Theodor Herzl, dessen Geburtstag sich heute, am 2. Mai zum 156. Mal jährt, gilt als Begründer des politischen Zionismus. Ohne seine Initiative hätte die Bewegung wohl nicht so bald die aktive Dimension bekommen, die schließlich in der Gründung des Staates Israel mündete. Anfang des Jahres sind zwei neuen Bücher zu Theodor Herzl erschienen, beide im Jüdischen Verlag im Suhrkamp, beide von namhaften Autoren. Unterschiedlicher könnten sie ansonsten nicht sein…
Von Andrea Livnat
Am 3. September 1897, nach dem ersten Zionistenkongreß, notierte Herzl in sein Tagebuch: „Fasse ich den Baseler Kongreß in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universales Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.“ Tatsächlich sollte es nur wenig mehr als 50 Jahre dauern bis seine Vision Wirklichkeit wurde.
Benjamin Seev Herzl, wie er in Israel ausschließlich genannt wird, wurde als „Prophet des Staates“ zu einem der wichtigsten Symbole des Staates. Sein Bild wachte über der Unabhängigkeitserklärung durch David Ben-Gurion, sein Grab auf dem nach ihm benannten Hügel in Jerusalem wurde zu einem der bedeutendsten Orte der Identifikation des jungen Staates und dient auch heute noch als Kulisse bei den Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages. Jedes Kind kennt seinen Ausspruch „Im tirzu, ejn so agada“, „Wenn ihr wollt ist es kein Märchen“.
Herzl ist auch in der historischen Forschung gut aufgearbeitet, mindestens ein halbes Dutzend sehr guter Biographien steht zur Auswahl. Im Jüdischen Verlag im Suhrkamp ist nun eine neue erschienen, aus der Feder von Shlomo Avineri, emeritierter Professor für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem, der sich seit Langem auch mit Herzl beschäftigt. Avineri schreibt im Vorwort selbst, dass kein Mangel an ausführlichen Biographien Herzls herrscht. Einige würden die Dreyfus-Affäre als Auslöser für Herzls Hinwendung zum Zionismus benennen. Tatsächlich ist die Forschung schon lange so weit, dass Herzls Erfahrungen mit Antisemitismus in Österreich-Ungarn und Frankreich als Hintergrund herausgearbeitet wurden. Hier bringt Avineris Biographie bei Weitem keine Neuerung. Sein Schwerpunkt liegt auf der intellektuellen Entwicklung Herzls, seiner „Selbstfindung und Selbstbildung“. Als Hauptquelle dienen Avineri dabei Herzls Tagebücher. Auch das ist nichts wirklich Neues, Avineri selbst veröffentlichte schon 1999 einen Aufsatz über die Tagebücher.
Dennoch, Avineri arbeitet Herzls Umfeld, die Gegebenheiten in Budapest und Wien, gut auf, so dass sein Weg zum Zionismus klar wird. Herzl, der Jura studiert hatte, wechselte, nachdem ihm bei Gericht die Aufstiegsmöglichkeiten als Jude verwehrt blieben, ausgerechnet zur Presse, wo Juden, wie in anderen freien Berufen, stark überrepräsentiert waren. Die Konfrontation mit dem alltäglichen Antisemitismus brachte ihn dazu, sich mit der „jüdischen Frage“ auseinanderzusetzen. Lange vor der Dreyfus-Affäre war Herzl mit Antisemitismus konfrontiert. Er erlebte Antisemitismus zu Hause in Wien, wo der spätere Bürgermeister Karl Lueger politisch aktiv war, während seiner Studienzeit, auf Reisen und im Alltag, darüber geben tatsächlich seine Tagebücher Auskunft.
Avineri führt weiter an, dass nicht wenige Darstellungen übersehen, „wie beharrlich er darauf bestand, daß im zukünftigen jüdischen Gemeinwesen die arabische Bevölkerung Palästinas vollkommen gleichberechtigt sein und am politischen Leben des Landes teilnehmen sollte“. Das ist richtig, Avineri selbst stützt sich hier vor allem auf die Analyse von Herzls utopischem Roman „Altneuland“ und der Figur des Arabers Reschid Beys. Tatsächlich vereint „Altneuland“ die unterschiedlichen Aspekte von Herzls Persönlichkeit und Wirkem, sein schriftstellerisches Talent, seine juristische Expertise, seine Technikbegeisterung und sein Interesse an den brennenden sozialen Fragen seiner Zeit, so dass Altneuland, wie schon Steven Beller in seiner Biographie zu recht festhielt, eines der wichtigsten Dokumente ist, um Herzl als zionistischen und jüdischen Denker zu verstehen.
Auf eine bemerkenswerte Tatsache machte 2005 der kanadische Historiker Derek Penslar aufmerksam. Während Herzls Sicht der Araber in der allgemeinen Historiografie fast keine Erwähnung findet, ist sie zentral in der anti-zionistischen Argumentation und Geschichtsschreibung. Die Kritiker Herzls beziehen sich dabei im Wesentlichen auf eine Passage in Herzls Tagebuch, die er im Zuge der langen Eintragung am 12. Juni 1895 niederschrieb: „Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte expropriieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“ Daraus zu schließen, Herzl habe eine „arabische Emigration“ oder gar einen „Transfer“ befürwortet, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Herzl arbeitete im Frühjahr 1895 wie besessen an seiner Idee eines Judenstaates. In seinem Hotelzimmer zurückgezogen, fern von Familie und Freunden schrieb er in einem emotionalen Sturm der Inspiration seine Gedanken nieder. In einer als manisch zu bezeichnenden Phase entstand so auch die oben erwähnte Eintragung aus der ersten Juni-Hälfte. Entscheidend ist in Bezug auf die Gedanken einer Vertreibung und Enteignung, dass Herzl zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht konkret von Palästina sprach. Argentinien war für ihn eine gute und in vielen Aspekten zu bevorzugende Option. Daher ist im entsprechenden Zitat auch nicht die Rede von Arabern, sondern allgemein von „Bevölkerung“. Dass Herzl eben nicht notwendiger Anhänger einer Vertreibung war, kann gleich die nächste Eintragung am 12. Juni bestätigen, wo es heißt: „Selbstverständlich werden wir Andersgläubige achtungsvoll dulden, ihr Eigentum, ihre Ehre und Freiheit mit den härtesten Zwangsmitteln schützen. Auch darin werden wir der ganzen alten Welt ein wunderbares Beispiel geben.“
Insgesamt ist Avineris Biographie gut lesbar und gründlich in ihrer Herangehensweise, auch wenn sie keine neuen Ansatzpunkte bietet. Avineri zeigt im Detail, warum ausgerechnet Herzl dem Zionismus dazu verhalf, auf internationaler Bühne erfolgreich zu werden. Und so endet seine sehr empathische Betrachtung auch mit der Zusammenfassung: „Mehr als irgendeiner Persönlichkeit sonst, ist es Herzls weitem intellektuellen Horizont, seiner unerschöpflichen Energie, seinem politischen Fingerspitzengefühl und seinen Einsichten zu verdanken, daß die zionistische Idee von einem Traum zu einer dynamischen, organisierten politischen Bewegung auf solider institutioneller Basis wurde.“
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt die zweite Neuerscheinung im Jüdischen Verlag: Herzl Reloaded. Der Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici und der Soziologe Natan Sznaider verwickeln sich darin in einen Gedankenaustausch über den Judenstaat, über Israels Gegenwart und Zukunft mit keinem anderen als mit Herzl selbst. In einem fiktiven Email-Wechsel, der Herzl unter der Adresse teddyherzl@altneuland.com zu Wort kommen lässt, entspinnt sich eine Diskussion, aus der man viel über Israel lernen kann.
Rabinovici ist in Israel geboren und kam mit seiner Familie im Alter von drei nach Österreich, wo er auch heute lebt. Sznaider ging den umgekehrten Weg, er wurde in einem DP-Lager in der Nähe von Mannheim geboren und ging im Alter von 20 aus Überzeugung nach Israel. Diese unterschiedlichen Perspektiven tragen sehr viel dazu bei, dass diese Diskussion so interessant ist. Eine Diskussion, die auch angenehm unaufdringlich ist, ohne absoluten Wahrheiten zu beanspruchen.
Herzls Beiträge sind aus seinen Schriften zusammengesetzt und geben ihn wortgetreu wider. Das wirkt ein wenig hölzern, aber ist dennoch ein geschickter Kunstgriff, der das Dreiergespräch anregt. Viel dreht sich dabei um einen Vergleich zwischen Herzls Vision und der israelischen Wirklichkeit. Solche Vergleiche wurden natürlich auch in der Vergangenheit schon in Buchform unternommen. Beispielsweise von Shimon Peres, der Ende der 1990er Jahre mit Herzl eine imaginäre Reise unternahm. „Zurück nach Israel“ ist ein literarisch mäßiger Versuch, die Errungenschaften des Zionismus und den Zustand Israels zu beschreiben. Mit Theodor Herzl an der Seite berichtet Shimon Peres, der selbst im Jahre 1934 nach Palästina immigrierte, von Aufbau und Entwicklung des Landes, vom Aufblühen der Stadt Tel Aviv, von den Problemen des Zusammenlebens mit den Palästinensern, von der Urbarmachung des Landes, den Kibbutzim und dem technischen Fortschritt. In Jerusalem führt Peres seinen imaginären Gast an die Klagemauer und nach Jad wa-schem, um anschließend weiter nach Massada zu schweifen: „Ich möchte Herzl zeigen, daß wir Jahrzehnte nach der Geburt unseres Staates und mehr als ein Jahrhundert nach dem Baseler Kongreß endlich den Massada-Komplex und den Komplex der Furcht vor einem möglichen Untergang des Staates überwunden haben.“
Solcher Pathos ist Rabinovici und Sznaider mehr als fern. Sie benennen die Probleme des Landes ehrlich und nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Jerusalem etwa, sei nicht zum „Ort der Ruhe und des Gleichklangs geworden“, wie Herzl in Altneuland erträumte, „sondern ein Brennpunkt von Hass und Gewalt“ und „die Staaten der Welt schauen nicht voller Bewunderung nach Jerusalem. Ganz im Gegenteil.“ Die Siedlungspolitik erklärt Sznaider mit dem Hinweis, dass die Politik in Israel für religiöse Zwecke missbraucht wird. Jede politische Aktion sei zugleich metaphysisch aufgeladen. Natürlich dreht sich die Diskussion viel um die Besatzung und um die Veränderung des Landes durch die Besatzung. Die Debatte ist dabei so offen, wie sie nur unter Freunden sein kann, denen man hier über die Schulter schauen darf. Freunden wohlgemerkt, die keineswegs immer einer Meinung sind. So etwa Sznaider an Rabinovici: „Das säkulare, wohlfeile Israel in den neunzehn Jahren zwischen 1948 und 1967 ist eine mythische Verklärung derjenigen, die oft – so wie Du -, Doron, nicht mehr hier leben und sich einer jugendbewegten Nostalgie des „guten“ Israels gegenüber dem bösen post-1967 Israel hingeben.“
Auf einen wichtigen Punkt weist Sznaider am Ende hin: „Die meisten Menschen wollen ein kleines, nichtheroisches und ideologiefreier Leben führen, ihre Kinder in die Schule schicken, Urlaub machen, einen neuen Fernseher kaufen, eine Kaffee trinken gehen und den nächsten Tag überleben.“ Etwas, das man in den vielen Gesprächen, Auseinandersetzungen, Be- und Verurteilungen über Israel wohl zu oft vergisst.
Ein sehr lesenswerter Versuch, Herzls Vision des Judenstaates mit der israelischen Wirklichkeit abzugleichen – unbedingte Leseempfehlung. Denn wie Natan Sznaider schließt: „In der Tat ein toller Roman, dieses Israel.“
Shlomo Avineri: Herzl. Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, 361 S., Euro 24,95, Bestellen?
Doron Rabinovici, Natan Sznaider: Herzl reloaded. Kein Märchen, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, 207 S., Euro 19,95, Bestellen?