Jahre der Ungewissheit

0
65

Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938…

In einer Gesamtschau auf die 1930er Jahre präsentiert diese Studie von David Jünger einen Einblick in das Dilemma der Fragen der Emigration, die sich deutsche Juden vor der Zäsur des Jahres 1938 stellten. Dabei werden anhand einer Vielfalt zeitgenössischer Materialien sowohl institutionelle Emigrationspläne jüdischer Einrichtungen als auch Fragen individueller Entscheidungen ausgebreitet.

Entgegen dem gängigen Vorgehen, sich dem Gegenstand aus der Perspektive des später eingetretenen Holocaust zu nähern und damit den zögerlichen Haltungen zur Emigration mit Unverständnis zu begegnen, zielt die Untersuchung auf die Wirkmächtigkeit vorausgegangener Zeiten jüdischer Erfahrung mit Fragen der Staatsangehörigkeit, Minderheitenrechten und Migration. Hierdurch ergeben sich neue und erhellende Einsichten in die Verhaltensweisen und Erwartungshorizonte deutscher Juden angesichts des sich zunehmend radikalisierenden nationalsozialistischen Regimes.

Dr. David Jünger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin.

David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938. (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Bd. 24), Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 440 S., Bestellen? Als Ebook bestellen?

LESEPROBE:

Einleitung

Am 8. März 1939 versammelten sich in Berlin die Mitglieder des Hilfsvereins der Juden in Deutschland (HV) ((Bis 1935 Hilfsverein der deutschen Juden, danach umbenannt in Hilfsverein der Juden in Deutschland.)) zu einer Abschiedsfeier besonderer Art. Das langjährige Vorstandsmitglied Arthur Prinz (1898-1981) sollte wenige Tage später Deutschland verlassen, um nach Palästina auszuwandern und nie wieder zurückzukehren. Zum Abschied machten ihm die Vorstandskollegen ein außergewöhnliches Geschenk: die Aufführung eines kleinen Theaterstücks, der eigens für diesen Anlass geschriebenen Tragikgroteske mit Gesang und Tanz in einem Aufzug. In dem Stück wird die Arbeit des HV, die Betreuung und Unterstützung jüdischer Auswanderer aus Deutschland, persifliert. Im Mittelpunkt der Aufführung steht Arthur Prinz, an einem Schreibtisch sitzend und von mehreren Personen bedrängt, die ihn um Rat fragen, um einen Stempel, um Informationen und um andere Hilfestellungen bitten. Prinz und seine Kollegen Kurt Stillschweig (1905-1955) und Alexander Gutfeld (1898-?) versuchen, das Chaos zu beherrschen – vergeblich. Der »Chor der Rabbiner« ruft im Hintergrund immer wieder: »Wir wollen raus! Wir wollen raus! Wir wollen raus!« ((LBINY/AR 5103, Das Rundschreiben B 999 Guatemala oder Arthur’s Traum. Tragikgroteske mit Gesang und Tanz in einem Aufzug, 8. März 1939.)) Die Szenerie war ein getreues Abbild der Realität, die den HV im Frühjahr 1939 täglich umgab. Zu dieser Zeit gab es für Juden in Deutschland nur noch ein Ziel: die sofortige Flucht. Diese war jedoch mit unzähligen Hindernissen verbunden: Ausreisegenehmigungen, Passprobleme, Affidavits, Transitbescheinigungen, Einreisegenehmigungen, Arbeitserlaubnisse, Trauscheine, Devisenzertifikate und vieles mehr – Probleme, deren Lösung unter anderem zum Aufgabenbereich von Arthur Prinz gehörte.

Die Kollegen überreichten Prinz außerdem eine von Gutfeld in den Wochen zuvor gezeichnete Karte der fiktiven jüdischen Inselkolonie Jutopia. Die realen wie auch imaginierten Orte und Namen bilden eine Welt ab, wie sie sich demjenigen darstellte, der in den Dreißigerjahren mit Fragen der jüdischen Emigration aus Deutschland befasst war. Etwas vorgelagert im Nordosten liegt die »Insel der Seeligen«, weiter südlich das kleine Zion, die »Überflüsse« durchschneiden Jutopia von West nach Ost, und im Westen, unweit der kleinen und großen »Chamaden«, ((Nach dem hebräischen Wort »Chamad«, das so viel wie »Schönheit« oder »Anmut« bedeutet.)) münden die Flüsse Milch und Honig ins Meer. Die Karte sei, so besagt ihre Legende, »nach neusten Forschungen gezeichnet«. ((LBINY/AR 5103, MF 681, Series III: Manuscripts, 1918-1978; Subseries 1: Fiction, 1939; Box 1, Folder 31, Bl. 418: »H.-V. Kolonie / Jutopia / nach neusten Forschungen gezeichnet / A. Isr. Gutfeld – 1939.« Der Ordner enthält weiterhin ein Vademecum in lateinischer Sprache, ein fiktives Zeugnis und weitere Karten und Zeichnungen, die Arthur Prinz zu seiner Verabschiedung überreicht wurden. Die Karte »Jutopia« ist ebenfalls abgedruckt und analysiert in: Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad, 174-177. Ich danke Jan Eike Dunkhase für den Hinweis.))

Karte der fiktiven jüdischen Inselkolonie Jutopia, bezeichnet: »H.-V. Kolonie / Jutopia / nach neusten Forschungen gezeichnet / A. Isr. Gutfeld – 1939.« © LBINY/AR 5103, MF 681, Series III: Manuscripts, 1918–1978; Subseries 1: Fiction, 1939; Box 1, Folder 31, 8 March 1939, fol. 418.
Karte der fiktiven jüdischen Inselkolonie Jutopia, bezeichnet: »H.-V. Kolonie / Jutopia / nach neusten Forschungen gezeichnet / A. Isr. Gutfeld – 1939.«
© LBINY/AR 5103, MF 681, Series III: 
Manuscripts, 1918–1978; Subseries 1: Fiction, 1939; Box 1, Folder 31, 8 March 1939, fol. 418.

Der HV war seit 1933 die wichtigste jüdische Organisation zur Unterstützung der jüdischen Auswanderer. Arthur Prinz hatte seine Tätigkeit im HV nach seiner Entlassung aus der Humboldt-Universität zu Berlin im Juli 1933 aufgenommen, ab Ende 1935 als Leiter der Informationsabteilung. ((Arthur Prinz wurde in Guatemala-Stadt geboren, 1904 kehrte die Familie nach Deutschland zurück; er war 1923-1933 Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Unter den Linden Berlin, ab Ende 1935 Leiter der Informationsabteilung des HV; 1939 Auswanderung nach Palästina; 1948 Emigration in die Vereinigten Staaten.)) An der Arbeit des HV lassen sich viele der Probleme und Fragen ablesen, die mit der jüdischen Emigration in den Jahren 1933 bis 1938 im Zusammenhang standen. Die Insel Jutopia war zwar nur eine Fiktion, die darauf verzeichneten Orte, Namen und Begriffe haben dennoch überwiegend einen realen Bezug und können als Chiffren dieser Arbeit der vorangegangenen Jahre gelesen werden. Auf der »Insel der Seeligen«, im Nordosten Jutopias, liegen die Küstenorte Wischnitz und Lifschitz, der kleine Fluss Auerbach, das Örtchen Prinztown sowie die Berge Mt. St. Michel und Mt. Rosa. Sie alle verweisen auf leitende Vorstandsmitglieder des HV, die im März 1939 bereits emigriert und damit dem nationalsozialistischen Deutschland entkommen waren: Mark Wischnitzer (1882-1955), Samuel Lifschitz (1883-?), Frank L. Auerbach (1910-1964), Max Michel (1888-1941) und Werner Rosenberg (1903-1957). Auch Arthur Prinz war mit dem kleinen Ort Prinztown symbolisch bereits dort verzeichnet, sollte er doch wenige Tage später Deutschland endgültig verlassen. Auf der Hauptinsel befinden sich die Orte Bischofswerder, Chassel und Horovitzleben sowie der Berg Löwenstein – Referenzen auf die verbliebenen Vorstandsmitglieder Franz Bischofswerder, Henry Chassel (1876-1943), Arnold Horovitz und Victor Löwenstein.

Als Prinz im März 1939 nach Palästina auswanderte, war die jüdische Gemeinschaft Deutschlands bereits in Auflösung begriffen. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 waren die Nationalsozialisten dazu übergegangen, die Juden aus Deutschland zu vertreiben. »Nahezu alle Juden jüngeren und mittleren Alters versuchten verzweifelt rauszukommen«, erinnerte sich Prinz später. »Für diejenigen, die blieben wurde das Leben zu einem Albtraum.« ((LBINY/ME 805, Prinz, Plunging into Chaos, 7 und 13.)) Anfang 1933 lebten in Deutschland beinahe 550 000 Juden, ((Benz (Hg.), Die Juden in Deutschland 1933-1945, Anhang »Jüdische Bevölkerungsstatistik«, 733.)) ungefähr 150 000 von ihnen verließen bis zum Novemberpogrom das Land. ((Emigrationszahlen für die Jahre 1933 bis 1938: 143 000 insgesamt, davon 1933: 37 000, 1934: 23 000, 1935: 21 000, 1936: 25 000, 1937: 23 000, Januar bis Ende Juni 1938: 14 000. Vgl. hierzu Rosenstock, Exodus 1933-1939, 377.)) Ein Großteil der deutschen Juden blieb somit bis Ende 1938 in Deutschland, auch Arthur Prinz. Im Oktober 1938 hatte er begonnen, eine Reise nach Palästina zu planen, um seine schwerkranke Schwester dorthin zu begleiten. Er rang mit sich, ob er nach Deutschland zurückkehren oder die Gelegenheit ergreifen sollte, in Palästina zu bleiben. Sowohl Max Warburg (1867-1946) als auch Leo Baeck (1873-1956) drängten ihn jedoch zur Rückkehr, sodass er ein entsprechendes Gesuch an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) richtete. Diese untersagte ihm aber die Rückkehr nach Deutschland, sodass seine Ausreise im März 1939 zur endgültigen Emigration wurde und sein Leben rettete. ((LBINY/ME 805, Prinz, Plunging into Chaos, 24-28.)) Die Geschichte von Arthur Prinz ähnelte dabei derjenigen vieler anderer deutscher Juden, die in leitenden Positionen in der Gemeinde oder den politischen Organisationen tätig waren und die damit verbundenen Aufgaben bis zuletzt ausführten. ((Hoffmann, Max M. Warburg, 190-200. Ernst G. Lowenthal hat ein Gedenkbuch an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus herausgegeben. Darin enthalten sind die Geschichten zahlreicher deutscher Juden, die aus ihrem Verantwortungsgefühl heraus in Deutschland blieben oder dorthin zurückkehrten und dadurch den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Ders. (Hg.), Bewährung im Untergang.)) Aber auch aus verschiedenen anderen Gründen entschied sich ein Großteil der deutschen Juden, bis zum Novemberpogrom und darüber hinaus in Deutschland zu bleiben.

Die Geschichte der jüdischen Emigration aus Deutschland in den Jahren 1933 bis 1938 ist somit eine Geschichte der Auswanderung und zugleich eine des Bleibens, Ausharrens und Abwartens, bisweilen sogar der Rückkehr. Diese Geschichte ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. In ihr werden jüdische Emigrationsfragen zwischen 1933 und 1938 untersucht, Fragen, die sich teilweise schon vorher gestellt hatten, ab 1933 jedoch zunehmend evident wurden. In der Arbeit wird dargelegt, wie sich die deutschen Juden mit der Frage der Emigration im Privaten auseinandersetzten, wie in der jüdischen Öffentlichkeit darüber diskutiert wurde und wie die großen jüdischen Organisationen den Emigrationsprozess planten und organisierten. Leitfrage der Untersuchung ist dabei, welche Bedeutung das Thema Emigration in den individuellen und kollektiven Zukunftsplanungen besaß und wie sich diese Bedeutung mit zunehmender Verfolgung durch die Nationalsozialisten im Verlauf der Dreißigerjahre wandelte.

Die Karte von Jutopia kann dabei als eine Art Wegweiser gelesen werden, da hier in chiffrierter Form ein Panorama der Emigration in den Dreißigerjahren aufgespannt wird. In der Mitte Jutopias steht die »Zedakiah«, die Wohlfahrtsstelle, Synonym für den HV und doch auch mehr. Zwar wurden die jüdischen Auswanderer von Organisationen wie dem HV, dem Palästinaamt und der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge (HjW) unterstützt, die Gestaltung einer organisierten Emigrationsplanung lag aber nicht in deren Aufgabenbereich. Sie verstanden sich als philanthropische Wohltätigkeitsorganisationen und nicht als politische Vereinigungen. Die Frage der Emigrationsplanung war, wie Arthur Prinz im Verlauf der Dreißigerjahre immer wieder betonte, eine politische. Darüber hinaus gestaltete sich eine solche Planung äußerst kompliziert, da sich über deren grundsätzliche Art keine Einigung erzielen ließ: individuelle Hilfe für emigrationsbereite Juden oder die Unterstützung der Auswanderung größerer Gruppen? Auf diese Debatte wird in der Karte durch die im Norden Jutopias gelegenen »Gruppensiedlungen« verwiesen. In der Kontroverse spiegelte sich die Sorge um eine mögliche Zerstreuung und Auflösung des deutschen Judentums infolge einer forcierten Einzelauswanderung.

Entscheidender war ein anderer Konflikt, der auf der Karte in räumlicher Form angedeutet wird. Im äußersten Westen der Insel befindet sich die »Warburg« als Synonym für die liberalen deutschen Juden, die hier von Max Warburg repräsentiert wurden. Auf der entgegengesetzten Seite, weit im Osten, liegt das »Blumenfeld« mit seinen kleineren Orten Zion, Ruppin und Tell am See. Der Name eines der führenden deutschen Zionisten, Kurt Blumenfeld (1884-1963), steht hier für die zionistischen Strömungen in Deutschland. ((Kurt Blumenfeld war von 1924 bis 1933 Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und stand für den Palästinazentrismus des deutschen Zionismus in diesen Jahren. Arthur Ruppin war in der Jewish Agency for Palestine (JA) für die Immigration der deutschen Juden zuständig. Tell am See ist vermutlich eine Referenz auf Tel Aviv.))

Eine organisierte Emigrationsplanung barg für beide Seiten Gefahren. Die Liberalen befürchteten, eine solche könnte als Eingeständnis des Schei-terns der Emanzipation verstanden werden, ein Eindruck, der unbedingt vermieden werden sollte. Die zionistische Perspektive richtete sich auf den Aufbau Palästinas. Die Emigration in andere Länder wurde als Gefährdung der Palästinawanderung begriffen. Dieser Konflikt bestimmte die Emigrationsdebatten bis über das Jahr 1938 hinaus. Die Auseinandersetzung der deutschen Juden mit der Frage der Emigration angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung war demnach wesentlich geprägt von den politischen Anschauungen der verschiedenen jüdischen Gruppierungen und ihren je eigenen historischen Erfahrungen. Die Liberalen, die Zionisten, die Deutsehnationalen oder die Orthodoxen – sie alle fanden unterschiedliche Antworten auf die sich zuspitzende Krise im Verlauf der Dreißigerjahre. Die ideologischen Konflikte sollten sich unter dem äußeren Druck noch verschärfen, obwohl die jüdischen Organisationen versuchten, die deutsche Ju-denheit in ihrem politischen Handeln zu einen. Kurz vor seiner Auswanderung 1939 wurde Prinz von den Repräsentanten der wichtigsten jüdischen Organisationen auf herzliche Weise verabschiedet – seine Beschreibungen deuten hier auf eine beinahe harmonische Atmosphäre. ((LBINY/ME 805, Prinz, Plunging into Chaos, 25.))

Die Warburg, im Südwesten Jutopias, lag auf der entgegengesetzten Seite des Blumenfelds, aber nur unweit von London und New York. Das sollte womöglich die enge Verbindung Max Warburgs zur Rothschild-Familie in London und zur eigenen Familie, vor allem zu seinem Bruder Felix M. Warburg (1871-1937), in New York andeuten. Diese Verbindungen waren von großer Bedeutung für die von Max Warburg seit 1933 entwickelten Emigrationspläne, die er ab Ende 1935 in enger Abstimmung mit jüdischen Organisationen in New York und London realisieren wollte. Es ist sicher kein Zufall, dass sich etwas weiter nördlich auf der Insel die »Pollackei« befindet, ein dem Jiddischen entlehnter Ausdruck für Polen. Die Pollackei kann dabei als Chiffre für Osteuropa gelesen werden. Die Lage der osteuropäischen Ju-denheiten verschlechterte sich in ökonomischer und politischer Hinsicht im Verlauf der Dreißigerjahre so dramatisch, dass sich der internationale Fokus ab 1935 von Deutschland auf das östliche Europa und hier vor allem auf Polen verschob. Die zunehmende Konzentration der internationalen Emigrationshilfe auf den Osten Europas und die zeitweilige Marginalisierung der Situation in Deutschland hatten schwerwiegende Auswirkungen auf die Emigrationsplanungen für die deutschen Juden. Diese internationale Konstellation war für alle Emigrationsfragen maßgeblich.

Um die verschiedenen Problemlagen, die mit der jüdischen Emigration zwischen 1933 und 1938 im Zusammenhang standen, umfassend beschreiben und erklären zu können, wird der Gegenstand auf vier verschiedenen Ebenen untersucht. Die erste Ebene ist diejenige der öffentlichen Emigrationsdebatten, die in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften, Vorträgen und Kundgebungen sowie in Büchern und öffentlichen Streitschriften geführt wurden. Wenn auch die Bedingungen der öffentlichen Auseinandersetzung aufgrund repressiver Maßnahmen von staatlichen und polizeilichen Behörden immer weiter eingeschränkt wurden, war sie dennoch bis Ende 1938 möglich. Die zweite Ebene ist diejenige der institutionellen Emigrationsplanung. Dabei wird aufgezeigt, wie die jüdischen Organisationen intern über die Emigrationsfrage diskutierten, welchen Stellenwert sie der Emigrationsplanung im eigenen Aufgabenprofil beimaßen und wie sie diese Planung institutionalisierten. Die dritte Ebene umfasst die Emigrationspläne, die auf eine Auswanderung der Juden aus Deutschland als Kernbestandteil der umfassenden »Lösung der Judenfrage« – so eine zeitgenössische Formulierung – zielten. Diese Pläne wurden von den politischen Akteuren, wie beispielsweise Max Warburg, als Grundlage für Verhandlungen mit den deutschen Behörden über den jüdischen Status konzipiert. Einige dieser Pläne erreichten tatsächlich Verhandlungsstatus. Die vierte Ebene schließlich umfasst die individuelle Lebensplanung deutscher Juden und deren persönliche eingehende Beschäftigung mit der Frage der Emigration. Es werden sowohl Diskussionen im Familien- und Freundeskreis als auch der Alltag ausgewählter Personen untersucht. Dabei wird der Präsenz des Politischen im Alltag wie auch der Transformation des Politischen in das Alltägliche und damit in den Bereich der individuellen Wahrnehmungen und Handlungen nachgegangen.

Die Reaktionen auf die Krise der Dreißigerjahre und die Auseinandersetzungen mit der Frage der Emigration fielen gemäß der jeweiligen weltanschaulichen und religiösen Prägung sowie der geografischen und sozialen Herkunft unterschiedlich aus. Die größte Gruppe unter den deutschen Juden waren die Liberalen, die vornehmlich vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) repräsentiert wurden. ((Der C. V. wies in den Weimarer Jahren zwischen 45 000 und 72 000 Mitglieder auf, 1933 zählte er ca. 64 000. Vgl. Reinharz, Deutschtum and Judentum in the Ideology of the Centralverein deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens 1893-1914, 22.)) Daneben existierten die deutschnationalen Kleinverbände wie zum Beispiel der Verband nationaldeutscher Juden (VndJ), die sich an der Weimarer Rechten der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) orientierten. ((Weitere kleine Organisationen des deutschnationalen Lagers waren u. a. der von Hans-Joachim Schoeps gegründete Deutsche Vortrupp. Gefolgschaft Deutscher Juden und das Schwarze Fähnlein. Jungenschaft.)) Dazwischen stand der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF). ((Der RjF hatte vor 1933 ca. 30 000 Mitglieder, nach 1933 stiegen die Mitgliederzahlen auf ungefähr 50 000. Vgl. Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919-1938, 7.)) Diese Gruppierungen hatten einige Gemeinsamkeiten, unterschieden sich aber deutlich in der Radikalität des von ihnen propagierten »Deutschtums«. Ihnen gegenüber standen die Zionisten, eine numerisch verhältnismäßig kleine Gruppe, die dennoch in den politischen Debatten großen Einfluss hatte. Sie waren mehrheitlich in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) organisiert. ((Ende 1932 hatte die ZVfD knapp 10 000 Mitglieder, Ende 1935 schon 22 000. Danach stiegen die Mitgliederzahlen kaum noch an. Vgl. Teichert, Chasak!, 116.)) Die wichtigste innerzionistische Opposition stellten die Revisionisten, die sich ab 1934 als »Staatszionisten« neu formierten. Zu unterschiedlichen Einschätzungen und Reaktionen führten nicht nur die verschiedenen ideologischen, sondern auch die religiösen Prägungen. Die strenggläubigen beziehungsweise orthodoxen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und Emigrationsfragen unterschieden sich teilweise deutlich von den politisch-weltanschaulichen, weshalb die Orthodoxie in dieser Arbeit ebenfalls eingehend untersucht wird. ((1933 waren ungefähr 20 000 bis 25 000 deutsche Juden Anhänger der Orthodoxie. Plum, Deutsche Juden oder Juden in Deutschland?, bes. 40.)) Zwar war 1933 fast ein Fünftel der Juden in Deutschland osteuropäischer Herkunft oder staatenlos, dennoch finden die osteuropäischen Juden als separate Gruppe in der Arbeit nur wenig Beachtung. ((Adler-Rudel, Ostjuden in Deutschland, 1880-1940, 165.)) Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Staaten waren in Deutschland die osteuropäischen Juden zur deutsch-jüdischen Mehrheit hin nicht klar abgegrenzt. Sie gründeten keine eigenen politischen Organisationen und gaben keine eigenen Zeitungen heraus, sondern beteiligten sich am politischen und religiösen Leben der bestehenden jüdischen Gemeinschaft.

Diese unterschiedlichen Prägungen und Anschauungen beeinflussten aber nicht nur das politische Handeln der jüdischen Organisationen, sondern auch die Wahl der Emigrations- oder Zufluchtsorte. Auf der Karte Jutopias benennen die Küstenstädte einige dieser Orte, die für deutsche Juden bedeutend waren, die von 1933 bis 1939 das Land verließen. Dies waren zunächst Städte wie Prag und London, unweit der deutschen Heimat, Zentren des politischen Exils. Später wurden andere Städte in größerer Entfernung wichtiger, die nicht mehr kurzzeitiges Exil, sondern längerfristige Emigration bedeuteten: New York, Oslo oder Kapstadt. Im Verlauf des Jahres 1938, insbesondere nach dem Novemberpogrom, wurde aus der Emigration die Flucht. Wohin man floh, war nun keine freie Entscheidung mehr, sondern ergab sich aus den Bedingungen für Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen. Die Ziele waren häufig weit entfernt: Shanghai, Bangkok oder Sydney. Haifa oder Petach Tikwa dagegen standen mit der Alija und dem jüdischen Aufbauwerk in Palästina in Verbindung. Bereits anhand dieser Ortsnamen könnte die Geschichte der jüdischen Emigration aus Deutschland erzählt werden.

Exil, Emigration, Flucht und Alija – diese Begriffe stehen für divergierende Konstellationen und transportieren je unterschiedliche Sinngehalte. Juliane Wetzel konstatiert in ihrer Darstellung der jüdischen Auswanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland, dass die jüdischen Emigranten »nicht mit den freiwilligen Auswanderern früherer Zeiten verglichen werden« könnten. Im Gegenteil, sie seien »fast ausschließlich Flüchtlinge, >Heimatvertriebene< [gewesen], die meist völlig mittellos über die Grenzen ihres Geburtslandes gejagt wurden.« ((Wetzel, Auswanderung aus Deutschland, 413.)) Auch Richard Evans teilt die Auffassung: »Es war natürlich keine freiwillige oder unerzwungene Emigration; es war eine Flucht ins Exil, um Bedingungen zu entrinnen, die für viele unerträglich wurden.« ((Evans, Das Dritte Reich, Bd. 2, 673.)) Doron Niederland hat hingegen gezeigt, dass die Gründe für die jüdische Auswanderung zwischen 1933 und 1938 ähnliche waren wie in den Jahren der Weimarer Republik und daher für die gesamte Zwischenkriegszeit von Emigration gesprochen werden müsse. ((Niederland, Juden aus Deutschland – Auswanderer oder Flüchtlinge?)) In der Forschungsliteratur ist der Begriff der Flucht jedoch weit verbreitet, entweder in Abgrenzung oder als Äquivalent zum Begriff »Emigration«. ((Kwiet/Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand, 142; Benz, Emigration.))

Das Problem einer solchen Deutung besteht darin, dass die Gründe des Verbleibens externalisiert werden müssen, um das Verhalten der deutschen Juden zu erklären. Externalisierung meint in diesem Zusammenhang, dass als Hauptgründe für eine vermeintlich »zögerliche Emigration« die äußeren Bedingungen der nationalsozialistischen Auswanderungsregularien und der Einwanderungsbestimmungen anderer Staaten angenommen werdend. ((Wetzel, Auswanderung aus Deutschland, 416; Wischnitzer, Die Jüdische Wanderung unter der Nazi-Herrschaft 1933-1939, 97; Margaliot, The Problem of the Rescue of German Jewry during the Years 1933-1939, 265; Laqueur, Mein 20. Jahrhundert, 52. Wolfgang Benz nennt als Gründe zunächst verschiedene äußere Faktoren, als letzten, aber vielleicht doch entscheidenden schließlich das Selbstverständnis der deutschen Juden. Vgl. ders., Emigration, 188. Fritz Kieffer beschäftigt sich hingegen ausschließlich mit den internationalen Migrationsbedingungen und tendiert dabei dazu, in diesen den Hauptgrund für die gescheiterte Emigration zu sehen. Vgl. ders., Judenverfolgung in Deutschland – eine innere Angelegenheit?)) Diese äußeren Faktoren waren durchaus entscheidende Hindernisse bei der Planung der eigenen Emigration und beeinflussten somit den individuellen Entscheidungsprozess. Dennoch standen sie dem Willen zur Auswanderung nicht unüberwindbar entgegen.

In dieser Arbeit werden daher fast ausschließlich die Begriffe Emigration oder Auswanderung statt Flucht und Exil benutzt. Allein die Situation des Frühjahrs 1933, in der Tausende den Verfolgungen der Nationalsozialisten durch Flucht ins Exil entkamen, rechtfertigt letztere Begriffe. Diese Fluchtwelle kann jedoch nicht als jüdische, sondern muss als eminent politische verstanden werden. Die jüdischen Flüchtlinge der ersten Monate flohen nicht deshalb, weil sie sich – erklärtermaßen oder implizit – als Teil der jüdischen Gemeinschaft definierten, sondern sie verließen Deutschland als verfolgte Linke beziehungsweise als erklärte politische Gegner des Nationalsozialismus.

Wenn Evans schreibt, dass die Emigration keine freiwillige war, sondern äußeren Zwängen unterlag, ist ihm in dieser Einschätzung zwar recht zu geben, dennoch sind diese Zwänge noch nicht Grund genug, um von Flucht anstatt von Emigration zu sprechen. Diejenigen, die bis 1938 emigrierten, flohen zumeist nicht vor einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben. Die meisten Juden verließen Deutschland, weil ihre ökonomischen Existenzbedingungen gefährdet waren oder weil sie nicht als Deklassierte in einer judenfeindlichen Gesellschaft leben wollten. Die Zukunftsaussichten schienen in anderen Ländern im Vergleich zur schwierigen Situation im Heimatland erheblich besser zu sein. ((Die Unterscheidung zwischen »freiwilliger« und »erzwungener« Migration (Flucht) ist in der Migrationssoziologie nicht unumstritten, da von einer vollständig freien Entscheidung zur Migration ohne äußere Zwänge bzw. Einflüsse selten gesprochen werden kann. Vgl. Düvell, Europäische und internationale Migration, bes. 5-32. Dies führt in der Konsequenz jedoch zu einer philosophischen Diskussion über Freiheit und Determinismus, die hier nicht geführt werden soll. Die Existenz von Entscheidungs- und Handlungsoptionen ist im vorliegenden Zusammenhang daher von zentraler Bedeutung.)) Damit besaßen die deutschen Juden verschiedene Handlungsoptionen, die sie gegeneinander abwägen mussten. Ein Beleg hierfür sind beispielsweise die jüdischen Remigranten, die 1934/35 zu Tausenden in das Deutsche Reich zurückkehrten, da ihnen dort die ökonomischen und damit die individuellen Existenzbedingungen günstiger erschienen als in den Ländern des vorübergehenden Exils. Aber auch die Urlaubsreisen der Jahre 1936 bis 1938 zeigen das Bestehen verschiedener Handlungsoptionen – den Verbleib im nationalsozialistischen Deutschland eingeschlossen.

Der Emigrationsprozess bis 1938 war in hohem Maße mit Fragen des Eigentumstransfers verbunden. Die deutschen Ausfuhr- und Devisenbestimmungen verhinderten die verlustfreie Übertragung des Vermögens ins Ausland. Auch dieses entscheidende Problem erhielt auf der Karte von Jutopia einen exponierten Ort. Der Kartenmaßstab, in einer Art Koordinatensystem dargestellt, referiert auf den aktuellen Sperrmarkkurs, denjenigen Kurs also, zu dem Reichsmarkbestände in frei konvertierbare Währungen (Devisen) getauscht werden konnten. ((Der Transfer von Eigentum und Bargeldbeständen wurde durch eine große Anzahl von verschiedenen Bestimmungen geregelt, die im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind. Einen Überblick geben: Ebi, Export um jeden Preis; Cohn/Gottfeld, AuswanderungsVorschriften für Juden in Deutschland. Zum Sperr- und Registermarkverfahren: Lückefahr, Sperrmark und Registermark.)) Damit bildeten im Wesentlichen die Verhältnisse vor dem Novemberpogrom den Referenzrahmen für die Karte, als vor allem monetäre Aspekte die Emigrationsfrage bestimmten. Im Westen Jutopias deutet aber bereits ein kleiner Ort auf eine entscheidende Veränderung hin: das Küstendorf »Port Visum«. Nach der Pogromnacht 1938 ging es kaum noch um Transferfragen, sondern maßgeblich um die Bereitstellung von Aus-, Durch- und Einreisegenehmigungen.

Nicht mehr die Sicherung der ökonomischen, sondern die Rettung der physischen Existenz stand fortan im Zentrum. Ab diesem Zeitpunkt war aus der Emigrationsplanung die Notwendigkeit zur Flucht geworden. ((Es gab auch vor 1938 Fälle von Flucht aufgrund der Jüdischen Herkunft und nicht aufgrund politischer Einstellungen oder Handlungen. Juden wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, um ihre Auswanderung oder die Veräußerung ihres Eigentums zu erzwingen. Andere wiederum waren nach den Nürnberger Gesetzen unmittelbar bedroht, wenn sie in einem nichtehelichen partnerschaftlichen oder sexuellen Verhältnis zu Nichtjuden standen. Hochzeiten zwischen Juden und Nichtjuden (nach den rassistischen Kriterien der Nationalsozialisten) waren fortan ebenso untersagt. Der Handlungsspielraum von Personen, die davon betroffen waren, war derart eingeschränkt, dass von Emigration hier nicht mehr gesprochen werden kann, sondern eher von Flucht.))

Lässt der Begriff der Flucht zunächst noch offen, wovor geflohen wurde, ist der Begriff der »Rettung« bereits um einiges enger. Er korrespondiert mit der Frage nach den Gründen der vermeintlich »zögerlichen Emigration«, der in dieser Arbeit bewusst nicht nachgegangen wird. Mit der Frage nach dem Zögern der deutschen Juden ist bereits eine normative Setzung verbunden, die die Entwicklung der antijüdischen Politik in Deutschland bis zum Holocaust als Ausgangsperspektive der Fragestellung wählt. Eine solche Perspektive setzt voraus, dass die Auswanderung die zu erwartende und vernünftige Reaktion gewesen sein müsste und das Verbleiben in Deutschland die zu erklärende Abweichung.

Mit einer solchen Perspektive lässt sich das Verhalten der deutschen Juden aber nicht erklären, da sich ihr Erwartungshorizont nur aus dem eigenen historischen Erfahrungsschatz in der Konfrontation mit Antisemitismus und Judenfeindschaft herleiten konnte. Bis Ende der 1930er Jahre waren die Tiefpunkte judenfeindlicher Politik der Pogrom und die kollektive Vertreibung – eine insbesondere osteuropäisch-jüdische Erfahrung. Sich gegen die antijüdische Politik der Nationalsozialisten zu wehren, hieß daher in zeitgenössischer Perspektive, die Herrschaft des Rechts über die Straßengewalt sicherzustellen und dem Auswanderungsdruck der Nationalsozialisten zu widerstehen. Damit konnte Emigration zunächst nicht als Rettung, sondern nur als Niederlage vor dem Nationalsozialismus verstanden werden.

Dass die Emigration im Nachhinein doch zur individuellen Rettung werden konnte, lag nicht am Entschluss zur Auswanderung, sondern an den historischen Umständen. Wer sich dafür entschied, nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Österreich oder Frankreich zu gehen, konnte infolge der späteren deutschen Besatzung erneut in den Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten gelangen. Viele jüdische Emigranten wurden nach dem Einmarsch der deutschen Armee in diese Länder verhaftet, deportiert und ermordet, obwohl sie das zur Bedrohung gewordene Heimatland verlassen hatten. Selbst der Weg nach Palästina bot zu jener Zeit keine fraglose Sicherheit. Dass die Juden Palästinas vom Holocaust verschont blieben, war allein der Tatsache zu verdanken, dass der Vormarsch der Wehrmacht in Nordafrika in der ersten Schlacht bei El-Alamein im Juli 1942 in sprichwörtlich letzter Sekunde gestoppt werden konnte. Wäre dies nicht gelungen, hätten die Juden Palästinas das Schicksal der Juden Europas sehr wahrscheinlich geteilt.

Für die Übersiedlung nach Palästina ist damit der Ausdruck »Rettung« ebenso anachronistisch wie für die Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland insgesamt. Indes ist dafür auch der Begriff der Emigration problematisch. Die jüdische Einwanderung nach Palästina wurde von den Zionisten als Alija bezeichnet, auch in Abgrenzung zu »gewöhnlichen« Formen von Migration. Der hebräische Begriff bedeutet wörtlich Aufstieg und meint die symbolische Ersteigung des Bergs Zion – eine Metapher für das jüdische Aufbauwerk in Palästina. In zionistischer Lesart handelte es sich hierbei um eine »Rückkehr« oder »Heimkehr« an die Urstätte des Judentums und nicht um Emigration im eigentlichen Sinne. Die Alija war somit immer mehr als die Emigration, mehr als bloß Exil oder Asyl. Angesichts der Verhältnisse in Deutschland war Palästina jedoch andererseits für viele das nach rationalen und nicht unbedingt nach ideologischen Kriterien gewählte Emigrationsziel. Dies zeigt nicht zuletzt ein berühmtes Bonmot jener Zeit, demzufolge deutschen Juden bei ihrer Einwanderung in Palästina die Frage gestellt wurde: »Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?« ((Willy Cohn, Tagebucheintrag vom 3. Mai 1933, in: ders., Kein Recht, nirgends, 39; Victor Klemperer, Tagebucheintrag vom 22. Mai 1933, in: ders., Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Bd. 1, 29; Laqueur, Wanderer wider Willen, 128.)) Die Zionisten standen dieser nicht ideologisch motivierten Einwanderung trotz der Verfolgung der deutschen Juden durch die Nationalsozialisten kritisch bis ablehnend gegenüber, da zahlreiche deutsche Einwanderer in den jüdischen Großstädten wie Haifa und Tel Aviv – entgegen der zionistischen Auffassung vom Wesen des jüdischen Aufbauwerks in Palästina – in einer Art Exil lebten. ((Vgl. Laqueur, Geboren in Deutschland, 187-233; Schlör, Endlich im Gelobten Land?; Miron, Von Regisseuren zu Schauspielern.)) Somit war die Einwanderung deutscher Juden nach Palästina vielschichtig, sie ist nicht allein mit dem Begriff der Emigration zu fassen.

Vor diesem Hintergrund folgt diese Studie explizit nicht der Perspektive, die dem Gegenstand eingeschrieben zu sein scheint – einer Sichtweise, die mit dem Wissen um die Geschichte des Holocaust die Handlungen und jüdischen Reaktionen der Dreißigerjahre befragt und deutet. In der historischen Forschung zu den 1930er Jahren, besonders in Bezug auf die Frage der jüdischen Emigration, ist diese Perspektive durchaus üblich, sie einzunehmen scheint evident zu sein. Die Bedeutung dieses epochalen Bruchs macht es unmöglich, die Vorgeschichte des Holocaust darzustellen und zu analysieren, als hätte es diesen nicht gegeben. Und doch kann eine solche Perspektive zur Verengung führen, da sie das Verständnis zeitgenössischer Wahrnehmungen verstellt.

In dieser Arbeit werden die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1938 stattdessen aus der Perspektive einer noch offenen Entwicklung, einer noch unbekannten Zukunft betrachtet. Am Beispiel der Konferenz von Evian im Juli 1938 soll die Bedeutung einer solchen Herangehensweise hier kurz angedeutet werden.

Die Einschätzungen der Konferenz von Evian durch den Repräsentanten der Reichsvertretung der Juden in Deutschland (RV) Shalom Adler-Rudel (1894-1975) und den Vertreter des World Jewish Congress (WJC) Nahum Goldmann (1895-1982) ((Nahum Goldmann wurde in Wischnewo, Polen, geboren und wuchs in Frankfurt am Main auf. Seit 1910 war er in der zionistischen Bewegung aktiv. Er lebte von 1933 bis 1940 in Genf und war für den WJC als Organisator und von 1935 bis 1939 als dessen Vertreter beim Völkerbund tätig. Im Juni 1935 wurde er offiziell aus Deutschland ausgebürgert. Mit Ausbruch des Krieges ging er als Vertreter der JA in die Vereinigten Staaten und war maßgeblich an der Ausarbeitung des Biltmore-Programms vom Mai 1942 beteiligt. Ab 1949 wurde er Vorsitzender der amerikanischen Sektion der JA, von 1954 bis 1977 Präsident des WJC und von 1956 bis 1968 Präsident der ZO/WZO. Er war entscheidend an der Gründung der Claims Conference 1951 sowie an den Verhandlungen zum Luxemburger Abkommen zur »Wiedergutmachung« beteiligt.)) eröffnen einen Einblick in die Zeitgebundenheit des historischen Urteils. Die Konferenz fand im Juli 1938 im französischen Evian-les-Bains statt. An ihr nahmen auf Einladung Franklin D. Roosevelts 32 Staaten teil, um eine Lösung für die jüdische Flüchtlingskrise nach dem »Anschluss« Österreichs an Deutschland zu finden. Außer der Einrichtung eines internationalen Flüchtlingskomitees zeitigte sie keine konkreten Ergebnisse. Unmittelbar nach dem Ende der Konferenz schrieb Adler-Rudel an den ehemaligen Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium (RWM) Hans Schäffer (1886-1967), der sich seit Juli 1933 im schwedischen Exil befand: »Als erstes würde ich sagen, dass ich mit dem Ergebnis der Konferenz absolut zufrieden bin; es entspricht ungefähr dem, was ich von der Konferenz erwartet hatte, und ich glaube nicht, dass man bei vernünftiger Überlegung mehr erwarten konnte.« ((Shalom Adler-Rudel an Hans Schäffer, 26. Juli 1938, in: ders. (Hg.), Das Auswanderungsproblem im Jahre 1938, 192 f.)) Diese Einschätzung ergab sich daraus, dass laut Adler-Rudel die deutsche Devisenlage der Grund des Emigrationsproblems sei. Auf der Konferenz hätten die beteiligten Staaten dieses Problem erstmals diskutiert und als solches anerkannt.

In einem Aufsatz, den Adler-Rudel dreißig Jahre später verfasste, sprach er jedoch von einer »schrecklichen Enttäuschung für die jüdischen Repräsentanten, die nach Evian gekommen waren. Die großen Hoffnungen, die sie gehegt hatten, wurden vernichtet durch die unklare Phraseologie und die unbestimmte Einstellung, die die Konferenz dominierten.« ((Ders., The Evian Conference on the Refugee Question, 258.)) Seine zusammenfassende Einschätzung stand schließlich im diametralen Gegensatz zu derjenigen, die er drei Jahrzehnte zuvor gegenüber Hans Schäffer gegeben hatte: »Das wenige, das erreicht wurde, stand in keinem Verhältnis zu den Hoffnungen, die im Vorfeld aufgekommen waren. Trotz des guten Willens endete alles in einem Misserfolg.« ((Ebd., 260.)) Auch Nahum Goldmann gab unmittelbar im Anschluss an die Konferenz zu Protokoll, dass diese »unzweifelhaft einen Fortschritt in der Bemühung zur Lösung des jüdischen Flüchtlingsproblems in Deutschland markiert.«. (( Zit. nach Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial, Bd. 1, 151. Auch andere Jüdische Teilnehmer äußerten ihre Zufriedenheit mit den Ergebnissen der Konferenz, so Jonah B. Wise vom JDC und Arthur Ruppin von der JA: Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial, Bd. 1, 152; Jonah B. Wise an Morris Waldman, in: Dobkowski (Hg.), The Politics of Indifference, 81-83.)) In seinen Memoiren aus dem Jahr 1980 hingegen wurden die Ergebnisse der Konferenz zu einer »unabweisbaren Anklage gegen die zivilisierte Welt hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der Judenverfolgung durch den Nationalsozialismus«. ((Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, 300.))

Die verschiedenen Wertungen Adler-Rudels und Goldmanns 1938 und 1968/1980 ergaben sich nicht daraus, dass sie später mehr über die Umstände der Konferenz wussten als unmittelbar nach deren Ende. Die Differenz ergibt sich vielmehr aus dem Unterschied einer noch offenen historischen Entwicklung im Jahr 1938 und dem Wissen um den Verlauf dieser Geschichte 1968/1980. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, welcher der Einschätzungen nun recht zu geben ist, der von 1938 oder der von 1968/1980? War die Konferenz den Umständen entsprechend erfolgreich verlaufen oder war sie wirklich gescheitert? Ein solches Urteil ist nur im jeweiligen Kontext der Zeit möglich. Die Konferenz von Evian erschien 1938 als Auftakt zu einer Internationalisierung und damit als möglicher Ausgangspunkt einer Lösung der Flüchtlingsproblematik. Im Nachhinein zeigte sich aber, dass die Konferenz nicht der erhoffte Auftakt war, sondern eine vergebene Chance. Davon ausgehend war sowohl die Einschätzung von 1938 als auch die von 1968/1980 in ihrer je eigenen Logik richtig, aber beide können nicht als objektives Urteil verallgemeinert werden.

In dieser Arbeit wird deshalb nicht die nachfolgende Entwicklung der judenfeindlichen Politik zur Grundlage der Analyse gemacht, sondern die historischen Erfahrungen der Zeitgenossen, der Blick also nicht nach vorn, sondern zurück gerichtet. Diese Perspektive ist auch der Karte von Jutopia immanent, auf der Orte und Namen verzeichnet sind, die sich nicht auf die Ereignisse der Dreißigerjahre, sondern auf deren Vorgeschichte beziehen. So verweist der Ort »Graetz« auf den jüdischen Historiker Heinrich Graetz (1817-1891), der ein Wegbereiter einer säkularisierten Universalgeschichte der Juden und einer der wichtigsten Protagonisten der Wissenschaft des Judentums war. »Basel« und »Posen« wiederum verweisen maßgeblich auf die Geschichte des internationalen und deutschen Zionismus. Basel gilt als die Geburtsstätte des politischen Zionismus herzlscher Prägung. Hier fand seit 1897 die Mehrzahl der Zionistenkongresse statt. Der Delegiertentag der deutschen Zionisten in Posen im Jahr 1912 hingegen gilt als Wendepunkt des deutschen Zionismus hin zu einer stärkeren Konzentration auf die jüdische Aufbauarbeit in Palästina. Der Posener Delegiertentag löste scharfe Debatten zwischen den deutschen Zionisten und Liberalen aus. Die in diesen Debatten zum Ausdruck gebrachten Grundkonflikte blieben bis in die Dreißigerjahre bestehen und prägten die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen jüdischen Strömungen.

Ausgangspunkt dieser Arbeit ist daher die These, dass sich die Strategien und Diskussionen der deutsch-jüdischen Politik in den Dreißigerjahren aus den zeitgenössischen Erfahrungsbeständen speisten: zum einen aus der jüdischen Geschichte der zurückliegenden Dekaden und zum anderen aus den historischen Erfahrungen mit jüdischer Migration, mit dem jüdischen Status in nationalstaatlichen Ordnungen und mit dem Verhältnis der Diasporajudenheiten zueinander, vor allem dem Gegensatz zwischen osteuropäischen und westeuropäischen Judenheiten. Die Planungen und Gestaltungsvorschläge, insbesondere jene zur jüdischen Emigration, bauten auf solchen Erfahrungsbeständen auf. Nur wenn man diese berücksichtigt, lassen sich die Wahrnehmungen und Einschätzungen, Handlungen und Erwartungen der deutschen Juden angemessen darstellen, verstehen und analysieren.

Diese vorgelagerten Zeiten bilden den Hintergrund, ohne selbst Gegenstand der Arbeit zu sein. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vielmehr vom Antritt der Regierung Hitler am 30. Januar 1933 bis zum »Entscheidungsjahr« 1938. Das Jahr 1938 brachte zwei wesentliche Zäsuren mit sich. Mit der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich am 13. März begannen die Nationalsozialisten unter der Leitung Adolf Eichmanns (1906-1962) damit, die österreichischen Juden aus dem ehemals österreichischen Staatsgebiet zu vertreiben – eine Politik, die zunächst nicht auf das sogenannte Altreich angewendet wurde. Das »Modell Österreich« wurde nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 schließlich auf das gesamte Deutsche Reich übertragen. Mit dem 13. März und dem 9. November 1938 endete somit die erste Phase der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland, die eine Politik der Entrechtung war. Es begann die zweite Phase, die Politik der Vertreibung. Damit einher ging das Verbot nahezu aller jüdischen Organisationen, Verbände und Zeitungen. Mit dem Jahr 1938 änderten sich die politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen für die deutschen Juden entscheidend. Hatte es bis dahin öffentliche Debatten, eine durchaus selbstbestimmte Organisationsstruktur und verschiedene Handlungsoptionen gegeben, bestand nun nur noch die Möglichkeit, auf die Anordnungen der nationalsozialistischen Machthaber zu reagieren. Auswandern oder Bleiben waren nicht länger die Alternativen. Es gab nur noch eine Wahl: die Flucht.

Leseprobe aus: David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938. (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Bd. 24), Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 440 S., Bestellen? Als Ebook bestellen?
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht