Jahreswende – Schofar und Selichoth

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Der vorliegende Text stammt aus dem 1924 erschienenen Buch „Jahreswende“, das ausgewählte Texte zu Rosch haSchana von Samson Raphael Hirsch enthält. Rabbiner Hirsch, geboren 1808 in Hamburg, war Begründer der Neo-Orthodoxie…

Nach dem Besuch der Jeschiwah in Mannheim, begann Samson R. Hirsch 1829 das Studium der klassischen Sprachen, der Geschichte und der Philosophie in Bonn. Seit 1830 wirkte er als Rabbiner in Oldenburg. 1841 wurde er als Hannoverscher Landrabbiner für die Provinz Ostfriesland nach Emden berufen. 1847 übernahm er das Landrabbinat von Nikolsburg in Mähren.

1851 wurde Hirsch Rabbiner der orthodoxen „Israelitischen Religionsgesellschaft“ in Frankfurt, die er in den folgenden Jahren zu einer orthodoxen Modellgemeinde ausbaute.

1854 war Hirsch Herausgeber der Zeitschrift „Jeschurun“, eines „Monatsblatts zur Förderung jüdischen Geistes u. Lebens in Haus, Gemeinde u. Schule“.

Er begriff die Torah als Lebenszentrum des Judentums und sprach sich für die strenge Einhaltung der religiösen Gebote aus. Gleichwohl waren für ihn weltliche Kenntnisse und weltliche Kultur integrale Bestandteile der jüdischen Weltanschauung. Hirsch förderte die politische und kulturelle Integration in die deutsche Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erkannte Hirsch die Notwendigkeit von Reformen an, wie z. B. das Predigen in deutscher Sprache und die Aufnahme säkularer Fächer an den jüdischen Schulen.

Hirsch vertrat die Idee einer radikalen und selbständigen „Austrittsorthodoxie“, d.h. er befürwortete die Eigenständigkeit orthodoxer Kreise durch Austritt aus den jüdischen „Einheitsgemeinden“, da diese meist zur jüdischen Reformbewegung tendierten. Das Judentum erhielt dadurch den Charakter einer „Konfession“, das Merkmal der nationalen Solidargemeinschaft trat in den Hintergrund.

Bei seinem Amtsantritt war die Israelitische Religionsgesellschaft Frankfurt eine Privatvereinigung im Rahmen der Jüdischen Gemeinde. 1876 gelang es ihm, im Preußischen Landtag das sogenannte Austrittsgesetz durchzusetzen, das es gesetzestreuen Juden ermöglichte jüdische Einheitgemeinden am Ort zu verlassen und sich in Separatgemeinden (Austrittsgemeinden) mit vollem öffentlich-rechtlichem Charakter zusammenzuschließen.

Quelle: Torah im Derekh Erez: Rabbiner Samson Raphael Hirsch

Hirsch starb 1888. Seine Gemeinde bestand bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten.

Schofar und Selichoth

(Jeschurun, Jahrgang 1855)

I.

Der Sommer endet. Die letzte Glut empfängt die Erde, und alles strebt Vollendung an. Alles Wachstum, alles Leben sucht begierig im letzten Strahl die Reife, die das Jahr ihm bringen kann. Im letzten Purpur rötet sich der Äpfel, zum letzten Feuer erglüht der Wein. Die letzte Fülle sucht die Nahrungsknolle in der Erde, die letzte Fülle das Korn im Ackerfeld. Den letzten Honig sucht die Biene im bald verschwindenden Blumen­kelch. Das letzte Körnlein trägt der Hamster in seines Wintervorrats Bau. Den letzten Halm trägt die Schwalbe für ihre Wiederkehr zum Nest. Alles eilt. Es winkt das Ende. Bald ruft der Meister. Geworden will jedes sein, was es werden konnte. Geleistet will jedes haben, was es leisten konnte. Will nicht mit Stückwerk, mit halb vollendeter Arbeit, nicht mit verfehltem Jahresdasein vor seinen Meister kommen. Der Wurm, der Käfer, das Tier, der Vogel, der Halm, das Kraut, der Kern, die Frucht, alles strebt „zu erfüllen den Willen des Meisters, zu vollbringen, wozu Er es gesendet“ — — und im Kreise des Menschen dürfte die Nachlässigkeit, die Halb­heit, die Verkehrtheit wohnen, dürfte die Gedanken­losigkeit heimisch werden, die träumend in den Tag hineinlebt, ohne zu denken, daß das Ende nah, daß der Meister ruft, ohne in sich, um sich, vor sich zurück­zuschauen und die eilende Zeit am Fittiche zu fassen und den dahinschwindenden Augenblick zur Vollendung für die Ewigkeit zu nützen?

Überall strebt die Geradheit, in jedem Wesen, jeder Kraft, in jedem kraftbeseelten Atom. Das bestimmte, vor gesteckte Ziel haben sie alle im Auge, und erstreben es, erreichen es, auf geradestem Wege, entschieden, scharf und stark und fest, לא יסבו בלכתם „ohne Abweg, ohne Umweg in ihrem Wandel“ — und nur des Menschen Weg soll עון „Krümme heißen, soll mit Bewußtsein, mit Absicht das Ziel verlassen, das seinen Kräften hier gesteckt, soll mit Bewußtsein, mit Absicht von dem Wege weichen, der einzig zu diesem Ziele führt, soll sich durch Blumen, die jenseits der Straße locken, soll sich durch Pfade, die für andere gelten, durch Berge, die er im eigenen findet, durch Genüsse, die ihm in anderen winken, dem einen, reinen, geraden Wege entführen lassen?

Gehorsam herrschet überall. Ihren Meister kennen sie alle. Das Insekt, der Wurm, der Löwe, der Aar, — die Kraft, die in dem Erdball schlummert, die Kraft, die in den Blitzen leuchtet, die Kraft, die den Kristall gestaltet, die Kraft, die den Blütenkeim entfaltet, die Kraft, die in dem Schlag der Herzen waltet, — das Leben, das die Lüfte füllt, das Leben, das sich auf Erden regt, das Leben, das in Gewässern wimmelt, das Leben, das der Schoß der Erde trägt, — dem Einen, Einzigen dienen sie alle, ein Wille herrscht, ein Gott gebietet, ein Gesetz waltet überall, um seinen Thron stehen sie alle, Ihm bringt jedes das Erzeugnis seines Schaffens, daß Er es füge zum Heil des All, — und nur der Mensch soll פשע, soll sich den Trotz, den Ungehorsam erkiesen, soll nicht sehen wollen den Meister, soll nicht fragen sein Gesetz, soll sich frevelnd dem Einen, Einzigen entziehen, soll allein nicht stehen vor Gottes Thron?

Überall wohnet der Ernst. Ein jedes fühlt, daß es so dem eigenen, wie des Ganzen Heil in jedem Augenblicke gilt. Nicht regellos geworfene Tropfen im Meer der Ewigkeit sind die Augenblicke eines jeden Daseins. Jeder kommende Moment ist von allen vorangegangenen Millionen Augenblicken erzeugt, jeder gegenwärtige Augenblick arbeitet mit an dem Bau aller kommenden Äonen. Was der nächste Augenblick zur Reife bringen soll, muß im gegenwärtigen gesät sein. Was einst als Heilesfrucht sich entfalten soll, muß als Segenssaatkorn keimen. Nicht der Zufall wirft der Zukunft Lose. Das allmächtige Gefühl beherrscht ein jedes: in jedem Augenblicke liegt die volle Ewigkeit, darum ergreift es mit der Vollkraft seiner Energie und füllt mit dem Ernste der Ewigkeit den flüchtigen Augenblick der Gegenwart aus. Das fühlt ein jedes. Nicht selbstsüchtig selb­ständig geschiedene Millionen füllen das Weltall aus. Dem Ganzen gehört das Kleinste an und dem Kleinsten gehört das Ganze, נראות נושאות והן נשואות alles trägt und wird getragen, in jedem Kleinsten ruht das Ganze, überall ist der Mittelpunkt der Wesen, und den Puls­schlag des Weltherzens hörst du überall. Jedes arbeitet am Heil des Ganzen und zugleich am eigenen Heil. Wer des Nachbars Heil zerstört, gräbt zugleich das eigene Grab. Nichts ist gering, nichts gleichgültig, nichts verächtlich, alles wirkt und wirkt ins Unendliche weiter. In jedem Kleinsten liegt des Weltalls Ernst. Und darum füllt auch dieser Ernst das Kleinste. Die ewigen Welten gehen nicht mit größerem Ernste ihre Bahn, als die kleinste Eintagsfliege ihre Spanne erfüllt, und, als gelte es des Weltalls Heil, löset jedes mit der vollsten Energie verliehener Kraft die kleinste Seite des kleinsten, unbeachteten Berufs. Überall wohnet der Ernst — und nur der Mensch soll der חטאה soll dem Ungefähr des Leichtsinns huldigen, soll den ganzen Ernst verkennen, der auf .jedem seiner Schritte ruht, soll Gedanken, Gefühle, Genüsse, Worte, Taten mit blindem Wahnsinn in den Schoß der Zukunft streuen, soll ganz vergessen, daß der leiseste Gedanke nicht spurlos, folglos in seinem Geist verwehrt; soll mit seinen Jahren, Monden, Wochen, Tagen, Stunden spielen, als ob nicht jedem Augenblick die Ewigkeit gehört, — soll des Anspruchs lachen, den .das Weltall an jeden seiner Schritte hat, — soll der Zukunft spotten, die er sich selbst mit jedem seiner Schritte baut??

Nein! Nein! Nein! Wenn sich das Jahr zu Ende neigt, wenn alles an das Ende denkt, wenn alles das Ziel der Vollendung lockt, wenn alles mit der noch verliehenen Minute geizt, wenn alles den Ruf der Zeit vernimmt, — dann ruft auch Israel sich wach. Der Schofar tönt und mahnt, — daß bald des Herrn Schofar rufen, bald uns laden werde vor seinen Thron, und wenn der Schofar ruft in jüdischen Hütten, dann dringt der Ernst in jeden Kreis.

Der Schofar tönt und ruft zum Ziel und erinnert an den Herrn und an den Ernst, den jede Zeitminute trägt:

„Höret dieses Wort“, so lautete einst ein solcher Schofarruf, „hört dieses Wort, welches Gott über euch, ihr Söhne Israels, gesprochen, über die ganze Familie, die ich aus Ägypterland heraufgeführt. Nur Euch habe ich erkannt aus allen Familien der Erde, darum suche ich an Euch alle eure Sünden heim.

Werden denn wohl zwei Zusammengehen, wenn sie sich nicht zuvor über das Ziel verständigt?

Wird denn ein Löwe im Walde brüllen und nicht ausgehen auf Raub? Wird aus seiner Höhle die Löwen­stimme schallen, wenn er nicht bereits erjagt?

Wird denn ein Vogel auf die Schlinge zur Erde fallen, wenn ihm kein Vogelsteller nachgestellt? Wird denn die Falle von der Erde auf schnappen und nicht fassen den Fang?

Und der Schofar sollte in der Stadt erschallen und das Volk nicht erbeben? Und ein Unglück käme in die Stadt und Gott hätte es nicht bereitet?

Denn es tut mein Gott und Herr nicht das Geringste, Er habe denn seinen Plan seinen Dienern, den Propheten, offenbart.

Es hat der Löwe gebrüllt — wer sollte nicht fürchten! Mein Herr und Gott hat gesprochen, — wer würde nicht Prophet!

Siehe, wenn alle Welt leichtsinnig würde, wenn alle Welt in den Tag hineinlebte, wenn alle Welt dem Zufall huldigte und ihre Worte und Taten, ihre Schritte und Handlungen dem Zufall überließen, wenn alle Welt den Ernst verkennen würde, der sich an die leiseste ihrer Bestrebungen knüpft, wir, Israel, die aus Mizrajim ge­wanderte Familie, wir, meint dieser Schofarruf, wir dürften ihn nicht verkennen, wir nicht dem Zufall hul­digen, wir nicht leichtsinnig mit dem sittlichen Wert unserer Taten spielen. Denn wir haben nichts anderes, als diesen sittlichen Wert. Die anderen Familien der Erde müssen erst Völkerrecht höhnende, Menschlichkeit verleugnende Verbrechen begehen, — wie sie das Prophetenwort unmittelbar zuvor geschildert — ehe das Gottesgericht ihre völkertümliche Größe tilgt von der Erde; solange nährt sie ihr Boden, und trägt sie die Kraft und schützt sie die Macht; denn die von Gott geordnete naturgemäße Entwicklung der Dinge hat ihr volkstümliches Dasein geschaffen, und ihre irdische Größe hat einen irdischen Halt. Israel aber, die aus Mizrajim gewanderte Familie, lag in Mizrajim ersterbend am Boden, und nur Gottes Allmachtfittig hub sie ins völkergeschichtliche Dasein, und nur dieses Gottesbündnis ist Israels Boden und Macht, — in dieser Treue gegen Gott wurzelt sein ganzes Dasein, — und Israel, dürfte je Gott ver­lassen, dürfte je von dem Wege weichen, den Gott ihm vorgezeichnet, dürfte je das Ziel aus dem Auge verlieren, das Gott ihm vorgesteckt? — Nein! Nein! „In dies ganz einzige nahe Verhältnis bin Ich zu euch getreten,

darum rüge ich an euch die kleinste Krümme, die kleinste Abweichung von meinen Wegen.“ Was den andern Familien auf der Erde ist der Äcker und der Pflug, was den andern Familien ist auf Erden die Schiffahrt und der Handel, was den andern Familien auf Erden die Nährkraft und die Wehrkraft ist, das ist euch der Wandel in meinen Wegen. Und wie sich’s an den andern Familien auf Erden rächt, wenn sie den Äcker und den Pflug, wenn sie die Schiffahrt und den Handel, wenn sie die Nährkraft und die Wehrkraft vernach­lässigen, also rächt sich’s an euch, wenn ihr den Acker der Gottesfurcht nicht bestellet, in den Hafen des Gott- Vertrauens nicht steuert und mit der Erfüllung seines Wortes euch nicht nähret und rüstet. Nur in meinen Wegen findet ihr mich, nur in meinen Wegen bin ich mit euch, und wenn Ich nicht mit euch bin, ist alles wider euch — und ihr wolltet diesen Wandel mit mir dem Zufall überlassen, והלכתם עמי קרי?

Huldigt ihr denn in andern Verhältnissen dem Zufall, glaubt ihr denn in andern Verhältnissen an Zufall, ver­traut ihr denn in andern Verhältnissen auch nur die kleinste Ausführung des geringsten Geschäfts dem Ungefähr? Gehen denn auch wohl nur zwei zusammen einen Weg, ohne zusammen Zeit und Ziel und Weg und Weise besprochen, bestimmt und beachtet zu haben? Wer hört den Löwen im Walde und flüchtet nicht seine Schafe, wer hört in seiner Höhle ihn und zählt nicht seine Herde, wer sähe einen Vogel in die Schlinge fallen und schaute sich nicht nach dem Vogelsteller um, wer sähe eine Falle aufschnappen und erwartete nicht, daß sie gefangen?! So glaubt ihr nirgends an Zufall, der Gedanke im Menschen, der Trieb im Tiere, die Kraft im Mechanismus, und Gedanke, Kraft und Trieb zu­sammen in der vom Menschen beherrschten leblosen und lebendigen Natur, das sind euch überall die Hebel der Erscheinungen, die ihr erspähet, die ihr berechnet, die ihr voraussetzt, aus der Ursache die Wirkung, aus der Wirkung die Ursache — und überall das Woher, Warum, -Wozu, — Grund und Zweck und Absicht überall — und im großen Ganzen wollet ihr an Zufall glauben, und im großen Ganzen die denkende Allmacht verkennen, und euer Geschick dem Ungefähr anvertrauen, und wenn der Schofar warnend ruft, wollet ihr lachen, und wenn ein Unglück schon geschehen, nicht auf Den hinschauen, der es geschickt? Und das wollet ihr, ihr, Söhne Israels, aus Ägyptens Völkertod von Gott Erlösete, ihr, denen nicht nur die Ereignisse der Jahrhunderte die denkende Allmacht verkündet, denen diese denkende Allmacht sich selber offenbart und hat euch ihre Diener, die Propheten, gesendet und hat euch den Plan ihrer Waltung enthüllt — das wollt‘ ihr, nachdem bereits mit Löwenmacht die Ereignisse gewarnt, nachdem bereits Gottes Mund zu euch gesprochen, da sollte der Ernst euch nicht fassen, da sollte Prophetenbegeisterung euch nicht ergreifen? „Der Löwe hat gerufen, wem sollt es nicht bangen, Gott hat gesprochen, wer würde nicht Prophet?!“

2.

So dringt der Elul-Schofar in jüdische Hütten, und jede jüdische Brust wird wach und schaut um sich und schaut über sich und schaut in sich, und schaut vor sich und schaut zurück, und sucht das Ziel und prüfet den Weg und erkennt den Herrn und nimmt seinen Willen zum Wegweiser und zum prüfenden Maßstab und schüttelt ab jeden träumenden Leichtsinn und strebt einzulenken aus jeder Krümme zurück zum Geraden, aus jedem Un­gehorsam zur Treue, aus jeder Leichtfertigkeit zum Ernst, und benützt die wenigen noch bis zum Jahresende ver­gönnten Wochen, der geistigen Jahresarbeit den jüdischen Weihestempel der Vollendung aufzudrücken.

Vollendung? Wohnet sie auf Erden? Wird sie erreicht? Ist sie erreichbar im Menschenkreise? Wo ist der Mensch, wo der Jude, der sie erreichte, der ihr nur nahe käme? Ach, der Reinste, Beste, Treueste, wie weit ab von der Geradheit, der nimmer ablenkenden Geradheit, von dem Gehorsam, dem nimmer wankenden Gehorsam, von dem Ernst, dem nimmer weichenden Ernst, den jeder — Wurm in seinem Lebensgang bewährt! Der Reinste, Beste, Treueste, wie weit ab vom Ziele, wie schwankend in der Treue, wie schwach in seinem Ernst! Und wenn er sich nun ermannte und einlenkte in die gerade Bahn und mit ernstem, festem Entschlüsse fortan sich treu bewährte — wer hübe die schon gestreuten Unheilssaaten aus seiner Zukunft Äcker, wer tilgte den Keim des Fluchs, den schon die Vergangenheit in ihrem Schoße trägt, wer rettete ihn vor den Folgen der eigenen Taten, wer entzöge ihn dem Grabe, das er sich selbst bereits mit jeder Krümme, mit jeder Untreue, jeder Leichtfertigkeit gegraben?

Siehe, da gesellt sich die Blüte der jüdischen Gotteslehre zum ernsten Schofarruf und spricht: Derselbe Gott, der das ernste Gesetz von Grund und Folge, von Ursache und Wirkung schuf, und in die Klammern dieses Gesetzes jedes andere Dasein vom Wurm zum Aar, vom Staubes­korn zum Sonnenball fügte, mit seiner Allmacht jedes andere Dasein in den Bahnen dieses Gesetzes trägt und in den Gängen dieses Gesetzes ohne Irrung hält, — derselbe Gott hat dich zum freien Diener seines Willens geschaffen, und indem er frei dich machte, und mit dieser Freiheit dir und dir allein die Möglichkeit der Krümme, die Möglichkeit des Ungehorsams, die Möglichkeit des Leichtsinns gab, fügte Er, als Er dich schuf, zu seinem Recht die Liebe, zu seiner Macht die Gnade, und stattete den ‚freien Funken, mit dem er dich beseelte, mit einem Hauche seiner Allmacht aus und verhieß ihm den ewig neu zu erringenden Sieg über jede Gewalt der überall sonst bewußtlos waltenden Notwendigkeit. Nur die Krümme, der Ungehorsam, der Leichtsinn, der seiner Freiheit sich entschlagende Mensch erliegt dem zwingenden Zuge jenes kettenden Gesetzes. Aber die Reueträne im Auge des wieder zur Freiheit erstehenden Menschen, den ernsten Willen der wiederum treu ge­wordenen Mannesbrust läßt Gott nicht nur die böse Saat des Herzens überwältigen, für sie erstirbt der Keim des Fluchs, den schon die Vergangenheit empfangen — die reine Träne ist stärker, der feine Wille besiegt das Gesetz, das Himmel und Erde bannet — die Gnade Gottes macht den Freien frei.

Zur Selichothwoche. führt der Schofar hin.

Der Morgen dämmert, der kommenden Sonne ist schon der Mond voraufgegangen, des Himmels nächtlich Blau durchzittert schon des Tages Licht, das immer wachsen wird und wachsen, bis es die Sterne, die die Nacht durchleuchtet, und in ihrer Himmelswacht noch glänzend funkeln, in seinem vollen Tagesglanz verhüllt — und auch, in des Juden Brust zieht der Morgen ein, in des Juden Herzen werden Morgengedanken wach, und zur Lichtstätte seiner Thora zieht es ihn hin, und: א‘ מלך יושב על כסא רחמים empfängt ihn dort.

„Der Gott, aus dessen Urkraft alle Kräfte fließen, dessen Herrschergesetz die Welt regiert, aus Erbarmen hat er seinen Thron gewoben, auf Erbarmen seinen Thron gestellt, auf dem Throne der Barmherzigkeit thronet Er, und bestimmt sich zur Liebe und verzeiht der Seinen Krümme, und beseitigt die ersten Sünden, und wiederholt Vergebung selbst in Leichtfertigkeit Ergrauten und Verzeihung Frevlern, und übt mit allem Milde, was Er aus Fleisch und Geist gewoben, —läßt ihnen das nicht reifen, was sie im Abfall Böses haben gesät.“

„Er hat uns selbst gelehrt die Wege seiner Waltung, hat uns gelehrt, zu gedenken dieser Wege, hat darauf seinen Bund mit uns gestiftet und gedenkt noch heute dieses Bundes, wie Er ihn Moses einst gelehrt.“

Nacht war es darum in Israel. Aber Israel fühlte seine Gesunkenheit. Aber Israel trauerte um seinen Fall. Keinen Trost konnte es darin finden, daß sich gleichwohl sein äußeres Geschick vollenden sollte. Es hatte seine Horebwürde eingebüßt; was sollte ihm noch ein anderes Diadem!Nacht war es damals in Israel. Es war der erste Elul unsers Völkerdaseins. Des Bandes Tafeln lagen in Scherben am Fuße Sinais. Des Gesetzes Ätherzeichen waren zurückgekehrt zum Himmel. Aus seiner Bundes­nähe mit Gott war Israel gefallen. Seinen „Engel“ wollte Gott für der vor Israel senden. Im Laufe der Ereignisse sollte sich sein verheißenes Geschick vollenden. Aber nicht auf seinen Adlerfittichen wollte Gott es weiter tragen. Nicht „in seiner Mitte“ wollte Er ferner „mit ihm wandeln“. Denn nur wo Seine Thora, Sein Gesetzr im Leben waltet, wohnet Er. Nur in seinem „Gesetze“ liegt Sein Bündnis. Nur über sein mit „Festigkeit“ und „Leben“ erfaßtes Gesetz breitet sich der Cherubimflügel Seines Schutzes. Nur in diesem Thoraschutz thront Seine Herrlichkeit auf Erden — und diese Thora, des Gesetzes Tafeln lagen in Trümmern in Israel. Das Zelt der Gottes­offenbarung war aus seinem Kreis gewichen.

Dieser Schmerz, diese Trauer war aber Israels Ge­nesung. Reue ist der Schimmer wiederkehrenden Lichtes, der den Nachthimmel in des Gefallenen Brust durch­zittert. Reue ist der Bote des wiedererwachenden freien Menschen in der Seele des Gesunkenen. Israel trauerte reuig, und Reue war sein Schmerz.

Und diese Reue schaute Gott.

„Lehr mich deine Wege kennen, damit ich deine Gnade zu erringen wisse!“ „Wandle wieder mit uns, daß wir‘ dein Wunderzeichen werden im Kreise der Völker auf Erden!“ „Laß mich deine Herrlichkeit schauen!“ betete Moscheh.

„Alle meine Güte führe Ich an dir vorüber, verkünde meinen Namen vor dir, wie Ich Gnade dem gewähre, den Ich meiner Gnade, und wie Erbarmen, wen Ich meines Erbarmens würdige.“ „Mein Antlitz schaut kein sterblich Auge. Die Beziehungen, die Spuren meines Waltens sollst du sehen, „nachschauen sollst du mir, wenngleich mein Angesicht nicht zu schauen.” „Mache dir,” sprach Gott, „mache dir zwei Tafeln wie die frühem, daß Ich auf diese Tafeln wieder dieselben Worte schreibe, die die frühem trugen, die du zerbrochen, und dann stehe bereit zum Morgen und besteige am Morgen den Sinai und warte Meiner dort auf des Berges Gipfel.“

Er bereitete zwei steinerne Tafeln wie die frühern und erhub sich in der Morgenfrühe und ging hinauf zum Berge Sinai, wie ihm Gott geheißen, und nahm in seine Hand die zwei steinernen Tafeln. Und Gott stieg nieder in der Wolke, und sie stellte sich neben ihn dort, und er verkündete den Namen Gottes, und seinem Angesicht fuhr Gott vorüber und rief: „’ד ‚ד Gott, barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Liebe und Wahrheit; bewahrt Liebe tausenden Geschlechtern, verzeihet Krümme, Frevel und Leichtsinn, vergibt, und wo er vollends nicht vergibt, denkt er der Väter Krümme an Kindern nur und Enkeln, an drittem Geschlecht und viertem.“—

Da eilte Moscheh und beugte sich zur Erde und warf sich hin und sprach: „O, daß ich Gnade gefunden hätte! O, daß du wieder wandeltest in unserer Mitte, Gott! Ist es ein hartnäckig Volk, so wirst du verzeihen unsere Krümme, unsern Leichtsinn und uns dir ganz zu Erbe nehmen.“

„Wohlan, ich schließe den Bund — — — Merke dir aber, was ich dir neuerdings gebiete — — — schreibe dir diese Worte auf; denn auf Grund dieser Worte habe ich den Bund erneut mit dir und Israel.“ —

Vierzig Tage und vierzig Nächte war er dort bei Gott geblieben, und Er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die frühem zehn Gebote.

Und als Mosche nun vom Berge Sinai kam, da waren die beiden zeugenden Tafeln in Moschehs Hand, und Moscheh wußte es nicht, daß sein Antlitz strahlend worden, da Er mit ihm sprach.

Das Gesetz war wieder in Israels Mitte und mit ihm die Gottesgnade. Der Bund war neu geschlossen. Die Sühne war vollbracht.

Geht, geht, verkündets in die Hütten der Menschen, nicht nur ein Denkmal der göttlichen Allmacht ist Israel, ein Denkmal der göttlichen Versöhnung ist Israel für und für. Versöhnung heißt der Boden, auf welchem Israel lebt. Da war kein Opfer. Da war kein Mittler. Da war kein stellvertretender Tod. Seinen Gott suchet Israel wieder, und zu Israel kehret Gott; ist derselbe nach der Sünde, wie Er vor der Sünde war, die alleinige Allkraft, voller Erbarmen, voller Gnade, voller Lang­mut, stets geneigt zu lieben, und immer unwandelbar, treu und wahr, macht das Gute, das wir üben, zur Saat des Heils für das späteste Geschlecht, hebt, was wir in Krümme, was wir in Frevel, was wir in Leichtsinn, als Keim des Fluchs gestreut, mit Seiner Allmacht Wunder aus dem Schoß der Zeiten, und macht uns rein. Und selbst wo wir diese Reinheit nicht wollen, wo wir uns selber, wo Geschlecht nach Geschlecht in das Grab der Unlauterkeit sich immer tiefer selbst versenkt, wo wir mit der Krümme, mit dem Frevel, mit dem Leicht­sinn den Keim des Todes für die Enkel säen, da hemmt die Allmacht seiner Liebe bereits im vierten Geschlecht den Keim des Bösen, daß nicht die Schuld, daß nicht das Böse fortwuchernd müsse immer Böses neu erzeugen, während das Gute, das wir üben, unter Seiner Allmacht Schirm zum Baum des Lebens für das tausendste Ge­schlecht erblüht. —

Nur eines bedarf’s! Nicht Reue vollbringt es, nicht der Zerknirschung allein gelingt die Sühne, — die Tafeln müssen wir Ihm wiederbringen, die Tafeln Seines Gesetzes, dessen Himmelszeichen durch unsere Schuld der Erde entflohen, dessen Zeugnistafeln durch unsere Schuld zerschellt zu Boden liegen, die Tafeln müssen wir ihm wiederbringen, neue Tafeln, unbeschriebene Tafeln, daß Er, daß Er allein uns das Gesetz Seines Willens für unser ferneres Leben neu verzeichne — denn nur mit dem Gesetze kehrt die Gnade wieder.

Jedoch täuschen wir uns nicht! Erwarten wir kein neu Gesetz aus den Händen Seiner Gnade! Erwarten wir nicht, weil wir uns und unsere Zeit in leichtsinnigem Abfall getrübt, und uns in diesem Abfall andere Gesetze geschrieben, werde Er nun in seiner Gnade auch das ewige Wort seines Willens uns „zeitgemäße umwandeln, mindestens auch unseren in Abfall selbstgeschaffenen Normen Raum und Stätte gewähren — neue, unbe­schriebene Tafeln haben wir Ihm zu bringen, und auf die neuen Tafeln des erneuten Bundes schreibt er nur — das alte Wort!