Frankreichs Muslime im Umgang mit dschihadistischen Schwerverbrechern

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Nach dem Massaker von Nizza und der Ermordung eines Priesters rufen Wortführer der muslimischen Gemeinden und muslimische Intellektuelle mehr denn je zum Kampf gegen die Dschihadisten. Aber an der muslimischen Basis ist stellenweise Ambivalenz spürbar, während doktrinäre Eiferer viele Jugendliche in ihren Bann ziehen…

Von Danny Leder, Paris

Der 31 jährige Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der in Nizza zu Ausklang des französischen Nationalfeiertags, in der Nacht des14.Juli, mit einem 19 Tonnen-Laster die Menge auf der Strandpromenade niederwalzte, war schon lange zuvor in seiner Umgebung als einzelgängerischer und unberechenbarer Schläger wahrgenommen worden. Während seiner Jugend in Tunesien quälte er mit Zornausbrüchen seine Familie, er wurde von Psychiatern betreut und bekam Psychopharmaka. 2005  ließ er sich in Nizza nieder und heiratete eine nachgezogene Cousine. Diese wurde von ihm regelmäßig und schwerstens misshandelt. Als das dritte Kind unterwegs war, erwirkte die Frau schließlich seinen Auszug und ein Scheidungsverfahren.

In seiner neuen Wohngegend war Mohamed Lahouaiej-Bouhlel den Nachbarn nicht geheuer: „Wenn ich ihn grüßte, antwortete er nicht, sondern fixierte mich mit bösem Blick. Im Gang schlug er einem die Tür vor der Nase zu“, erzählte Jasmin, eine allein erziehende Mutter, deren Kinder sich vor ihm fürchteten. Wegen seiner auch sonst brüsken Art wurde er von den meisten tunesischen Landsleuten, die ihn kannten, gemieden. Den Behörden war er als Gesetzesbrecher, aber nicht als Islamist aufgefallen. Er war wegen Diebstahls und Gewaltanwendung mehrmals ins Visier der Justiz geraten. Zuletzt im März 2016: da wurde er zu sechs Monaten bedingt verurteilt, weil er einen Autofahrer bei einem Streit um einen Parkplatz mit einer Holzlatte angegriffen hatte. Nach dem Gemetzel von Nizza erklärte das Terrorgebilde „Islamischer Staat“ (IS) den Todeslenker Mohamed Lahouaiej-Bouhlel posthum zum „Soldaten des Kalifats“.

Auch der 19 jährige Adil Kermiche, der am 26.Juli, im Namen des IS und an der Seite eines Gesinnungsgenossen, einen 86 jährigen Pfarrer in einer Kirche in der Normandie ermordete, galt in seinem Umkreis schon lange als durchgeknallter Einzelgänger. Ein Bekannter, Foued, erzählte in einem Interview mit der Zeitung „Parisien“: „Wir hielten ihn nicht mehr aus. Als er bei  einem Grillfest auftauchte, sprach er nur über den Dschihad und Syrien. Zuletzt pumpte er auch noch alle um Geld an, und wenn man keines gab, beschimpfte er uns als Ungläubige“. Sein Vater hatte ihn im Vorjahr persönlich ins Kommissariat geschleppt, in der Hoffnung die Polizei würde seiner Radikalisierung Einhalt gebieten. Auch Adil wurde, auch auf Drängen seiner Familie, gelegentlich von Psychiatern empfangen.

Nicht alle, die in Europa im Namen des „Islamischen Staats“ oder der „Al Kaida“ getötet haben, sind schon zuvor derartig verhaltensauffällig gewesen, aber bei vielen kann man, bei intensiverer Recherche, Persönlichkeitsmerkmale ausfindig machen, die es nachträglich ermöglichen, sie nach gängigen Kriterien zumindest als „gestört“ einzustufen (so unpräzis dieser Begriff auch sein mag).

Aber diese – unbestreitbare – Feststellung stößt all sofort auf eine – ebenso unbestreitbare – Einschränkung: Wie wir inzwischen wissen, haben alle diese Täter, und das gilt auch für die eingangs zitierten zwei Fälle, ihre Anschläge über eine lange Zeitspanne hinweg konzipiert, sich entsprechend mit Gesinnungsgenossen vernetzt und gewissenhaft vorbereitet. Sie haben oft mit Geschick die Behörden und ihre Umgebung getäuscht. Sie haben also im Rahmen ihrer Zielsetzung weitaus mehr Rationalität bewiesen als ihre landläufige Einstufung als „verrückt“  erwarten lässt.

Kein „impulsiver“ Dschihadismus

In einem Interview im Pariser Magazin „Telerama“ resümierte der französische Psychiater und Anthropologe Richard Rechtman unmittelbar nach dem Anschlag von Nizza: „Bei einem Psychopathen ist die impulsive Gewalt und ihre Unmittelbarkeit charakteristisch und sicher nicht die methodische, mehrtägige Vorbereitung (Inzwischen haben die Polizeirecherchen ergeben, dass sich der Attentäter seit über einem  Jahr auf die Mordfahrt auf der Strandpromenade vorbereitet hatte). Deshalb genügt die alleinige psychopathologische Interpretation nicht. Hingegen gibt es ein Angebot des IS, das zu Massenmorden einlädt und bei einer gewissen Anzahl von Personen auf Resonanz stößt.“

Tatsächlich ist der Dschihadismus längst zu einer politischen Strömung herangewachsen. Eine politische Strömung, die mit neo-tribalen Versatzstücken, ethno-sozialem Ressentiment und religiösem Sendungsbewusstsein in Europa die Grundfesten der pluralistisch-demokratischen Rechtsstaatlichkeit zu erschüttern sucht. Oder, um Frankreichs sozialistischen Premierminister Manuel Valls zu zitieren: „Die  Dschihadisten-Sphäre hat eine neuartige totalitäre Ideologie in die Welt gesetzt“.

Um in der Bandbreite jüngerer europäischer Politerfahrungen zu bleiben: Al Kaida und der Islamische Staat zeigen ganz deutliche Parallelen zu den radikalsten Formen des Klerikalfaschismus, zum Stalinismus und vor allem zum Nationalsozialismus mit seiner Ideologie vom purifizierten Volkskörper und Führerstaat (in dem Fall der sunnitisch-islamischen „Uma“, also der weltumspannenden Glaubensgemeinschaft, unter Führung des „Kalifen“)  und den dazu gehörigen genozidären Ambitionen gegen alle Anders- oder Nichtgläubigen (was in erster Linie die Schiiten, Jessiden und Christen traf, die im jetzigen Herrschaftsgebiet des „Islamischen Staats“ greifbar waren). Es ist daher angebracht von „dschihadistischen Schwerverbrechern“ zu sprechen in Anlehnung an die Deutschland und Österreich gängige Nachkriegsterminologie: damals wurden judizierbare NS-Schergen auch als „nationalsozialistische Schwerverbrecher“ bezeichnet.

Aber selbst wenn man auf eher europa-zentrierte historische Einordungsversuche verzichten würde, käme man nicht umhin, die dschihadistischen Bewegungen als ein durchwegs politisches Phänomen zu begreifen. Dass ein Teil seiner brachialsten und entschlossensten Schergen aus der Sicht der uns geläufigen kollektiven Lebensführungen als  „Irre“, Grenzgänger oder „gescheiterte Existenzen“ erscheinen, tut dem politischen Charakter dieser Bewegung keinen Abbruch – das gilt ja für Vollstrecker aller politischen Strömungen, die einen Zivilisationsbruch auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Diese dschihadistische Strömung hat zweifellos ausgeprägt sektenhafte Züge. Ihre eigenartige Dynamik beruht auch darauf, dass sie die immer wieder kehrende Aufbruchsstimmung, die Abenteuerlust und die klassischen Radikalisierungsprozesse bei Teilen der jungen Generationen zu bedienen versteht – und deshalb auch außerhalb oder manchmal im Konflikt mit Familientraditionen im muslimischen Milieu rekrutiert, und ein überdurchschnittlicher Prozentsatz an Konvertiten anzieht.

Organisches Umfeld

Mit dieser Feststellung kann aber nicht die Frage der ideologischen Provenienz und des organischen Umfelds des Dschihadismus ausgeklammert werden, also der muslimischen Religion und des von ihr geprägten Kulturkreises. Über die Möglichkeiten und die Praxis einer totalitären oder zumindest beengenden Auslegung des Islams ist in den letzten Jahren viel und profund publiziert worden. Das selbe gilt bezüglich der Traditionen und dem Potential einer humanistischen Islam-Interpretation. Beides ist wichtig, weil es, komplementär betrachtet, den Islam, oder besser gesagt „die Islame“, wie alle Religionen, als bewegliches Konzept erschienen lässt, ohne dabei schwergewichtige, totalitäre und anti-humanistischen Schlagseiten zu verharmlosen.

Aber jenseits dieser Auseinandersetzung mit den historisch gewachsenen Gedankengebäuden und den praktischen Beispielen der Herrschafts-Geschichte und Herrschafts-Aktualität einer Religion, soll hier, der Fasslichkeit halber,  der Blick auf die allerjüngste Entwicklung in Frankreich eingeengt werden.

Die leitenden Instanzen des traditionellen Islams Frankreichs und seine Würdenträger haben – selbstverständlich könnte man sagen – mit Empörung und Anteilnahme auf die jüngsten Attentate reagiert. Nach der Ermordung des katholischen Priesters vor seiner Kanzel in der Kirche in der Normandie hatte die Dachorganisation des muslimischen Kults (CFCM – „Conseil francais du culte musulman“) dazu aufgerufen, an den darauffolgenden Sonntagsmessen der katholischen Kirchen, im Zeichen der Trauer um den getöteten Priester, landesweit teilzunehmen. Dem Aufruf folgten schätzungsweise hunderte muslimische Gläubige, vielleicht waren es landesweit auch einige tausend. Ihre Präsenz war namentlich in der Pariser Notre-Dame-Kathedrale auffällig und vor allem in der Kirche am Tatort, in Saint-Etienne-du-Rouvray, und im Dom der nahen normannischen Metropole Rouen. Dort standen dem Trauergottesdienst die Vertreter sämtlicher in der Normandie vertretenen Konfessionen, also der Katholiken, Protestanten, orthodoxen Christen, Muslime, Buddhisten und Juden vor. Schon zuvor hatten in Saint-Etienne-du-Rouvray rund 200 Muslime an einer Trauerkundgebung mit insgesamt über 2000 Teilnehmern im Ortsstadium teilgenommen. Außerdem hatte die örtliche Moschee die Katholiken zur Freitagsandacht eingeladen, wobei ein katholischer Geistlicher vor den versammelten muslimischen Gläubigen das Wort ergriff. Frankreichs TV-Sender konnten bei all diesen Zeremonien berührende Szenen der Verbundenheit filmen.

Auf den ersten Blick wirkt die muslimische Teilnahme prominent bestückt, wenn man die in den Kirchen anwesenden islamischen Würdenträger berücksichtigt. Zahlenmäßig blieb die muslimische Präsenz aber in eher bescheidenem Rahmen. Der franko-marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun erklärte in einem Beitrag im Pariser Blatt „Le Monde“, nun sei eine „rote Linie überschritten worden. In eine Kirche eintreten, einen alten Mann, einen Priester wie ein gemeines Lamm schlachten, das selbe bei einer zweiten Person zu versuchen, und sie in ihrem Blut liegen lassen, den Namen der Organisation Islamischer Staat rufen, dann sterben, ist eine Kriegserklärung, ein Religionskrieg“. Zu sagen: „So etwas ist nicht der Islam“ genüge nicht mehr: „Immer mehr Menschen glauben uns nicht, wenn wir sagen, der Islam ist eine Religion des Friedens und der Toleranz… Wenn wir zeigen wollen, dass der Islam nicht darin besteht, einen Priester zu schlachten, dann müssen wir in Massen auf die Straße gehen und uns um einen Slogan vereinen: den Islam aus den Klauen des IS zu lösen… Die religiösen Instanzen (des Islams) müssen Millionen Bürger, die dem gemeinsamen Hause des Islams angehören, ob gläubig oder nicht, auf den Straßen versammeln… Wenn wir weiterhin passiv zuschauen, was sich vor uns zusammenbraut, werden wir früher oder später zu Komplizen der Mörder“.

Prominente Reaktionen und anonyme Ambivalenz

Gemessen an diesem Aufruf von Tahar Ben Jelloun und anderen Stellungnahmen von liberalen und (selbst-)kritisch engagierten Intellektuellen, die sich in verschiedenen Varianten als Muslime verstehen, hat sich also relativ wenig getan. Andererseits war die Beteiligung von Nicht-Muslimen an den Trauergottesdiensten – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl – generell gering. Eine massive Mobilisierung der Muslime als solche ist außerdem, sieht man einmal von örtlichen Ausnahmen ab, ein ungewohntes Unterfangen. Immerhin gab es im Juni, in der Kleinstadt Mantes-la-Jolie im nördlichen Pariser Einzugsgebiet, nach dem Doppelmord an einem Polizistenpaar in ihrem Einfamilienhaus durch einen 25 jährigen Anhänger des „Islamischen Staats“,  eine beeindruckende und massive Reaktion  des örtlichen Moscheen-Verbands: dieser organsierte eine Trauerdemonstration, die von der Zentralmoschee der Stadt zum Kommissariat führte. Die Demonstranten hielten Fotos der ermordeten Polizisten hoch. Teilnehmer beteuerten, sie fühlten sich durch diese Tat „beschmutzt“. An dem Marsch nahmen rund 4000 Personen teil, was für eine derartige Kleinstadt viel ist..

Jenseits dieser Zahlen-Erhebungen lässt sich aber ein gewisser Trend ausmachen, der einstweilen bei vielen, mehr oder weniger praktizierenden muslimischen Gläubigen auf Passivität und auch auf eine De-facto-Ambivalenz hinausläuft. Einige von Medien befragte Muslime ließen durchblicken, dass sie sich angesichts der Grausamkeit des Geschehens in der Normandie einfach nicht in eine Kirche getraut hätten. Andere, schon wesentlich strikter ausgerichtete Gläubige beteuerten, sie würden zwar den Schmerz über die Ermordung des Pfarrers „in ihrem innersten voll teilen“, das Betreten eines christlichen Gotteshaus käme aber für sie einer Sünde gleich. Bei privateren Gesprächen stieß man aber häufig auf einen Anflug von Ärger: man würde die Muslime schon alleine durch die an sie herangetragenen Erwartungen nach Distanzierung, in die Nähe „isolierter“ und „verrückter Einzelgänger“ rücken. Diese Distanzierungserwartungen werden vielfach als Zumutung empfunden. Oft klagen befragte Muslime, sie würden eine Art von „Doppelbestrafung“ erleiden: als Bewohner französischer Städte sind sie genauso Terroranschlägen ausgesetzt wie die übrige Bevölkerung (etwa ein Drittel der Anschlagsopfer von Nizza waren Angehörige muslimischer Familien, was auch von Frankreichs Medien hervorgestrichen wurde) aber obendrein würden sie in Folge der Attentate zusätzlichen Anfeindungen als Muslime ausgesetzt sein.

In Brennpunktvierteln und Sozialbau-Siedlungen, in denen überwiegend muslimische Familien leben und die Arbeitslosenrate oftmals doppelt so hoch als im Landesschnitt ist, rechnet man nach jedem Anschlag mit zusätzlicher sozialer Ausgrenzung. Träger muslimisch klingender Namen erleiden erwiesenermaßen Benachteiligungen bei der Job- oder Wohnungssuche (auf dem privaten Wohnungsmarkt), bei innerbetrieblichen Aufstiegsbemühungen und sogar bei Reservations-Ansuchen um Urlaubsunterkünfte.

Polizei-Übergriffe und Jugendkriminalität

Dazu kommt das oft chronisch gespannte Verhältnis in sozialen Krisenvierteln mit der Polizei. Junge Franko-Maghrebiner und Franko-Afrikaner klagen über demütigende Dauerkontrollen und unbegründete oder unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch Beamte, vereinzelt mit tödlichem Ausgang. So starb erst am 19.Juli in der Kleinstadt Beaumont-sur-Oise, nördlich von Paris, ein 24 jähriger Franko-Afrikaner, Adama Traore, im Zuge seiner Festnahme, vermutlich durch Erstickung. Der Mann war während der ursprünglichen Verhaftung seines Bruders (gegen den wegen des Verdachts auf Erpressung mit Gewaltanwendung ermittelt wurde) fortgelaufen, deswegen verdächtig erschienen und ebenfalls festgenommen worden.

Aber solche Vorfälle müssen auch an den gefährlichen Begleitumständen der Polizei-Arbeit werden. Für die Polizei und sogar für die Feuerwehr kann auch jeder Routine-Einsatz in gewissen Brennpunktvierteln und Sozialbau-Siedlungen zum Spießrutenlauf werden: Drogen-Banden, die auch immer häufiger von Schusswaffen Gebrauch machen, halten Gebäude-Blöcke und die dazu gehörigen Höfe unter ihrer Kontrolle und dulden kaum Behördenpräsenz. Sie können, je nach Bedarf, einen Schwarm Halbwüchsiger zum Angriff loshetzen, die nur darauf warten, sich in eine Straßenschlacht zu stürzen.

Die sozialistische Staatsführung scheiterte zwar bisher an der chronischen Krise des französischen Arbeitsmarkts und dem schwächelnden Wirtschaftswachstum, weshalb ihr der Spielraum abhanden kam, um die Problematik der „sozialen Apartheid“ (von der SP-Premierminister Manuel Valls unumwunden spricht) energischer anzugehen. Andererseits bietet Frankreich noch immer ein vergleichsweise eng gestricktes Netz an Stützen. Zuletzt wurden öffentliche Fördermaßnahmen für junge Menschen aus benachteiligten Milieus weiter ausgebaut.  Das ist kein paradiesischer Zustand, aber auch keine soziale Hölle. Gegenüber dem Islam und den Muslimen überwiegt trotz des dschihadistischen Terrors die Akzeptanz. Das zeigten auch wieder Umfragen im Frühjahr, also nach dem Schock über die Massaker, die  im Auftrag des „Islamischen Staats“ im November 2015 in Paris verübt wurden und den darauf folgenden laufenden Attentatsdrohungen und gescheiterten Anschlagsversuchen. Unter dem Eindruck der überwiegend moderaten Reaktionen auf das Gemetzel von Nizza konstatierte der muslimische Religions-Anthropologe Malek Chebel: „Die französische Gesellschaft hat Reife und Gelassenheit gezeigt. Sie kann nicht toleranter sein, als sie bereits ist“.

Kaum rechtsradikale Gewalt

Auch der Vormarsch des rechtspopulistischen „Front National“ bei Wahlen hat bisher daran wenig geändert. Übergriffe gegen Muslime von Seiten militanter rechtsradikaler Gruppen sind kaum zu verzeichnen. Derartige Bewegungen sind in Frankreich in den letzten Jahren bedeutungslos geblieben und verfügten zumindest bisher in urbanen Zonen nicht über die nötige Mindest-Zahl an Aktivisten, um ein relevantes Bedrohungspotential auf den Straßen darzustellen. Die Zahl anti-muslimischer Taten (Schmierereien, Beschimpfungen in der Nachbarschaft oder auf öffentlichen Plätzen) ist zwar zuletzt angestiegen, im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil (Frankreich zählt rund fünf Millionen Muslime) und im Europa-weiten Vergleich aber immer noch gering. Gewalttakte gegen Muslime sind eher selten. Während antijüdische Übergriffe, die fast immer von jungen Muslimen ausgehen, gemessen am geringen jüdischen Bevölkerungsanteil (Frankreich zählt rund 500.000 Juden –  weniger als ein Prozent der Einwohnerschaft) verhältnismäßig oft registriert werden und bei jeder Verschärfung der Lage im Nahen Osten noch weiter anwachsen.

Der Diskurs der katholischen Würdenträger war nach dem Mord von Saint-Etienne-du-Rouvray geprägt vom Streben nach mehr „Brüderlichkeit“ mit den Muslimen und eindringlichen Warnungen gegen (anti-muslimische) Verallgemeinerungen, Hass oder Revanchegelüste. Dabei war Saint-Etienne-du-Rouvray und der hingeschlachtete Priester, Jacques Hamel, bereits ein Musterbeispiel der transkonfessionellen Verbrüderung. Die Kleinstadt, rund 29.000 Einwohner, gehört zum Einzugsgebiet der normannischen Metropole Rouen. Es handelt sich um eine weitgehend von Arbeiterfamilien geprägte Kommune, die seit den 1930er Jahren und bis heute von linken Bürgermeistern gelenkt wurde, die stets auf die respektvolle Aufnahme und Eingliederung der sukzessiven Zuwandererströme bedacht waren. Das Zusammenleben und Zusammenwachsen war auch vor Ort bisher reibungslos verlaufen, wie Anrainer der Kirche in ersten Interviews immerzu betonten.

Kirche und Moschee neben- und mit-einander

Es ist eine tragische Ironie, dass gerade der ermordete Priester Jacques Hamel zur Entscheidung beigetragen hatte, einen ungenützten Teil des Grundstücks, das zur Kirche gehörte,  der muslimischen Gemeinde für einen reinen symbolischen Preis zu überlassen. Daher wurde die Moschee gleich neben der Kirche errichtet. „Wir befinden uns nicht nur Tor zu Tor, sondern haben auch öfters auf ganz selbstverständliche Weise gemeinsame Aktionen durchgeführt“, berichteten Vertreter der muslimischen Gemeinde.

Der Werdegang der Familie Kermache – mit Ausnahme des Attentäters Adil – ist auch gewissermaßen Ausdruck dieses entspannten Klimas, das bisher in Saint-Etienne-du-Rouvray vorherrschte. Unter seinen Geschwistern befinden sich erfolgreiche Lehrerinnen und eine angesehene Ärztin.  Ein befreundeter Nachbar, Christian, erzählte dem „Parisien“: „Seine Schwestern, seine Eltern und ich haben alles versucht, um ihn davon (seiner Faszination für den Dschihad) abzubringen. Aber er war wie unter einer Glashülle, unerreichbar“.

Es war auch einer Meldung der besorgten Eltern bei den Behörden zu verdanken, dass Adils erster Versuch, im März 2015 zum „Islamischen Staat“ nach Syrien zu gelangen, schon an seiner Festnahme in Deutschland scheiterte. Die französische Justiz setzte auf Pädagogik und verordnete dem damals erst 18 jährigen Heimkehrer berufsbildende Lehrgänge und

Ent-Radikalisierungs-Gespräche unter Behördenkontrolle. Adil startete aber noch im Mai 2015 seinen zweiten Trip nach Syrien und wurde in der Türkei geschnappt. Danach kam der unbeirrbare Dschihad-Anwärter in Frankreich in Haft. Im März 2016 wurde er aber, trotz des Einspruchs der Staatsanwaltschaft, aus dem Gefängnis entlassen, mit einer elektronischen Fußfessel versehen und in der Einfamilienvilla seiner Eltern in Saint-Etienne-du-Rouvray unter Hausarrest gestellt – mit Ausnahme von vier Vormittagsstunden, während derer er dann das Verbrechen in der nahen Kirche beging.

Im Kontrast zu den Irrungen Adils wird also deutlich, wie sich seine Familie und sein franko-maghrebinischer Umkreis auf weitgehend selbstverständliche Weise in die offene Gesellschaft Frankreichs einordneten, was wohl graduell für eine Mehrheit der muslimischen Familien Frankreichs zutrifft. Wenn man aber den Fall von Adil Kermache und der Kleinstadt Saint-Etienne-du-Rouvray genauer betrachtet, wird freilich auch klar, dass die dschihadistische Rekrutierung doch wiederum an den Ausläufern und Rändern der muslimischen Soziabilität und in Anlehnung an den islamischen Kult stattfindet.

Adil war nicht bloß ein eigenbrötlerischer Irrläufer, er hatte Kontakte in einem kleinen Milieu von radikalisierten und hyper-orthodoxen jungen Muslimen beziehungsweise konvertierten Neo-Muslimen, die die Moschee zumindest zeitweilig besuchten. Auch seine Suche nach sexuellen Partnerinnen veranstaltete Adil in konfessionellen Bahnen und unter Zuhilfenahme ritueller Hüllen: so überredete er mehrmals streng gläubige Muslima zu einer „religiösen Heirat“, die er gleich nach „Vollzug“ wieder verstieß. Einer umgarnten jungen Frau drohte er online: „Ich möchte Dich vor dem Ramadan (dem islamischen Fastenmonat) heiraten. Wenn du Nein sagst, bring ich mich um“.

Alltagsdruck durch eifernde Muslime

In so einem Kontext geraten die hyper-orthodoxe Teile der muslimischen Szene – meisten unter dem Begriff „Salafisten“ subsumiert – unter Verdacht, und darunter auch jene die einem weltabgewandten Pietismus ohne politische Agenda huldigen, und die sich, stellenweise, vom dschihadistischen Terror klar distanziert haben.

Die eiferndesten Teile des Islams sind zwar schwer quantifizierbar, sie sorgen aber für Unbehagen und Reibungspunkte im alltäglichen Zusammenleben. Da geht es nicht um Terror, aber um anhaltenden Druck, den jüngere Muslime in einigen Vierteln und Siedlungen ausüben können. Eine katholische Sozialaktivisten, die früher ganz selbstverständlich konfessionsübergreifend tätig war, erzählt: „Wir mussten Kinder christlicher afrikanischer Eltern aus einer Schule in eine andere bringen, weil sie dort, wo sie ursprünglich waren, von der muslimischen Mehrheit ständig bedrängt wurden, sich zu bekehren, und deswegen immer Tätlichkeiten ausgesetzt waren. Das hat mich schon erschüttert.“

In Mantes-la-Jolie, wo (wie eingangs geschildert) der Moscheen-Verband im Juni zu einer Trauerdemonstration für das ermordete Polizistenpaars aufgerufen hatte, reagierte ein katholischer Geistlicher mit einer gewissen Skepsis auf diesen muslimischen Solidaritäts-Elan: „Das ist für uns im lokalen Kontext nicht so einfach. Die muslimischen Kinder, die hier den Koran-Unterricht in Moscheen besuchen, sagen unseren christlichen Kindern, sie würden in der Hölle landen.“ Und die Chefredakteurin der liberalen katholischen Tageszeitung „La Croix“, Isabelle de Gaulmyn, warnte zwar vor „Verallgemeinerungen“, ortete aber doch einen „Nachholbedarf bei Muslimen in Sachen Pluralität und Toleranz“.

Faktisch liegt es auf der Scheide und ist von Ort zu Ort unterschiedlich, ob muslimische Glaubensstrukturen zumindest als günstiges Umfeld für Dschihadistenkreise dienen oder, ganz im Gegenteil, das Abdriften von anfälligen jungen Menschen zu stoppen versuchen und nötigenfalls die Behörden alarmieren.

Jüdische Dschihad-Opfer übergangen

Wie verzwickt und hürdenreich sich dieses Ringen im muslimischen Milieu gestaltet, offenbarte sich zuletzt ausgerechnet bei einer grundsätzlich sehr positiven und ermutigenden Initiative. Muslimische Persönlichkeiten – darunter Politiker, Schriftsteller, Philosophen, Theologen, Ärzte, Forscher, Künstler, Juristen, Unternehmer, Manager und Banker – veröffentlichten im der Zeitung „Le Journal du Dimanche“  einen viel beachteten Aufruf für eine Erneuerung der Instanzen des französischen Islams. Die gegenwärtigen Strukturen seien unfähig, „endlich den Kulturkampf gegen den radikalen Islamismus zu führen… Die Muslime in Frankreich bestehen zu 75 Prozent aus Franzosen. Die Mehrheit davon ist jung oder sehr jung. Zahlreiche unter ihnen sind in die Fänge der Ideologien des dschihadistischen Islams und des politischen Islams geraten. Die traditionellen Vertreter (des Islams) verstehen sie nicht, weil sie sie schlicht nicht kennen“.

So weit, so gut. Aber einangs hatten die Verfasser in ihrem Aufruf alle Terroranschläge der vergangenen Jahre aufgezählt – unter Auslassung der Geiselnahme und Ermordung von vier Kunden im jüdischen Supermarkt „Hypercasher“  in Paris im Januar 2015 (fast zeitgleich zum Gemetzel in den Redaktionsräumen von „Charlie-Hebdo“, das im besagten Aufruf sehr wohl erwähnt wurde). Nicht genannt blieb auch die Ermordung von drei Kindern und einem Lehrer in einer jüdischen Schule in Toulouse im März 2012 (der eigentliche Auftakt der dschihadistischen Morde in Frankreich. Wobei der Attentäter, der 23 jährige Franko-Algerier Mohamed Merah, ein Anhänger der „Al Kaida“,  knapp zuvor auch drei französische Soldaten, darunter zwei Franko-Maghrebiner, erschossen hatte).

Als erste, vorsichtige Kritik seitens jüdischer Organisationen an diesen Auslassungen geäußert wurde, veröffentlichten die Autoren des Aufrufs ein Postskriptum: „Wir … machen keinen Unterschied zwischen den Opfern des blinden Terrors, der unsere Nation trifft… Ob jüdische Schüler in Toulouse oder Kunden des Hyper-Casher, die ermordet wurden, weil sie Juden waren, ob ein katholischer Priester, der in seiner Kirche zum Märtyrer wurde, ob ein muslimischer Soldat oder ein Polizist, die während ihres Dienstes erschossen wurden… die Liste der Opfer ist schrecklich lang und so verschieden wie die Zusammensetzung unserer Nation… Wir werden gemeinsam – Juden, Christen, Muslime, Agnostiker und Nicht-Gläubige – diesen Kampf führen müssen, mit all unseren Kräften… Bleiben wir solidarische Bürger.“

Diese nachträgliche „Präzisierung“ (wie die Aufrufs-Autoren ihr Postskriptum nannten) wurde von jüdischen Persönlichkeiten wohlwollend aufgenommen und beendete die Polemik. Aber die ursprüngliche Auslassung der jüdischen Dschihad-Opfer könnte den namhaften Psychoanalytikern (die ebenfalls unter den Aufrufs-Unterzeichnern vertreten sind) noch Anlass für manch überraschende (Selbst-)Erkenntnis bieten.

Bild oben: Gedenken an die Opfer von Nizza, 16. Juli 2016, H.Murdock/VOA, wikipedia