Die Schlammschlacht

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Eine Woche lang herrschte in Israel Achterbahn-Stimmung. Politische Karrieren wurden schlagartig beendet, andere nahmen eine überraschende Wendung. Der Sieger heißt Benjamin Netanyahu, zumindest für den Moment…

Von Ralf Balke
Jungle World v. 02. Juni 2016

Vor laufender Kamera und den anwesenden Journalisten wird reichlich gefrotzelt, man macht einen auf Kumpel. »Wir kennen uns seit bald 30 Jahren«, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Mitte vergangener Woche und blickte rüber zu Avigdor Lieberman, dem Vorsitzenden der Partei Israel Beitenu. »Er und ich haben uns im Eifer des Gefechts auch schon viel Unschönes an den Kopf geworfen, das besser ungesagt geblieben wäre.« Nun scheint alles vergeben und vergessen – vorläufig jedenfalls. Schließlich will der Ministerpräsident einen Koalitionsvertrag unter Dach und Fach bringen. Und zwar mit der Person als Partner, die die Presse zuvor als »Netanyahus gefährlichsten Gegner« bezeichnet hat.

Dank Israel Beitenu kann Netanyahu seine hauchdünne Regierungsmehrheit in der Knesset von zuvor 61 auf 66 Sitze von 120 ausbauen. Und Lieberman selbst wird Verteidigungsminister – für viele eine überraschende Ernennung. Denn der aus dem heutigen Moldawien stammende Politiker, der in der Hauptstadt Chişinău seine Karriere als Türsteher vor einem Nachtclub begonnen hatte und sich als Sprachrohr der russischen Einwanderer in Israel versteht, verfügt über so gut wie keine militärische Expertise. Am Ende seiner Zeit bei den Streitkräften Israels hatte er es gerade einmal zum Unteroffizier gebracht. Zudem war sein Verhältnis zu Netanyahu – freundlich formuliert – eher durchwachsen, so nannte er den Ministerpräsidenten einen Lügner, der absolut unfähig sei, für Israels Sicherheit zu sorgen. Und als Mann fürs Grobe forderte Lieberman schon mal die Bombardierung des Assuan-Staudammes in Ägypten oder die Wiederbesetzung des Gaza-Streifens. Doch nun gibt auch er sich jovial und verspricht, nicht mehr so rasch zu explodieren wie früher: »Ich habe mich extra einer Operation unterzogen, um meine Zündschnur zu verlängern.«

Dem Koalitionsabkommen ging eine Achterbahnfahrt voraus, die selbst für israelische Verhältnisse atemberaubend war. Eigentlich war Netanyahus Wunschpartner Oppositionsführer Yitzhak Herzog von der linksbürgerlichen Zionistischen Union, in der sich die Arbeitspartei, die liberale Hatnuah und die Grüne Bewegung zusammengeschlossen haben. Kurzzeitig sah es so aus, als würde Herzog für seinen Eintritt in die Regierung das Außenministerium erhalten. US-Außenminister John Kerry und Ägyptens Präsident Abd al-Fattah al-Sisi hätten das als wichtiges Signal begrüßt, sagte er. Doch dann machte er im letzten Moment einen Rückzieher. Seine Begründung: Netanyahu habe seine positive Haltung gegenüber einem regionalen Friedensabkommen, das im wesentlichen auf der von Saudi-Arabien initiierten Friedensinitiative aus dem Jahr 2002 basiert und eine Zwei-Staaten-Lösung sowie die Anerkennung Israels vorsieht, nicht wirklich geteilt.

»Ich war der Ansicht, dass im Moment eine wirklich große Chance zur Umsetzung existiert«, rechtfertigte sich Herzog. »Mehrere gemäßigte arabische Staatschefs hatten ihre Bereitschaft signalisiert, einen fundamentalen Wechsel einzuleiten.« Doch Netanyahu habe aus Angst, dass ihm der Likud die Gefolgschaft verweigere, den Schwanz eingezogen. Zudem habe Netanyahu alle Vereinbarungen nur mündlich und nicht schriftlich gewollt. Aber auch die – so Herzogs Worte – »Linksradikalen« seiner eigenen Partei seien ihm in den Rücken gefallen. In der Tat sind viele stinksauer über die Verhandlungen mit Netanyahu und beschimpfen Herzog nun als Steigbügelhalter Liebermans. Allen voran seine Amtsvorgängerin Shelly Yachimovich, die seinen Rücktritt fordert. Egal wie das Hauen und Stechen in der Zionistischen Union ausgeht, Herzogs politische Karriere dürfte wohl vorbei sein. Sein ohnehin schwaches Image hat einen Totalschaden erlitten.

Zweites Opfer der vergangenen Tage ist der hoch angesehene Verteidigungsminister Moshe Ya’alon, der dem Likud angehört und einem demütigenden Rauswurf durch Rücktritt zuvorkam, als er von dem Angebot Netanyahus an Lieberman hörte. Der resolute Armeemann hatte immer wieder Position gegen politischen Extremismus, Gewalt und Rassismus bezogen, die seiner Auffassung zufolge die Grundfesten der israelischen Gesellschaft bedrohen, so auch im Fall der Tötung des bereits verletzt auf dem Boden liegenden palästinensischen Attentäters in Hebron durch einen israelischen Soldaten vor wenigen Wochen. »Unser moralischer Kompass in fundamentalen Fragen ist verloren gegangen«, sagte Ya’alon denn auch anlässlich seines ersten öffentlichen Auftritts nach der Amtsniederlegung – ohne Netanyahu oder Lieberman namentlich zu erwähnen. Ob Ya’alon nach einer Karenzzeit wieder in die Politik zurückkehrt und womöglich Ambitionen hat, Ministerpräsident zu werden, wird die Zukunft zeigen.

Bei vielen Israelis herrscht Unverständnis darüber, worum es eigentlich in den vergangenen Tagen gegangen ist. »Um politische Inhalte wohl eher nicht«, lautet dazu die Meinung von Dani Friedman, einem 53jährigen Orthopäden aus Herzliya. »Vielmehr erleben wir eine neue Runde in den krampfhaften Bemühungen, den Status quo um jeden Preis aufrechtzuerhalten.« Ganz nach dem Motto: Es muss sich was ändern, damit alles so bleibt, wie es ist. »Dass Lieberman nun Verteidigungsminister geworden ist, bereitet mir keine zusätzlichen Kopfschmerzen.« Trotzdem ist er von der Entscheidung Netanyahus alles andere als begeistert. Denn ein Sohn ist bereits beim Militär, die Tochter wird im Sommer eingezogen. »Als Vater oder Mutter fängt man in Israel schon unmittelbar nach der Geburt seiner Kinder an, sich Sorgen darüber zu machen, wie sie wohl die Militärzeit überstehen werden.« Wie die meisten vertraut auch er auf die erfahrenen Generäle und Kommandanten der Streitkräfte. »Lieberman ist in jeder Hinsicht auf sie angewiesen. Er kann nicht einfach gegen sie arbeiten, sondern muss mit ihnen kooperieren.«

Das beruhigt nicht nur ihn. Schließlich ist Israel ein Sonderfall, was das Verhältnis zwischen Militär und politischer Führung betrifft. Im jüdischen Staat sind es nicht selten die Armeechefs oder Verantwortlichen der Geheimdienste, die Politiker mäßigen und die Einhaltung von Gesetzen oder Menschenrechten einfordern, und nicht umgekehrt.

Klar, Lieberman gilt als impulsiv und ungehobelt. Zudem hat er aufgrund zahlreicher Korruptionsverfahren nicht gerade den besten Ruf. Auch als er erstmals 2009 zum Außenminister ernannt wurde, war das Entsetzen anfänglich groß. Einmal im Amt, erwies er sich aber als äußerst pragmatisch. Und im Verhältnis zu den USA riskierte er anders als Netanyahu keine Verstimmungen, sondern legte viel Wert auf ein gutes Klima. Auch deshalb gerieten beide gelegentlich aneinander. Aber viel wichtiger: Im Unterschied zu Naftali Bennett von der Partei HaBeit HaYehudi, seinem Konkurrenten um rechte Stimmen, steht er der Siedlerbewegung eher leidenschaftslos gegenüber. Aufgrund seiner eigenen eher säkularen Haltung kann Lieberman mit den Kampfbegriffen der Nationalreligiösen wie »Heiliges Land« nicht viel anfangen. Das macht ihn in Fragen territorialer Kompromisse eher verhandlungsbereit.

Am besten brachte diese Haltung der erfahrene US-Unterhändler Martin Indyk auf dem Punkt. Via Twitter urteilte er, dass es sich mit Lieberman womöglich besser zusammenarbeiten ließe als mit seinem Amtsvorgänger: »Lieberman sagt oft schlimme Dinge, aber ich erinnere mich daran, dass er Kerrys Friedensinitiativen unterstützte, während Ya’alon beleidigend war.«

Foto: (C) Michael Thaidigsmann