Grenzwertig

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Das Genossenschaftsdorf Netiv HaAsara war Teil des Siedlungsblocks Yamit im israelisch besetzten Sinai. Nachdem Israel die Halbinsel 1982 räumte, wurde Netiv HaAsara auf einem Hügel nördlich der Grenze zum Gazastreifen neu errichtet. 70 Familien fanden landschaftliche Idylle und klimatisch ähnliche Bedingungen wie im Sinai vor. Sie betrieben Landwirtschaft und fuhren für Besorgungen nach Gaza…

Von Oliver Vrankovic, der Kichererbsen Blog

Wie überall im Grenzgebiet von Gaza und landeinwärts waren in Netiv HaAsera Palästinenser aus dem Küstenstreifen beschäftigt und nicht wenige jüdisch-palästinensische Bekanntschaften resultierten in gegenseitige Einladungen zu Hochzeiten.

Zameret

Zameret stammt aus dem Kibbutz Zikim, unweit von Netiv HaAsara, direkt am Meer. Sie erinnert sich, wie sie oft mit palästinensischen Arbeitern aus dem Küstenstreifen im Stau Richtung Tel Aviv gestanden habe. Der Umgang sei selbstverständlich gewesen, sagt sie und als sie 2000 von Zikim nach Netiv HaAsara zog, wurde ihr Haus von Palästinensern gebaut und von ihrer Veranda sah sie direkt auf die wenige Hundert Meter entfernten Häuser am Stadtrand von Beit Lahia. Seit 2000 hört Zameret fünf Mal am Tag die Muezzine zum Gebet rufen.

Die Zeit war von der Hoffnung auf Frieden geprägt. Premierminister Barak, bot den Palästinensern einen eigenen Staat auf dem Silbertablett an. Auf 97% der Westbank (plus Gebietskompensation) und Ostjerusalem als Hauptstadt. Doch die Palästinenser unter Arafat entschieden sich gegen die Etablierung eines eigenen Staates.

Statt Frieden brach wenige Wochen nachdem das Haus von Zamerets fertig war die zweite Intifada aus und Zameret fand sich mit ihrer Familie und den weiteren Bewohnern im südlichen Neubaugebiet von Netiv HaAsara im Visier palästinensischer Scharfschützen. Es gebe in ihren Augen keine Rechtfertigung für die mörderische Gewalt, die von den Palästinensern während der zweiten Intifada entfesselt wurde, sagt Zameret. Mit dem Weg, den die Palästinenser mit der zweiten Intifada eingeschlagen hätten sei sie absolut nicht einverstanden.

2004 entschloss sich Premierminister Ariel Sharon die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen zu räumen und alle israelischen Truppen abzuziehen. Eine absolute Mehrheit der Israelis unterstützte den Rückzug, der unter den Vorzeichen stand, Land für Frieden zu tauschen. Netiv HaAsara wurde der am Nächsten zu Gaza gelegene israelische Ort. Sie sei eine große Unterstützerin des Abzugs gewesen, sagt Zameret und gibt zu, dass sie sich sicher war, dass die Palästinenser nach Ende der Besatzung friedliche Nachbarn sein würden.

Im November 2005 wurde ein Haus in Nativ HaAsara von einer Kassam Rakte getroffen. Einige Monate vorher wurde eine 22jährige Brasilianerin, die zu Besuch im Moshav war, auf einem Balkon von einer Rakete getötet. 2007 wurden fast 3000 Raketen und Mörsergranaten aus dem Gazastreifen auf die israelischen Ansiedlungen im Grenzgebiet abgefeuert. Der Dauerbeschuss belastete den Alltag. Dazu kam der vereitelte Versuch von zwei palästinensischen Terroristen sich nach Netiv HaAsara zu schleichen. In den Medien aber, so erinnert sich Zameret, sei der Wahnsinn zunächst kaum thematisiert worden. Das Desinteresse habe ihr zu Denken gegeben, sagt Zameret. 2008 verschärfte sich das Dauerfeuer und begann auch ins Bewusstsein der israelischen Öffentlichkeit zu gelangen. Als der Beschuss gegen Ende des Jahres eine beispiellose Intensität erreichte, startete Israel die Militäroperation “Gegossenes Blei”

Nach einer mehrere Monate dauernden Ruhephase nach Ende der Militäroperation ging der Wahnsinn von Neuem los. Ab 2010 war Bombenalarm Teil des Alltags. Im März 2010 tötete eine Granate einen thailändischer Gastarbeiter des Moshav. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurde das Grenzgebiet mit Hunderten Raketen und Mörsergranaten belegt. Im November startete das israelische Militär die Operation Wolkensäule.

Als nach Abzug der Israelis aus Gaza der Raketen- und Granatenterror einsetzte, wurden am Südrand von Netiv HaAsara hohe Mauern gezogen, um palästinensischen Scharfschützen die Sicht zu nehmen. Seither ist auch das Blickfeld, dass sich von Zamerets Veranda eröffnet, verbaut.

Vor etwa vier Jahren entschloss sich Zameret etwas gegen das triste Grau vor Augen und ihre Angst im Inneren zu tun. Sie begann die 9 Meter hohe Sichtblende aus Beton in hoffnungsvollen Farben anzumalen. Und sie bemerkte, wie sie ihre Angst in Kraft und Optimismus überführte. Viele andere Bewohner des Moshavs wurden inspiriert die Erscheinung der Mauer zu verändern. Bald wurde aus der Malaktion eine Mosaikschöpfung, an der sich immer mehr Menschen beteiligten. Die Abwehrmauer wurde zum Anziehungspunkt. „Der Pfad zum Frieden“, der sich auf beiden Seiten der Mauer befindet, wurde von der Berufung zum Beruf von Zameret, die Gruppen aus ganz Israel und dem Ausland empfängt um das Mosaik weiterzuentwickeln. Jeder Besucher, der auf dem Pfad ein Keramikstück anbringt beschreibt dieses zuvor in der Werkstatt von Zameret mit einer persönlichen Friedensbotschaft auf der Rückseite. Der „Pfad zum Frieden” wurde zum Symbol der Hoffnung.

Auf der Gaza zugewandten Seite der Mauer schrieb Zameret unlängst ein weithin sichtbares Salam auf Arabisch. Um der anderen Seite zu zeigen, dass den Israelis an einer friedlichen Zukunft gelegen ist.

Einige Wochen, nachdem sie den “Pfad zum Frieden” begann, wurde ihr Optimismus auf eine harte Probe gestellt. Die Spannungen in Gaza eskalierten. Raketen- und Mörserbeschuss erreichten eine nicht dagewesene Intensität. Israel startete die Operation „Schutzlinie“.

Eine Horrorvorstellung, die Zameret im Zusammenhang mit der Operation Schutzlinie nicht mehr aus dem Kopf geht ist der Infiltrationsversuch von Froschmännern der Hamas am Strand von Zikim während der militärischen Auseinandersetzung 2014. Das Bild von aus dem Wasser auftauchenden Terroristen überlagert seither ihre tausend Kindheits- und Jugenderinnerungen an den Strand.

Zudem teilt Zameret mit allen anderen Bewohnern der Grenzregion den Albtraum aus dem Boden kommender Terroristen. Von der höchsten Erhebung des Moshav zeigt sie zu beiden Seiten auf jeweils von der Armee abgesperrte Areale in denen Tunnelöffnungen entdeckt wurden. Rund um Netiv HaAsara führt ein mit niedriger Spannung belegter elektrischer Zaun, der jede Berührung sofort meldet. Rein und Raus geht es nur durch das bewachte Tor.

Während der Militäroperation 2014 wurden Zameret und ihre Familie eines Nachts von einer ohrenbetäubend lauten Explosion aus dem Schlaf gerissen. Der Knall verfolge sie alle bis heute, gibt Zameret zu. Die Druckwellen ließen die Fensterscheiben bersten. Panik erfasste sie und der Gedanke, dass ihr Haus getroffen wurde. Tatsächlich war hatte eine Grad Rakete den zweiten Stock des benachbarten Hauses völlig zerstört. Überall hätten Betonteile gelegen und die Familie floh Hals über Kopf nach Ramat Gan ins Landesinnere.

2014 feuerte die Hamas mehrere Raketen Richtung Tel Aviv und Jerusalem. Damit hätten die Menschen in den Ballungsgebieten einen leisen Eindruck davon bekommen, wie es sich unter Dauerbeschuss lebt, sagt Zameret. Allerdings, so fügt sie an, hätten Raketenalarm und 90 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen, nicht viel mit der Erfahrung eines Sperrfeuers aus Granaten zu tun. Der erste Granateinschlag falle oft mit dem Ertönen der Sirenen zusammen. Raketen würden oft abgefangen, doch die Neugier sich die Abschüsse anzuschauen, sei im Gegensatz zum Landesinneren ein Lotteriespiel. Wo Iron Dome nicht jeden Raketeneinschlag verhindern kann, müssen die Bewohner bei jedem Alarm in Deckung gehen. Lebensgefahr als Dauerzustand. Ein Einschlag in einem Haus in Kiriat Malakji forderte im November 2014 drei Menschenleben.

Seit dem Raketenhagel müssen die Neubauten in Netiv HaAsara bombenfest sein, bestehende Häuser wurden so renoviert, dass Teile des Hauses bombenfest sind. Der Kindergarten wurde komplett bombensicher gemacht. Am Straßenrand steht alle Hundert Meter ein Betonverschlag.

Im September 2015 durchschlug die Kugel eines palästinensischen Scharfschützenfeuer das Fenster eines Hauses in Netiv HaAsera und zerstörte einen Fernseher vor dem zwei Kinder saßen.

An einer Stelle die als Neubaugebiet ausgewiesen ist zeigt Zameret auf eine Reihe von Bäumen, die jüngst gepflanzt wurden um auf den Bau einer weiteren Mauer als Sichtblende verzichten zu können. Die Bewohner von Netiv HaAsara erklärt Zameret hätten keine Lust auf noch mehr Mauern.

Zameret betont, dass sie und ihre Familie sich im Moshav wohlfühlen und führt als einen Grund für ihr persönliches Glück die starke Gemeinschaft im Moshav an. Niemand habe Netiv HaAsara verlassen, sagt sie.

Trotz des inzwischen zehn Jahre anhaltenden Beschuss und drei militärischer Auseinandersetzungen glaubt Zameret daran, Land für Frieden tauschen zu können. Sie gibt zu dass sie sich weigere der Möglichkeit auf Frieden eine Absage zu erteilen. Im Gegensatz zu Liat sieht Zameret die Aufgabe der Siedlungen im Gaza nicht als Fehler an. Rückblickend betrachtet sei es aber falsch gewesen, ohne Bedingungen abzuziehen.

Zu Besuch in Nahal Oz

Seit 1970 lebt Martin Sessler im 1949 gegründeten Kibbutz Magen an der Grenze zum Gazastreifen. Der Pädagoge Sessler machte an der renommierten Goldstein-Goren Fakultät der Universität Beer Sheva seinen Doktor in Jüdischem Denken und unterrichtet am Lehrerseminar in Beer Sheva. Martin Sessler, der mit 19 aus der Schweiz nach Israel einwanderte, setzt sich für den interreligiösen Dialog ein, kennt viele Rabbis, Priester und Imame und ist ein gefragter Dozent an militärischen Vorbereitungsakademien. Jahrelang hat er Seminare zu Landeskunde und Judentum an der militärischen Vorbereitungsakademie Lachisch im Kibbuz Beit Guvrin gegeben. Lachisch wird von Verteidigungsministerium als einer der Besten der mehr als 40 Vorbereitungsakademien angesehen und nach der Militäroperation Schutzlinie hat Lachisch zur Unterstützung der Kommunen im Grenzgebiet zu Gaza eine Zweigstelle im Kibbuz Nahal Oz eingerichtet. Da es bedeutend näher ist für Martin Sessler unterrichtet er seither in Nahal Oz. Militärische Vorbereitungsakademie Lachisch bedeutet für die Studenten ein Jahr Teil der Kollektivsiedlung zu werden, sich sozial zu engagieren und über Israel und den Zionismus zu lernen.

Am Holocaust Gedenktag ist die Stimmung in der Gruppe gedrückt. Eigentlich hätte der Unterricht bei Martin Sessler an dem Tag ausfallen sollen, weil der Pädagoge aber vorschlug einen deutschen Journalisten einzuladen, findet die Stunde als Treffen zum gegenseitigen Austausch statt.

Bei einer Rundfahrt um den Kibbuz entlang des massiven Sicherheitszauns kommen die Häuser im östlichen Außenbezirk von Gaza Stadt in den Blick. Nicht hinter Mauern, wie in Netiv HaAsera, sondern im Detail erkennbar. Die israelische Armee ist sehr präsent, auf einer Basis nahe des Kibbuz stehen ein Dutzend Merkava Panzer, überall rund um den Kibbuz sind gepanzert Patrouillenfahrzeuge unterwegs. Im Gegensatz zu Netiv HaAsera riecht es nach kalter Front und schwelendem Konflikt. Auf die Frage, ob sich die Bewohner von Nahal Oz nicht vor Scharfschützenfeuer fürchten würden sagt Martin Sessler: Doch.

Die Studenten haben viele Fragen zu Deutschland und zur Einstellung der Deutschen zu Israel. Er wünsche sich Frieden erklärt einer der Studenten. Warum die Deutschen Israel die Schuld am Konflikt geben würden gehe ihm nicht in den Kopf. Es müsse doch klar sein, dass Israel aus dem Holocaust die Lehre gezogen habe “Nie Wieder” und sich verteidige. Mit seiner Entscheidung nach Nahal Oz zu gehen lebe er den Zionismus, erklärt er. Itamar, ein sehr wacher Student spricht für die Gruppe als er sagt, sie wollten alle Teil dieses Kibbuz im Grenzgebiet sein und diesen unterstützen. Die Unterstützung sieht ganz praktisch so aus, dass sie an Wochenend- und Feiertagen Programm für die Kinder der Kollektivsiedlung machen und Workshops anbieten.

Alle Studenten haben sich mehrere Vorbereitungsakademien angeschaut und sich bewusst für Nahal Oz entschieden. Dort hat Jeder eine Adoptivfamilie. In manchen Familien führte es zu Auseinandersetzungen, bei Riff gab es zu Hause in Jerusalem harte Diskussionen. Die Eltern wollten ihre Tochter kein Jahr an der Grenze zu Gaza sehen. Vieles sei anders, als sie erwartet hätte, sagt sie. Und damit meinen sie v.a. das Gemeinschaftsgefühl und den Zusammenhalt in dem relativ abgelegenen Kibbuz in Sichtweite von Gaza Stadt. Der Zusammenhalt umfasst die Kibbuzniks und die Armeepatrouillen, die oft Halt machen bei den Studenten. Seit letzten September, als die Gruppe in Nahal Oz ankam ist es ruhig im Kibbuz. Wenn es zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt, wird er vorübergehend geräumt werden. Wie und wohin ist alles geplant. Um den Bewohnern dann, wenn es darauf ankommt zur Hand gehen zu können, sei für sie der Hauptgrund nach Nahal Oz gekommen zu sein, sagt eine Studentin.

Hoffnung

Am internationalen Friedenstag hätte Zameret gerne ein grenzübergreifendes Projekt gemacht. Sie hatte die Idee, dass Schulklassen auf beiden Seiten ein Kunstprojekt machen und sich gegenseitig dokumentieren. Sie wandte sich an einen Bekannten aus besseren Tagen aus Beit Lahiya. Ein Kunstlehrer, der sich bei ihr dafür entschuldigte, nicht den Mut zu diesem Projekt zu haben. Er fürchtet sich von der Hamas als Kollaborateur angesehen zu werden. Dann bekam Zameret aber ein Video zu sehen, dass Schüler in Gaza zeigt, die am Friedenstag bunte Luftballone aufsteigen lassen. Sie lächelt. Die vierfache Mutter Zameret wünscht sich ein friedliches Nebeneinander und dass die Kinder auf beiden Seiten angstfrei aufwachsen können.

Alle Bilder: (c) Oliver Vrankovic