Mein deutsch-israelischer Seiltanz

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Die Autorin ist Tochter zweier Holocaust-Überlebender und wanderte 1979 nach Israel ein. Seitdem versucht sie, Deutschen den Alltag in Israel nahezubringen. Für ihre Tochter ist sie eine realitätsfremde Pazifistin. Ein Erfahrungsbericht über die Chancen des Dialogs…

Von Anita Haviv-Horiner
Zuerst veröffentlicht: Heinrich Böll Stiftung, 16. Apr. 2015

Ich bin 1960 als Tochter von zwei Überlebenden in Wien zur Welt gekommen. Meine Eltern wollten über ihr Trauma nicht reden. So begleitete mich ihr Schweigen in meiner Kindheit wie ein dunkler Schatten.

Der Staat Israel hingegen war damals gleichbedeutend mit Hoffnung und das besonders deshalb, weil er von meinem Vater so sehr geliebt wurde. Er schwärmte von den mutigen israelischen Generälen, die den Feind besiegten. Sie verkörperten für ihn jüdisches Heldentum, das eine Art „Wiedergutmachung“, einen Trost für seine eigene Hilflosigkeit in Auschwitz darstellte. Er betonte dies immer wieder und schärfte mir ein, nie zu vergessen, dass der Staat Israel dem jüdischen Volk einen noch nie da gewesenen Schutzschild bietet.

1979 wanderte ich nach Israel ein. Die Einwanderung befreite mich als Jüdin von der Fremdbestimmung.

„Nach dem Krieg sind wir nach Israel eingewandert – nicht weil wir davon überzeugt waren hier sicher zu sein. Wir sind gekommen, um unter Juden zu leben, nie wieder eine tolerierte oder auch nicht tolerierte Minderheit zu sein. Das ist auch heute das Allerwichtigste.“

Diese Aussage einer Holocaustüberlebenden hat mich zutiefst bewegt und definiert für mich bis heute die Essenz des Staates Israel.

Die ersten Menschen, die mich in der neuen Heimat mit viel Wärme aufnahmen, waren Rivka und Shlomo. Das Ehepaar nannte sich gegenseitig zwar „Abale“ und „Imale”, doch war Deutsch die Familiensprache. Beide hatten Berlin unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung verlassen und sich in Israel ein neues Leben aufgebaut. Wenn mich in schwachen Momenten die Sehnsucht nach der alten Heimat packte, erinnerten sie mich an die Vergangenheit.

Meinen beruflichen Werdegang begann ich im Museum der Jüdischen Diaspora. Dort begegnete ich zum ersten Mal deutschen Jugendlichen und Erwachsenen, die Israel besuchten. Ich entdeckte, welch starken Bedarf nach Austausch sie hatten. Meine neugewonnene Identität als Israelin verhalf mir zu einem freieren und normalen Umgang mit Deutschen. Je intensiver sich der Dialog mit ihnen gestaltete, desto mehr interessierten mich ihre persönliche Geschichte und ihre Fragen.

Durch diesen konstanten Austausch lernte ich, meine eigenen Vorbehalte zu überwinden. Ich konnte mich den Lebenswelten meiner deutschen Gesprächspartner/innen öffnen. Deutschland war zwar nicht mein Herkunftsland, doch als ich es 1990 zum ersten Mal besuchte, war ich überrascht, wie vertraut es mir war.

Nun bin ich seit fast drei Jahrzehnten als politische Vermittlerin in den Dialog zwischen den beiden Gesellschaften involviert. Dabei habe ich gelernt, dass biografische Aspekte und Alltagsfragen den deutschen Jugendlichen und Erwachsenen einen Zugang zu jüdisch‐deutscher Geschichte und zu Israel vermitteln, der sich nicht auf das intellektuelle Verständnis beschränkt, sondern emotionale Sensibilisierung erweckt.

Lange Jahre fokussierte meine Arbeit mit deutschen Israel-Besuchern/innen auf Themen wie jüdische Identität, das Gedenken an den Holocaust und den Alltag in Israel. Bewusst klammerte ich das Thema Nahostkonflikt aus meinen Vorträgen und Seminaren aus. Diese Scheu habe ich erst nach vielen Jahren abgelegt. Heute stehe ich offen zu meinen kritischen Positionen in Bezug auf die Politik meines Landes, und spreche das auch auf Deutsch aus. Vieles am heutigen Israel gefällt mir nicht, aber ich liebe Israel.

Es ist das Land, das mir eine Heimat gegeben hat, nachdem meine Familie Generation um Generation aus ihrem jeweiligen Herkunftsland in Europa vertrieben worden ist. Heimat heißt für mich auch, zu kritisieren, was ich zu kritisieren habe und hässliche Dinge nicht schönzureden.

Allerdings stellt diese Einstellung eine schwierige Gratwanderung dar. Denn in meiner langjährigen Erfahrung im deutsch-israelischen Dialog machte ich einige verletzende Erfahrungen. Ich hörte sogar deutsche Multiplikator/innen, die sich dazu verstiegen, Israel mit Nazideutschland zu vergleichen. Solche Aussagen sind für mich nicht nur falsch, sondern auch emotional unerträglich. Sie werfen in mir die Frage auf, ob hierin nicht in erster Linie die Sehnsucht nach dem berüchtigten Schlussstrich zum Ausdruck kommt und es sich viel weniger um eine kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der israelischen Realität handelt.

Israel wird zum Teil so unreflektiert negativ dargestellt, dass echter Dialog nicht möglich ist. Es ist in meinen Augen die Aufgabe der politischen Bildung, sich solch vorurteilsbeladenen Perzeptionen und an Antisemitismus grenzenden Aussagen entgegen zu stellen. Das bedeutet nicht, den kritischen Blick zu verlieren, sondern für eine ständige Kontextualisierung und den Mut zu Nuancen einzutreten.

Gegen den Strom schwimmen muss ich in der eigenen Familie. Meine patriotische Tochter sieht mich als realitätsfremde Pazifistin an. Oft ernte ich Kritik von Anderen in meinem israelischen Umfeld, das meine laut ausgesprochene Ablehnung der Regierungspolitik missbilligt. “Du bedienst in Deutschland geläufige gutmenschliche Meinungen”, warf mir ein Freund vor. Seinen Tadel nehme ich nicht auf die leichte Schulter, denn manchmal befürchte ich selbst von allzu beseelten deutschen Israel-Skeptikern vereinnahmt zu werden.

Doch ich bin nicht naiv, mir ist klar, dass Israel bedrohliche Feinde hat. So gestaltet sich deutsch-israelischer Dialog für mich als ein Seiltanz, bei dem es zusehends schwieriger wird, das Gleichgewicht zu bewahren. Aus vielen Begegnungen und Gesprächen mit Deutschen und Israelis weiß ich, dass es nicht nur mir so geht. Dabei stellen sich für mich folgende Fragen: Gibt es ohne das Gedenken an die Shoah eine stabile Grundlage für den Dialog zwischen den beiden Gesellschaften? Was genau bedeutet Normalisierung? Kann und soll die globalisierte junge Generation beider Seiten die durch die Geschichte geschaffenen Grenzen überwinden?

Das Spektrum der Antworten auf diese Fragen wird immer breit gefächert sein. Damit müssen wir umgehen – auch und gerade – weil sie uns vor schwierige Herausforderungen stellen. Es gilt junge Menschen beider Länder über die Geschichte der jeweils anderen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu informieren, Ansätze und Themen zu finden, die sie aus ihrer eigenen Lebensrealität interessieren. Das Entscheidende hierbei ist es, eine Form der Vermittlung zu finden, die die Zukunftsträger/innen Deutschlands und Israels dazu motiviert, den Dialog mitzugestalten und ihn auf der Grundlage der Vergangenheit mit neuen Inhalten zu füllen.