Umgebung Zwangsarbeit leisten: auf dem städtischen Friedhof im nahegelegenen Fürstenwalde sowie bei Bauern im Dorf Buchholz. (32) Rosenthal überlebte schließlich mit viel Glück die NS-Zeit unter abenteuerlichen und lebensbedrohenden Umständen, von hilfsbereiten Menschen versteckt und beschützt, in der Berliner Kleingartenkolonie „Dreieinigkeit“.
Die Briefe von Clara Grunwald und die Herbst 1945 nach ihrer Flucht von einem Todesmarsch verfassten Erinnerungen von Ora (Anneliese) Aloni-Borinski, (33) Mitglied einer eng zusammenhaltenden Hechaluz-Jugendgruppe, vermitteln ein erschütterndes Bild jener Zeit in Neuendorf. Jederzeit drohte die eigene Deportation, immer wieder gab es Abtransporte, in den Briefen Clara Grunwalds als ‚Umzug‘, ‚Abreise‘, ‚Wanderung‘, ‚fortgefahren‘ oder ‚evakuiert‘ chiffriert. Offen war dies unter der ständigen Beobachtung und Kontrolle nicht auszusprechen, und der jüdische Leiter Martin Gerson hatte zur Vorsicht gemahnt. (34) Auch etliche Kinder waren nun in Neuendorf, betreut und unterrichtet von der Montessori-Pädagogin Clara Grunwald.
Dass sie überhaupt in dieser Zeit dort noch blieben, entsprach zynisch-nüchternem NS-Kalkül. Denn sobald „genügend russische Kriegsgefangene zur Verfügung standen, um den Landwirtschaftsbetrieb … allein zu übernehmen, wurden die Vorbereitungen zum Abtransport der dortigen Juden begonnen.“ (35) Und wenn die Forstverwaltung doch noch Arbeitskräfte brauchte, gab es einen kurzen Aufschub. März 1942 bis April / Juni 1943 wurden die Bewohner gruppenweise in die Vernichtungslager deportiert.
Der letzte Transport umfasste fast alle jüdischen Bewohner, 60 Jugendliche und 30 Erwachsene – zu ihnen gehörten auch Clara Grunwald und Ora Aloni-Borinski:
„Am 7. April kommen die Listen … Jeder bekommt seine Nummer. Die erste in dieser langen Reihe der Nummern, die für uns eine Zeit lang den Namen und alles andere Persönliche ersetzen mußten. Die Kontrollen setzen ein, Geld und Wertsachen müssen abgegeben werden. Vordrucke werden unterzeichnet, in denen steht, daß wir uns staatsfeindlich betätigt haben, daß wir deshalb zur Aussiedlung kommen und unser gesamtes Besitztum in die Hände des deutschen Reiches übergeht.“ (36)
Jüdisch, also ‚staatsfeindlich‘ – so einfach und perfide war das. Am 8. April wurden sie in das Sammellager Große Hamburger Straße in Berlin gebracht, am 19. April 1943 nach Auschwitz deportiert und viele von Ihnen dort ermordet. Martin Gerson deportierte man mit seiner Familie nach Theresienstadt – auch die Gersons wurden später in Auschwitz ermordet.
Gedenkort
Orte wie Neuendorf erinnern an den Holocaust. Sie erinnern auch an den unermüdlichen Einsatz, mit dem jüdische Organisationen unter der NS-Verfolgung sozialfürsorgerische Strategien und Maßnahmen entwickelten, Selbsthilfe aktivierten, die letztendlich vielen Juden halfen, zu flüchten und zu überleben. Seine Geschichte ist kaum bekannt, doch nach Größe, Vielfalt und der vergleichsweise langen Betriebsdauer hat das jüdische Landwerk Neuendorf einen besonderen Stellenwert. Die Ausbildung, die die Jugendlichen dort erhalten hatten, war im Wortsinne lebensnotwendig. Die Hoffnungen ihrer Eltern waren mit diesem Ort verknüpft, und die Schicksale der Kinder und ihre vielfältig überlieferten Erinnerungen bleiben es.
Das Haupthaus des Gutes, nach einem Brand wieder aufgebaut, dient seit den 1950er Jahren als Mehrfamilienhaus, ebenso weitere Gebäude auf dem Grundstück. Eine Gedenktafel und wiederholte Ausstellungen erinnern an das jüdische Landwerk. Aktuell steht das „in Teilen denkmalschutzgeeignete“ Areal zum Verkauf. Ob seine Geschichte dabei genügend Beachtung finden wird? (37)
Update 14.09.2017: Zwei aktuelle Fotos ergänzt, „Gedenktafel“ sowie „Baracke“.
Anmerkungen
1. Landwerk Neuendorf, Zeitschrift für jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik (ZJWS) 3 (1932), S. 257–260.
2. Zeitschrift für jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik. Zeitschrift der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge und Arbeitsnachweise. Jahrgang 1, Neue Folge 1930.
3. Ebd., S. 1f.
4. Claudia Prestel: Jugend in Not, Wien 2003, S. 314.
5. Max P. Birnbaum: Staat und Synagoge – 1918–1938, Tübingen 1981, S. 193.
6. Salomon, Adler-Rudel: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933–1939, Tübingen 1974, S. 58f.
7. Max Kreutzberger: Freiwilliger Arbeitsdienst und seine Auswertung durch die jüdische Gemeinschaft, Leipziger jüdische Wochenschau 6 (1933), Nr. 6 (10. Februar), S. 1-2.
8. Vgl. Harald Lordick: Jüdische Jugendheime, in: Jüdische Jugendbewegung und soziale Praxis. Frankfurt 2017, S. 175–196, hier S. 185f.
9. Max Kreutzberger: Zum Problem des Freiwilligen Arbeitsdienstes, ZJWS 3 (1932), S. 268.
10. Ebd., S. 269.
11. Anni Samuelsdorff: Grundsätzliches zum weiblichen freiwilligen Arbeitsdienst, ZJWS 4 (1933/34), S. 32.
12. Ärztliches Merkblatt für Bewerber zur Aufnahme in das Landwerk Neuendorf, LBI William Nussbaum Collection.
13. Kreutzberger: Freiwilliger Arbeitsdienst, S. 2.
14. Kurt Lichtenstein: Das jüdische Arbeitslager in Neuendorf, ZJWS 4 (1933/34), S. 37.
15. Alfred Berger (1891–1940) zum FAD in einer Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Preußischen Landesverbandes am 28. August 1932; Birnbaum, S. 204.
16. Max Kreutzberger: Jüdische-Soziale Arbeit heute!, ZJWS 4 (1933/34), S. 92, S. 94.
17. Adler-Rudel: Berufsumschichtung als Ausweg? (Problematik, Organisation, Erfahrungen, Möglichkeiten), ZJWS 4 (1933/34), S. Seite 113ff, hier Seite 122.
18. Andreas Lange, Jürgen Scheffler (Hg.): Auf den Spuren der Familie Gumpel, Bielefeld 2016, S. 21. Der Band enthält die erwähnte Bescheinigung sowie drei Neuendorfer Fotos, zwei davon zeigen Kurt mit seiner Hachschara-Gruppe 1937–1939.
19. Vgl. Kalonymos 17 (2014), 4, S. 11.
20. Hilde Landenberger: Die soziale Funktion der jüdischen Jugendbewegung, ZJWS 6 (1936), S. 99–106, S. 103.
21. Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 13 (1935), Nr. 7, S. 267.
22. Paul Eppstein: Möglichkeiten und Grenzen der Gruppenwanderung, ZJWS 8 (1938), S. 153.
23. Adler-Rudel: Selbsthilfe, S. 106.
24. Jüdisches Gemeindeblatt Berlin, 24. Mai 1936, S. 3.
25. Georg Josephthal: Pädagogische und auswanderungspolitische Gesichtspunkte des jüdischen Berufsbildungswerks in Deutschland, ZJWS 8 (1938), Nr. 1, S. 7.
26. Vgl. Adler-Rudel, Selbsthilfe, S. 55ff.
27. Jüdisches Gemeindeblatt Frankfurt, Nr. 4, Januar 1938, S. 14.
28. Ausstellung Landwerk Neuendorf – Jüdisches Hachschara- und Zwangsarbeitslager Neuendorf im Sande 1932– 1943, 21. Mai – 01. Juli 2016, S. 2.
29. Nach der Zählung des United States Holocaust Memorial Museum gingen 689 der 1182 Absolventen nach Palästina und 253 nach Argentinien; Francis R. Nicosia: Zionism and Anti-Semitism in Nazi Germany, Cambridge 2008, S. 222.
30. Mitteilung an das ‚Reichssicherheitshauptamt‘, zit. in: Ruth und Herbert Fiedler: Hachschara. Vorbereitung auf Palästina. Schicksalswege, Potsdam 2004, S. 22.
31. Herbert Fiedler: Auf Hachschara in Ahrensdorf – eine Brüche zum Leben, in: Irene Diekmann (Hg.): Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, S. 372–380.
32. Hans Rosenthal: Zwei Leben in Deutschland, Bergisch-Gladbach 1982, S. 39–48.
33. „Und doch gefällt mir das Leben“ – Die Briefe der Clara Grunwald 1941–1943, Mannheim 1985 sowie Ora Aloni-Borinski: Erinnerungen 1940–1943, Nördlingen 1970.
34. Grunwald, S. 54.
35. Clotilde Schenck, in Grunwald S. 94.
36. Aloni-Borinski, S. 41.
37. Zur Diskussion darüber siehe Lior Oren: Save Neuendorf, lioren.com/wp/
LESETIPP:
Die Ausbildungsstätte des Hechaluz auf dem Brüderhof bei Harksheide