Rabbiner Samson Raphael Hirsch (20. 6. 1808 Hamburg - 31. 12. 1888
Frankfurt/M.) war der bedeutendste Theoretiker und organisatorische Kopf der
Neuorthodoxie.
Nach
dem Besuch der Jeschiwah in Mannheim, begann Samson R. Hirsch 1829 das
Studium der klassischen Sprachen, der Geschichte und der Philosophie in
Bonn. Seit 1830 wirkte er als Rabbiner in Oldenburg. 1841 wurde er als
Hannoverscher Landrabbiner für die Provinz Ostfriesland nach Emden berufen.
1847 übernahm er das Landrabbinat von Nikolsburg in Mähren.
1851 wurde Hirsch Rabbiner der orthodoxen "Israelitischen
Religionsgesellschaft" in Frankfurt, die er in den folgenden Jahren zu einer
orthodoxen Modellgemeinde ausbaute.
1854 war Hirsch Herausgeber der Zeitschrift "Jeschurun", eines "Monatsblatts
zur Förderung jüdischen Geistes u. Lebens in Haus, Gemeinde u. Schule".
Er begriff die Torah als Lebenszentrum des Judentums und sprach sich für die
strenge Einhaltung der religiösen Gebote aus. Gleichwohl waren für ihn
weltliche Kenntnisse und weltliche Kultur integrale Bestandteile der
jüdischen Weltanschauung. Hirsch förderte die politische und kulturelle
Integration in die deutsche Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erkannte
Hirsch die Notwendigkeit von Reformen an, wie z. B. das Predigen in
deutscher Sprache und die Aufnahme säkularer Fächer an den jüdischen
Schulen.
Hirsch vertrat die Idee einer radikalen und selbständigen
"Austrittsorthodoxie", d.h. er befürwortete die Eigenständigkeit orthodoxer
Kreise durch Austritt aus den jüdischen "Einheitsgemeinden", da diese meist
zur jüdischen Reformbewegung tendierten. Das Judentum erhielt dadurch den
Charakter einer "Konfession", das Merkmal der nationalen Solidargemeinschaft
trat in den Hintergrund.
Bei seinem Amtsantritt war die Israelitische Religionsgesellschaft
Frankfurt eine Privatvereinigung im Rahmen der Jüdischen Gemeinde. 1876
gelang es ihm, im Preußischen Landtag das sogenannte Austrittsgesetz
durchzusetzen, das es gesetzestreuen Juden ermöglichte jüdische
Einheitgemeinden am Ort zu verlassen und sich in Separatgemeinden
(Austrittsgemeinden) mit vollem öffentlich-rechtlichem Charakter
zusammenzuschließen.
S.R. Hirschs Hauptwerke: "Neunzehn Briefe über das Judentum" (1836,
herausgeg. unter dem Pseudonym Ben Usiel), "Horeb,
Versuche über Jisroels Pflichten in der Zerstreuung" (1837, eine
umfangreiche Dogmatik und Ethik des biblisch-talmudischen Judentums),
deutsche Übersetzung und Kommentierung der Bücher Mose (1867-1873) und der
Psalmen (Sefer Tehilim).
Hirschs überragende Bedeutung kommt auch in den zahlreichen Werken seiner
Nachfolger und Anhänger zum Ausdruck. Leider gelang es der osteuropäischen
Orthodoxie nicht, das zukunftweisende Konzept Hirschs zu begreifen.
Als 1932 das auf Hirschs Gedanken basierende
neoorthodoxe Seminar von Berlin nach Jerusalem umsiedeln wollte, widersetzen
sich diesem Anliegen einflussreiche Vertreter der osteuropäischen
Orthodoxie, da sie fürchteten "die Reinheit des Glaubens im Heiligen Land"
könne "verwässert" werden.
Das 1896 in New York gegründete "Rabbi Jitzak Elchanan Theological
Seminary" vertrat wesentliche Idden Hirschs in der Neuen Welt. Aus dem
Seminar ging schließlich die "Yeshiva University New York" hervor, das
führende Bildungsangebot der "kulturoffenen Orthodoxie". Vertreten wurde
diese Richtung vor allem durch Raw Joseph Baer Soloveitchik (1903 - 1993),
der 1931 in Berlin am neoorthodoxen Seminar
promovierte.
Soloveitchik ging 1932 nach Boston, von 1941-1985 leitete er die
talmudische Abteilung der Yeshiva University. Leider schrieb Soloveitchik
wenig, sein Hauptwerk "Isch haHalakhah" (1944) betont die ethischen Wurzeln
der Halakhah.
Von ca. 100.000 deutschsprachigen Juden, die in den 1930ern
nach Amerika flohen, gingen ca. 2/3 nach New York. Ein Zentrum war in
Washington Heights, wo sich ca. 20.000 deutsche Juden niederließen.
Einige schlossen sich in der sogenannten "Hirsch-Kehille"
zusammen, die von Rabbiner Dr. Joseph Breuer, einem Enkel Samson Raphael
Hirschs und Sohn Salomon Breuers, der bis 1926 als Hirschs Schwiegersohn und
Nachfolger die Frankfurter Gemeinde führte.
Der Gemeinde "Adath Jeschurun" gehörten zeitweise 800
Familien an und auch heute existiert die Geminde weiter, wenn auch viele der
Mitglieder in die Vorstädte New Yorks zogen. Die Gemeinde wird seit 1957 von
Raw Simon Schwab geführt.
Isaac
Breuer, ein Enkel S.R. Hirschs, war Verfasser vieler Schriften, die sich
mit jüdischphilosophischen sowie jüdisch-politischen Themen befassten. Er
entwickelte die religionsphilosophischen und gemeindepolitischen Gedanken
seines Großvaters in durchaus origineller Weise. Seine Auffassung von Welt
und Mensch trägt ein stark kantianisches Gepräge. Das Wesen der jüdischen
Religion und der jüdischen Nation ist ihm das in der Torah geoffenbarte
Gottesgesetz.
Seit
Ende des ersten Weltkriegs trat Breuer in Wort und Schrift als führender
Denker der nichtzionistischen Orthodoxie in Deutschland auf. Er wanderte
1936 nach Palästina aus und starb in Jerusalem im Jahre 1946.
Auch in seinen letzten Jahren wurde er nicht müde, in den Reihen der
Gesetzestreuen für seine Ideen zu werben, die messianische Bedeutung des in
fieberhaftem Aufbau sich befindenden jüdischen Nationalheims zu verkünden
und vor dem gesetzesfremden jüdischen Nationalismus zu warnen. Er hinterließ
eine Anzahl stark autobiographischer Arbeiten, von denen "Weltwende" (ersch.
1938 in Jerusalem) und die "Erinnerung an das deutsche Judentum" (ersch.
1942) die bekanntesten sind.
Marc Breuer, einem Urenkel von Samson Raphael Hirsch, gelang eine
Synthese des Kommentars S.R. Hirschs. 1912 in Frankfurt a.M. als Sohn von
Rabbiner Dr. Josef Breuer, dem Leiter der dortigen Jeschiwah und späteren
geistigen Führer der bekannten deutsch-orthodoxen Gemeinde von Washington
Heights in New York, geboren, flüchtete er Mitte der dreißiger Jahre vor den
Nazis nach Frankreich und wurde dort Leiter der orthodoxen Jugendbewegung
Jeschurun.
Als
Krieg und deutsche Besetzung kamen, flüchtete Marc Breuer nach Lyon, wo er
unter schwersten Bedingungen eine überaus fruchtbare Tätigkeit entfaltete.
Vom Pentateuch-Kommentar S.R. Hirschs (beinahe 3000 Seiten) lag keine
kompletten Übersetzung ins Französische vor. Für seine umfang- und
segensreiche Lehrtätigkeit in der Jugendbildung, versuchte er die Grundideen
des Kommentars in präziser und inhaltsgetreuer Form zu vermitteln.
Gedruckt erscheinen konnte das Werk zum ersten Mal in französischer Sprache
zwischen 1945 und 1947 unter dem Titel "La Thora Commenté".
(Quellen "Neues Lexikon des Judentums" hsg. J.Schoeps,
Wissen und Wahrheit (Morascha), Weltenwende (Mossad Breuer, Jerusalem),
Josef Breuers Vorwort im Chorew (Morascha)... M. Breuer, Jüd. Orthodoxie im
Dt. Reich 1871-1918,1986.
Nicht zu verwechseln ist Rabbiner Samson R. Hirsch mit seinem
Zeitgenossen Rabbiner Samuel Hirsch, (8. 6. 1815 Thalfang bei Trier -
14. 5. 1889 Chicago), einem Philosophen und radikalen jüdischen Reformer in
Deutschland und den USA. . Nach dem Studium in Dessau (1838-41) war Hirsch
Großrabbiner in Luxemburg (1843-66).
Auf den Rabbinerversammlungen von Braunschweig (1844) u. Frankfurt/M. (1845)
vertrat er eine radikale Reform des Judentums, die sich in Deutschland
allerdings nicht durchsetzen konnte. Nach seiner Emigration in die USA
gründete er die "Orphens' Guardian Society" sowie den amerikanischen Zweig
der "Alliance Israélite Universelle". Hirsch trug als Rabbiner von
Philadelphia u. Vorsitzender der ersten Konferenz der amerikanischen
Reformrabbiner (1869 in Philadelphia) maßgeblich zur Formulierung der
Grundsätze des Reformjudentums bei.
Die massiven Eingriffe in die jüdische Tradition, z. B. die Einführung des
Sonntagsgottesdienstes, rechtfertigte Hirsch mit der Unterscheidung des
bleibenden ideellen Kerns und des wandelbaren rituellen Ausdrucks des
Judentums.
Gegen die unvorteilhafte Einstufung des Judentums unterhalb der heidnischen
Naturreligionen im herrschenden idealistischen Geschichtsbild Hegels zeigte
Samuel Hirsch in seinem unvollendeten Hauptwerk "Die Religionsphilosophie
der Juden" (1842), dass das Judentum und das Urchristentum als Religionen
der Freiheit allen Naturreligionen absolut überlegen seien. Dem "extensiven"
Christentum komme im Gegensatz zum "intensiven" Judentum die Aufgabe zu, die
Menschen zur Religion der Freiheit zu bekehren, was aber nur gelingen könne,
wenn es die paulinische Verknüpfung von Judentum und Heidentum überwinde.
Bis zur Vollendung dieser Entwicklung müsse sich das Judentum als Vorbild
der neuen Menschheit allerdings absondern, gleichzeitig aber sein
allgemeines Ideal sichtbar machen. Dieser Entwurf stellt eine typische
Verknüpfung des bürgerlichen Fortschrittsoptimismus und des Messianismus im
liberalen Judentum dar.