Rafsandschani und das unrühmliche Ende der Atom-Fatwa

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Nach verbreiteter Ansicht hat der Tod Rafsandschanis die Position des iranischen Präsidenten Rouhani empfindlich geschwächt. Dem Lager der pragmatischen und reformorientierten Kräfte fehle er nun als einflußreicher Fürsprecher und erfahrener Ratgeber…

Von Detlef zum Winkel

In der Tat hatte Rafsandschani jahrzehntelang Spitzenämter der Islamischen Republik bekleidet, er kannte sich aus in der Nomenklatura des Systems, war an ihren Verbrechen beteiligt und hütete ihre Geheimnisse. Vor allem war er ein Vertrauter Khomeinis und Khameneis aus den Anfangstagen des Aufstands gegen den Schah und der Gründung des Mullah-Staats. Bei allen Höhen und Tiefen seiner Laufbahn blieb Rafsandschani stets der zweite Mann in der informellen Hierarchie des iranischen Systems. Als solcher konnte er es sich leisten, Kritik an zentralen Mißständen zu üben und gelegentlich sogar dem Revolutionsführer zu widersprechen.

Zuletzt provozierte er im März 2016 eine heftige öffentliche Zurechtweisung Khameneis. Die Revolutionsgarden hatten mit zwei Raketentests Rouhanis Politik der Öffnung nach Westen konterkariert. Rafsandschani twitterte: „The world of tomorrow is a world of dialogue, not missiles.“ Khamenei antwortete, wer glaube, dass die Zukunft in Verhandlungen statt in Raketen liege, sei entweder ein Ignorant oder ein Verräter. Die iranischen Hardliner stürzten sich auf Rafsandschani. Der wiederum modifizierte seinen Tweet; die Welt von morgen werde eine Welt sein, die den Diskurs der islamischen Revolution führt und nicht eine Welt von Raketen und Atomwaffen. Er fügte hinzu, dass er keinen besseren Führer als Khamenei kenne. Das war natürlich ganz im Sinne des supreme leader und seiner periodischen Aufrufe an die Jugend der Welt oder an die Gemeinschaft aller Muslime.

Das Regime ist sehr geübt darin, mit solchen Konflikten umzugehen und sie beizulegen, bevor sie gefährliche Risse im Machtapparat aufreißen können. Die offenen Worte allerdings, die Rafsandschani ein Vierteljahr zuvor, im Herbst 2015, riskiert hatte, waren national und international gesehen derart brisant, dass sie nicht auf bewährte Weise moderiert werden konnten. Auf diese Mine traute sich im Iran niemand zu treten. Auch die westlichen Medien, um das Atomabkommen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit besorgt, hielten den Ball ganz flach. Eigentlich war der Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) zu diesem Zeitpunkt bereits unter Dach und Fach, die Außenminister der P5 + 1 Staaten liessen sich für ihren diplomatischen Erfolg feiern, und die deutsche Wirtschaft war schon nach Teheran geeilt, um die Geschäfte nach der Aufhebung der Sanktionen anzubahnen. Doch bis zum Inkrafttreten der Wiener Vereinbarung waren noch einige Aufgaben zu erledigen, darunter das leidige Thema der „Past and Present Issues of Concern“: Hat der Iran ein Atomwaffenprogramm verfolgt oder wurde er zu Unrecht dessen verdächtigt? Damit hatte sich die Internationale Atomenergiebehörde IAEA jahrelang beschäftigt. Bis zum 15. Dezember 2015, so sah es die Roadmap des JCPOA vor, sollte sie die Untersuchung offiziell schließen und das Ergebnis bekannt geben.

Die Atomkontrolleure standen unter dem Druck, bloß nicht den Iran zu verprellen und womöglich die erreichte Vereinbarung zu gefährden. Von ihnen konnte man also nicht viel erwarten außer diplomatischen Formulierungen, die es allen Beteiligten erlaubten, ihr Gesicht zu wahren. Doch der bestens informierte Rafsandschani ahnte wohl etwas Anderes und trat die Flucht nach vorne an. Ende Oktober gab er der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA ein ausführliches Interview über die Ursprünge des iranischen Atomprogramms, das von der oppositionellen Exilorganisation NCRI (Nationaler Widerstandsrat) aufgestöbert und übersetzt wurde. Darin räumte er die militärischen Motive ein, mit denen das Programm in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gestartet worden war:

Als wir angefangen haben, waren wir im Krieg (mit dem Irak) und wir wollten diese Fähigkeit besitzen, falls unser Feind eines Tages auf die Atombombe zurückgreifen möchte.

„Unser Grundsatz war die friedliche Nutzung der Nukleartechnologie, obwohl wir nie die Vorstellung aufgegeben haben, dass wir, wenn wir eines Tages bedroht werden und es zwingend erforderlich ist, ebensogut die Fähigkeit haben, den anderen Weg zu gehen.“

„Es gab Gespräche mit den Pakistanern. Dort war ein Atomwissenschaftler namens Abdul Qadeer Khan (der sog. Vater der pakistanischen Atombombe) … Bei einer Reise nach Pakistan bat ich darum, ihn zu treffen. Sie haben mich nicht zu ihm gelassen … Ich bin zweimal nach Pakistan gefahren. Jedesmal habe ich ihn nicht gesehen. Ayatollah Khamenei traf ihn auch nicht. Doch während des Krieges waren wir beide dahinter her … Auf jeden Fall waren sie einverstanden, uns ein wenig zu helfen.“

„Der Irak stand kurz vor der Anreicherung, als Israel (am 7. Juni 1981) alles zerstörte. Natürlich war es zuerst unsere Luftwaffe, die mit vier Kampfflugzeugen am 20. September 1980 die Atomanlage in Osirak bombardierte, die fast fertiggestellt war und vor der Befüllung mit Brennstoff stand … In diesen Jahren dachten wir alle, wir sollten uns mit Abschreckungswaffen rüsten. Denn ein Ende des Krieges war nicht abzusehen und für unsere Verteidigungspolitik galt das Wort des Imam (Khomeini), dass der Krieg 20 Jahre dauern könne.“

„Bei den nuklearen Aktivitäten hatten wir kein Problem mit der IAEA, weil wir Mitglied (der Internationalen Atomenergieorganisation) waren … Bei den anfänglichen Arbeiten hat die Agentur nie gestört, aber auch nicht geholfen … Nach meiner Amtszeit als Präsident (1989 bis 1997) erkannte der Westen plötzlich, dass wir Fortschritte auf verschiedenen Gebieten gemacht haben.“

„Gegen Ende meiner Präsidentschaft war ich (immer noch) so interessiert, dass ich in meiner eigenen Handschrift und nicht einmal maschinengeschrieben 25 Millionen Dollar für das Schwerwasserprojekt angewiesen habe, das damals nicht in Arak, sondern in Alamut in (der Provinz) Qazvin geplant war.“

 Westliche und verständlicherweise besonders israelische Medien überprüften das Interview. Mit geringfügigen Abweichungen in der Übersetzung bestätigten sie die vom NCRI wiedergegebenen Passagen, zitierten aber auch einige relativierende Bemerkungen des Ex-Präsidenten:

„Das (nukleare Abschreckung) war unser Denken, aber es wurde nie etwas Reales daraus.“

„Alle, die Iran liebten und an nuklearen Aktivitäten beteiligt waren, machten sich begeistert ans Werk wegen der nicht-militärischen Fortschritte des Projekts. Aufgrund ihrer islamischen Ethik waren sie gegen den Bau der Atombombe, und wir wußten, dass sie nichts anderes als Massenvernichtung bedeuten würde.“

Die iranische Webseite Nuclear Hope, auf der das Interview erschienen war, erklärte, es sei von „zionistischen Medien“ verdreht worden. Rafsandschani wird nun mit den Worten zitiert: „Es gab keinen Grund, den militärischen Aspekt der nuklearen Angelegenheit zu verfolgen, wir wollten keine Atombomben bauen.“ Man kann natürlich immer neue Formulierungen für die immer gleiche Sache finden. Wer mehrfach nach Pakistan reist, um bei Qadeer Khan vorzusprechen, weiß schon, was er will.

Am 1. Dezember 2015 folgte die nächste Überraschung. Ja, es habe ein iranisches Atomwaffenprogramm gegeben, erklärte IAEA-Präsident Amano kurz und bündig. „Die Agentur stellt fest, dass eine Reihe von Aktivitäten, die für die Entwicklung eines nuklearen Sprengkörpers einschlägig sind, in Iran bis Ende 2003 in einem koordinierten Ansatz verfolgt wurden, und dass manche Aktivitäten auch nach 2003 stattfanden“. Ab 2009 sei aber Schluss damit gewesen. Obwohl das Statement bedeutete, dass Teheran zehn Jahre lang gelogen hatte, dass sich die Balken bogen, begnügte sich der Iran mit einem bescheidenen Dementi von untergeordneter Stelle. Am 15. Dezember nahm der Gouverneursrat der IAEA den Bericht Amanos entgegen und schloss die Akte, wie es im JCPOA vorgesehen war. Über eine eventuelle Kontroverse in dem Gremium wurde nichts bekannt. Den Issue wollte niemand mehr vertiefen. Die Umsetzung der im Wiener Abkommen vereinbarten Maßnahmen konnte fortgesetzt werden.

Die Stellungnahme der IAEA geht weit über die Bekenntnisse von Rafsandschani hinaus. Dieser hat eigentlich nur eine Militärstrategie der atomaren Abschreckung und die von Pakistan gewährte Starthilfe zugegeben. Trotzdem hat er den Zorn der iranischen  Hardliner weit mehr auf sich gezogen als die Wiener Behörde. Die IAEA hätten sie ja als Büttel der arroganten Mächte qualifizieren und ihr Statement als weiteren Beweis für westliche „Iranophobie“ werten können. Das war nach den Äußerungen eines angesehenen ehemaligen Präsidenten nicht mehr möglich. Folglich richtete sich die Wut gegen den Kronzeugen. Ihn konnte man aber nicht frontal angreifen; das hätte seine Enthüllungen erst richtig in die internationalen Schlagzeilen gebracht.

Vor allen anderen befand und befindet sich der supreme leader in einer peinlichen Lage. Denn er ist es ja, der die angebliche nukleare Friedfertigkeit des Irans in den Rang eines theologischen Dogmas erhoben hat. Volle zehn Jahre lang berief sich die iranische Politik auf eine angebliche Fatwa Khameneis gegen Atomwaffen. Daher entbehre der Atomstreit mit dem Westen jeder Grundlage. Immer wieder erklärten Sprecher des Regimes, der sicherste Beweis für die ausschließlich zivilen Zwecke des Atomprogramms sei die Unterwerfung der Republik unter den islamischen Glauben und der verbiete, wie der hochgeehrte Führer höchstpersönlich verfügt habe, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Da die internationale Öffentlichkeit den Erlass der ominösen Fatwa, anders als im Fall Rushdies, nicht mitbekommen hatte, wurden die Iraner natürlich gefragt, wie ihr Wortlaut sei und welche Strafen bei einem Zuwiderhandeln drohten, eine oder zwei Hände abhacken oder gleich den Kopf? Die Antworten waren stets selbstreferentiell; Khamenei habe seine Fatwa bei dieser und jener Gelegenheit erwähnt, Ex-Präsident Ahmadinedschad habe darauf verwiesen, ebenso Rouhani und Außenminister Zarif (nur Rafsandschani nicht). Die Fatwa sei so bekannt, dass sich ihre Existenz von selbst verstehe und ihr Inhalt sei ohnehin klar: Atombomben sind unislamisch. Wozu dann noch nach den Details fragen?

Diese Beweisführung hielt den Ansprüchen eines demokratischen Diskurses nicht ganz stand, so dass die westlichen Iran-Versteher bemüht waren, weitere Argumente nachzulegen. Für die Existenz der Fatwa spreche, dass sie noch älter sei als bisher angenommen! Auch müsse eine Fatwa nicht unbedingt schriftlich vorliegen und in einem Verzeichnis religiöser Lehren vermerkt sein – sie könne auch mündlich ausgesprochen werden. Ferner stehe sie nicht im Widerspruch zu iranischen Bestrebungen nach einer Abschreckungskapazität; nach Auffassung der Iraner reichten schon zivile Atomanlagen aus, um Feinde (feindliche Touristen?) abzuschrecken. Schließlich meinte der US-Journalist Gareth Porter, der sich auf diesem Gebiet besonders hervortut, der beste Beweis für die Existenz der Fatwa sei, dass die iranische Seite im Krieg mit dem Irak auf eine Antwort mit Massenvernichtungswaffen verzichtet habe, obwohl Saddam Hussein Giftgas eingesetzt hatte. Porter veröffentlichte Anfang 2014 ein Buch „Manufactured Crisis“ über den Nuklearkonflikt, in dem er alle Vorwürfe gegen den Iran bestreitet und auf Falschmeldungen des israelischen Mossad zurückführt. Der mit einem Foto von Ministerpräsident Netanyahu versehene Band war knapp zwei Jahre nach seinem Erscheinen nur noch peinlich; gleichwohl kann er als Anschauungsmaterial für den Antisemitismus der bürgerlichen Mitte und akademischen Linken dienen. Porter nahm vor allem Einfluss auf das politische Lager der US-Demokraten und hatte Erfolg damit. Auch Obama und Kerry hoben die Fatwa lobend hervor und stärkten damit den Glauben an ihre Existenz. Sie passte eben zur Legitimation des JCPOA.

Nach Rafsandschanis Enthüllungen ist von all dem nicht mehr die Rede. Khamenei schweigt. Die Fatwa scheint vergessen, ihre Gültigkeitsdauer überschritten. Hat es sie überhaupt gegeben? Die Frage ist an dieser Stelle nicht, ob der Erwerb, Besitz und Einsatz von Atomwaffen für Muslime, Christen oder Juden durch ihren Glauben verboten ist oder nicht. Das mögen die jeweiligen Theologen klären. Worum es hier geht, ist die Tatsache, dass ein oberster Führer sich die Freiheit nimmt, religiöse Glaubensgrundsätze für rein weltliche, machtpolitische Zwecke zu missbrauchen. Khamenei pflegt offensichtlich einen äußerst souveränen Umgang mit dem Islam. Mal sind Massenvernichtungswaffen Sünde, mal bemüht er sich persönlich um ihren Erwerb. Mal kennzeichnen Atombomben die arroganten Mächte – siehe Hiroshima und Nagasaki -, mal werden sie aber auch von den islamischen Ländern benötigt. Dann wiederum dient eine angebliche Fatwa einem jahrelangen Versteckspiel, in dessen Verlauf das Regime seine atomaren Fähigkeiten unablässig ausbaute. Der Zweck heiligt die Mittel. „This is Iran“, wie Khamenei einmal sagte. Aber auch das war eine Lüge. Das ist nicht Iran. Das ist er selbst.

Rafsandschanis Erinnerungen haben die Glaubwürdigkeit des supreme leader schwer erschüttert. Gehört er deswegen am Ende seines Lebens zu den Guten? Beileibe nicht! Zuletzt drängte er deutschen und österreichischen Besuchern Verschwörungstheorien über eine Schuld der Juden am Ausbruch des zweiten Weltkriegs auf. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) widersprach entschieden und machte den Skandal publik. Der österreichische ÖVP-Politiker Karlheinz Kopf hörte sich die antisemitischen Tiraden an, ohne sie zu kommentieren. Tiefer noch lässt der berüchtigte Satz blicken, den Rafsandschani anlässlich des al-Quds-Tages am 14. Dezember 2001 in Teheran äußerte:

„Sollte eines Tages auch die islamische Welt Waffen besitzen, die Israel bereits besitzt, dann würde die Strategie der Imperialisten zum Stillstand kommen, weil eine einzige Atombombe in Israel alles zerstören würde. Jedoch würde dies der islamischen Welt nur schaden. Es ist nicht irrational, solch eine Möglichkeit in Erwägung zu ziehen.“

Dieser Satz ist von Rafsandschani nie zurückgenommen worden. Er wurde auch von Khamenei nie als unislamisch kritisiert.

Bild oben: Ayatollah Khamenei meeting with members of the Iran’s Assembly of Experts after their final meeting in the fourth term, March 2016, cropped from File:Khamenei meeting Assembly of Experts members 06.jpg, Khamenei.ir