„Erinnerung als höchste Form des Vergessens“

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Eike Geisel räumte schon vor Jahrzehnten mit Denkmalskitsch und Versöhnungsschmus auf.  Der Sammelband „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ ist jetzt erschienen…

Rezension von Stefan Gleser

Zeitgleich zum Sommermärchen von der Willkommenskultur wurden die Leistungen für die, die wir herbeigebombt und gehungert haben, rigoros gekürzt. Eike Geisel hätte solche Inszenierung, das reibungslose Zusammenspiel von „marktgängiger Edelbetroffenheit“ wie er es nannte und Verwaltungsterror, von Abschiebeknast und selbstlosem Patriotismus, vom moralischen Hegemon in Europa und brennendem Flüchtlingsheim genau untersucht. Hat er doch Zeit seines Lebens beobachtet wie die Wirklichkeit auf die Phrase kommt.

Eike Geisel, ( 1945 – 1997 ),  unterschied sich grundsätzlich von denen, mit dem er Zeitgenossenschaft teilen musste. Er legte mehr Wert auf Ausdruck, denn auf Bekenntnis und Planstelle, obgleich er gegen letztere nichts einzuwenden gehabt hätte. Aber ein Einverständnis mit dieser Gesellschaft bedeutet ein Ja zur eignen „Verblödung“ wie sein Verleger Klaus Bittermann im Vorwort schreibt.

Geisel las Hannah Arendt, Adorno und Horkheimer und schrieb über den von Deutschen begangenen Massenmord an den  Juden. Für ihn war es klar, dass man einen Mord nicht wiedergutmachen kann, Versöhnung nur von dem angeboten werden kann, der geschädigt wurde, und Opfer und Täter verschiedenene Worte sind. Geisel gehörte zu denen,  die einen Zusammenhang zwischen Sprache und Moral sahen.

Karl Kraus nannte Deutschland die „verfolgende Unschuld“. Geisel fand diese Formulierung immer wieder bestätigt. Deutschland kann nichts für sein Tun. Es war ja auch das erste Opfer Hitlers und wurde um Nobelpreisträger und schöne Synagogen gebracht. Jede Tätigkeit wird mit Talmi  überzogen, damit das Gemüt auch was hat.

„Denn ein deutscher Arbeitnehmer will nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seine Seele verkaufen.“ Und so wollte VW nicht  nur Autos verscherbeln, sondern auch eine Philosophie der ökologischen Mobilitätskultur oder so ähnlich. Der deutsche Unternehmer braucht nämlich seinen moralischen „Surplus“. Deutschland fühlt sich am wohlsten, wenn es als wehleidiger Sozialdarwinist auftreten darf.  „Die Deutschen hatten sich nämlich nie als Bürger der Welt, sondern immer nur als Verdammte dieser Erde gesehen«

Geisel lernte zwei Phasen kennen, wie sich Deutschland mit der „Vergangenheit“ auseinandersetzte. Denn in Deutschland bezieht sich, wie Geisel erklärt, die Vergangenheit keineswegs auf das Mittelalter sondern immer auf die Herrschaft des Nationalsozialismus. Jahrzehntelang galt für die Beschäftigung mit den Nazis die Devise „Schwamm drüber“. Es gab höchstens noch ein paar „Ewiggestrige“. Dann setzte etwas Mitte der achtziger eine „unspezifische Erinnerungswut“ (Clemens Nachtmann) ein, wobei vor allem der Mittelstand wütete. Wahrscheinlich hatte der Exportweltmeister gemerkt, dass es sich noch besser verkaufen lässt, wenn man sich international, und antirassistisch drapiert. Geissel schuf  dafür die schöne Bezeichnung „Kosmetikberatung“. So war der Antisemitismus gezwungen sich Schleichwege zu suchen. Am beliebsten ist dabei die Israelkritik friedensbewegter Bürger. Deutschland wurde zum, um eine unsterbliche Formulierung Wolfgang Pohrts zu gebrauchen, „Bewährungshelfer“. Gerade wegen Ausschwitz sollte sich Israel so und so verhalten. Als seien die Konzentrationslager „Fitnesscenter für künftige Demokraten“ gewesen. Statt Wohlstand werden in den Gazastreifen völkische Sehnsüchte geschickt. Den Pälästinenser wünscht man sofort an den Hals, was hier  zur Zeit nicht so cool ist:  Die Herrschaft der Pfaffen, die Unterdrückung der Frau und die Kleidung als Zugehörigkeit zu einer Ethnie.

Die „Männer des 20. Juli“ verübelten es ihrem Chef, dass die Rote Armee den Rittergütern bedenklich  nah kam. Wer keine Mühe hatte, „halb Europa  in Schutt und Asche zu legen“, putschte zu Hause dilettantisch vor sich hin. Geisel stellt dem gegenüber die Widerstandsgruppe um Herbert Baum. Der war Leiter einer jüdisch-kommunistischen Organisation. Sie führte  1942 einen Anschlag  auf die antikommunistische Ausstellung „Sowjetparadies“ in Berlin aus. Über zwanzig Mitglieder der Gruppe wurden hingerichtet. Gewalttätiger jüdischer Kommunist.  Das ist für den Versöhnungszwang vor der stolpernden Erinnerungsgedenkstättenkultur immer noch zu viel. Deshalb wurde die Inschrift an Herbert Baums  Gedenkstein im Jahre 2000 extra verändert.

Westerbork war ein Interierungslager in den Niederlanden für holländische bzw. nach Holland geflohene Juden während der Zeit der deutschen Besatzung Von dort gingen die Deportationszüge in den Osten. In Westerbork erhob sich die Scheinexistenz zur geregelten Lebensform Es gab ein gut ausgestattetes Krankenhaus und ein Theater.  Die Papiere und Listen, die vortäuschen sollten, es bestände eine Möglichkeit des Entkommens, waren tatsächlich nur auf dem Papier. Bis zur Abfahrt der Züge bestimmten Illusion und Maskerade die Wirklichkeit. „Hier sollten Menschen, die umgebracht werden sollten, erst so leben, dass sie deportationsfähig wurden.“ Geisel bringt mir bei,  dass eine Verwaltung die korrupt, unfähig und schlampig ist, zuweilen einen Gran von Humanität in sich birgt. Genau deshalb legten die Nazis grössten Wert darauf, „anständig geblieben“ zu sein. Die Verbrechen der Nazis verübten in der Mehrzahl  fürsorgliche und musische Familienväter.

Seit seinem öffentlichen Auftreten vertritt der Schriftsteller Peter Schneider unentwegt die Meinung, Literatur sei der zu spät gekommene Leitartikel. Trotzdem wird Schneider der Nachwelt erhalten bleiben, denn Geisel hat sich seiner angenommen. Schneider versteht es wie kein zweiter, jede Regierungserklärung mit poetischer Dichte und Geschichtsphilosphie, kurz mit der gesamten  Wikipedia zu verzieren.  So wurde er zum  „freischaffenden Einkaufsberater für die seelische Innenausstattung der Nation“. Geisel macht mit Schneider was ganz Schlimmes:  Er zitiert ihn oft und gern.

Geisel litt zeitlebens unter dem protestantischen Pfarrhaus, das nie Mittagsschläfchen hält sondern immer Meditationsarbeit leistet. Für dieses Millieu, für das der Mensch bei der Hausbibliothek beginnt und seinen Nachwuchs  ganz bewusst mit zivilgesellschaftlichen Engagement und Fairtradebananen vom Spielplatz lockt, ist das „Biotop mit toten Juden“ dazu da,  seelische Leere auszufüllen. „Mittelständische Annäherungstäter“ nennt sie Geisel und ihr Fluch ist, dass sie, wenn sie sagen, „gerade wir als Deutsche tragen eine besondere Verantwortung“  Nation, Volk und Heimat wiederbeleben.

Martin Beradt war ein jüdischer Schriftsteller und Rechtsanwalt in Berlin der zwanziger Jahre. Er schrieb den Roman „Die Strasse der kleinen Ewigkeit“. Beradt sammelt Ereignisse auf einen eng begrenzten Raum. Es geht um die  Grenadierstrasse im Scheunenviertel der Stadt. Zu Zeiten der Weimarer Republik war sie der  Warteraum ohne Ausgang für  Flüchtlinge jüdischer Abkunft aus Osteuropa. „Die von draussen kamen zu den da unten.“ Bethaus und Bordell, Zionisten und Zuhälter Tür an Tür.  So miserabel war die Lage, dass die Kriminellen sich nie zu solcher Grösse aufschwangen wie ihre Kollegen in Amerika. Kein Al Capone in Sicht; es blieb nur der kleine Bruch. Das  Bürgertum akzeptierte keinen  aus dem Scheunenviertel. Ein paar Kilometer weiter von der Grenadierstrasse wurde die Zukunft geplant. Die an die Stechuhr  Dressierten  sollten bald im Stechschritt marschieren. Im Scheunenviertel kam einer der grossen Figuren des zwanzigsten Jahrhunderts zur Welt. Der recht- und staatenlose Flüchtling für den die Behörden launische Götter sind. Habe ich Geisel richtig verstanden, feilte Beradt mit allen Werkzeugen  der modernen Prosatechnik an seinen Buch.

Geisel hat ein Händchen für die richtigen Zitate. Das „Wir“ ist das gegenwärtige Unwort. Es ist die Anrufung einer nicht existierenden Gemeinschaft. So als das „Wir“ dazu geschaffen, die Solidarität zu verfolgen. Geisel verweist auf Max Horkheimer: „Das Wir zu bewahren war die Hauptsache (…) Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte.“

Geisel entwirft den unerschütterbaren Charakter des Untertans im sturzbetroffenen Denkmalseinweiher, der auf Befehl Celan zitiert und Grünzeug nierderlegt. „Erst wurden die Juden bürokratisch vernichtet, dann gefühlig veredelt.“

Das Buch ist Antidot gegen die moralisierenden Imponiervokabeln der Gegenwart. Geisels bösartige Eleganz des Scharfsinns hat man ihm zu Lebzeiten nicht verziehen. Wenigstens jetzt sollte man einen der besten Stilisten, die wir je hatten, lesen.

Eike Geisel: Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays und Polemiken. Edition Tiamat, Berlin 2015. 464 S., 24 Euro, Bestellen?
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1 Kommentar

  1. Zitat aus der Rezension:
    Die „Männer des 20. Juli“ verübelten es ihrem Chef, dass die Rote Armee den Rittergütern bedenklich nah kam.

    Man muss hinzufügen: Nicht nur die Männer, auch die Frauen. Man lese die Erinnerungen der Elisabeth zu Guttenberg
    https://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_Freifrau_von_und_zu_Guttenberg
    Die berichtet wie ihre Familie, die Wertsachen aus den im Osten gelegenen Schlössern nach Würzburg in Sicherheit brachte, um sie ja nicht den Russen opfern zu müssen. Die ausgleichende Gerechtigkeit, ein alliierter Luftangriff, sowie souvenirsuchende Amerikaner und Flüchtlinge haben dann dafür gesorgt, dass die Wertsachen auf andere Weise verschwanden.

    Der Widerstand um Stauffenberg war teilweise geradezu bösartig antisemitisch:
    http://www.welt.de/kultur/history/article108835183/Obwohl-Antisemiten-kaempften-sie-gegen-Hitler.html
    https://arprin.wordpress.com/2012/07/20/stauffenberg-die-ganze-geschichte/

    Claus Stauffenberg aus dem Polenfeldzug 1939 an seine Frau Nina:

    „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu gebrauchen, arbeitsam, willig und genügsam.“

    Was für ein wahrer Held, was für ein herrlicher Deutscher, welch ein Vorbild für die Jugend, dieser Stauffenberg!

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