„Wer einen Juden, Muslim oder Christen als Solchen angreift, greift Frankreich an“

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Nach den Anschlägen gegen „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt widmet Frankreichs Regierung die Pariser Groß-Kundgebung dem „Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus“…

Von Danny Leder, Paris

Mit Angela Merkel, David Cameron und Matteo Renzi, um nur die drei zu nennen, wird „L’Europe“ (wie die EU in Frankreich genannt wird) Sonntag in Paris zur Stelle sein. Neben der Staatsführung wird alles, was Rang und Namen in Frankreich hat, an der Spitze marschieren, gefolgt von mehreren hunderttausend, vielleicht auch einer Million Demonstranten, wie Premier Manuel Valls noch am Vorabend in einem TV-Interview hoffte.

Gleichzeitig werden, wie schon in den Tagen zuvor, landesweit Menschen zu lokalen Kundgebungen strömen – rechnet man diese dazu, dürfte die Million sicher erreicht werden.

So schön und gut. Das „Volk steht auf“, wie das Pariser Blatt „Libération“ beschwörend schrieb, nach der blutigsten Terror-Serie seit dem Algerienkrieg in Frankreich, die in drei Tagen 17 Todesopfer forderte. Aber, und das gab Valls bei seinem Vorabend-Auftritt ebenfalls zu verstehen, dieser Marsch kann nur ein Beginn eines langen und komplizierten Abwehrkampfs der Republik sein. Lange, weil Frankreich durch seine Militäreinsätze gegen die Dschihadisten in Afrika und im Irak in Kriege verwickelt ist, die so bald nicht beendet werden können, und bei denen der islamistische Feind seinerseits Frankreich zum Schlachtfeld machen möchte. Kompliziert, weil jetzt der Kampf um die Köpfe jener vielen, meistens jungen Menschen vollends entbrannt ist, die den Kundgebungen für „Charlie-Hebdo“ ganz bewusst fernblieben. So wie sie sich schon die längste Zeit von den demokratischen Parteien abgewendet und von der Informationswelt der verantwortungsbewussten Medien abgekoppelt haben.

Lehrer berichteten, dass sie bei den Schweigeminuten für die Terroropfer in den Schulklassen immer wieder an Schüler gerieten, die die Ereignisse der letzten Tage als eine „Erfindung der Medien“ oder eine „Verschwörung der Regierung“ betrachten. Während Polizisten erzählten, dass sie in sozialen Krisenvierteln, wo es häufig zu Reibereien mit Jugendlichen kommt, in den letzten Tagen mit dem Ruf empfangen wurden: „Wir werden Euch alle umlegen“. Das sind jeweils wenige Personen, aber in der Summe kommt eine bedrohliche Minderheit sozial und politisch abgedrifteter Menschen zusammen. Aus diesem Milieu kommen die drei Attentäter, die der französische Soziologe Alain Bauer als Angehörige des neuen „Kriminal-Terrorismus“ definiert. Also Personen an der Schnittstelle zwischen Kriminalität, beziehungsmäßiger Verwahrlosung und Allmachtstreben, die sich in Eigenregie und Blitztempo in fanatische Mörder verwandeln können.

Vier Feinde im Visier: Intellektuelle, Juden, Polizisten, Abtrünnige Muslime

Genug autonom gegenüber Auftraggebern (zwei Attentäter bekannten sich zur Al Kaida im Jemen, einer zum IS, dem „Islamischen Staat im Irak und Syrien“), um ihre Aktionen für die Behörden kaum voraussehbar zu machen.  Aber auch genug indoktriniert, um nach politischen Leitlinien der dschihadistischen Ideologen zu handeln. Das wird bei der Auswahl ihrer Opfer ersichtlich. Der französische Islam-Experte Gilles Keppel konstatiert: „Sie haben Intellektuelle (die Charlie-Hebdo-Redakteure), Juden (bei der Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt), Polizisten und, aus ihrer Sicht, abtrünnige Muslime (drei der Getöteten, zwei Charlie-Mitarbeiter und ein Polizist, waren Muslime) umgebracht. Das sind die Feindkategorien, die die IS-Führer definiert haben. So wie der IS die Zerstörung der europäischen Staaten von innen her als sein strategisches Ziel definiert“ Also die Anstiftung zu Terror, der im Gegenzug die Ausgrenzung und Anfeindung der Muslime hochtreibt und die Demokratie in einen ethnoreligiösen Bürgerkrieg versinken lässt.

Als Antwort auf genau diese Strategie hat Valls zum heutigen Marsch nicht nur als Trauer-  und Protestkundgebung gegen Terror aufgerufen, sondern auch und vor allem den Anti-Rassismus hervorgestrichen: „Jedes Mal, wenn man einen Juden angreift, weil er Jude ist, einen Muslim angreift, weil er Muslim ist, und einen Christen angreift, weil er Christ ist, greift man Frankreich und seine Werte an.“

1 Kommentar

  1. Als 1982 vor der Synagoge in der Pariser Rue Copernic eine Bombe vier Menschen tötete – unter denen nur einer Jude war – sprach der damalige Premierminister Raymond Barre von einer „verabscheuenswürdigen Tat“ gegen „unschuldige Franzosen“.
    Seither wurden wieder Juden, weil sie Juden sind in Frankreich ermordet. Ich will hier nicht wieder alle aufzählen müssen, aber es wurden in Toulouse vor der jüdischen Schule drei jüdische Kinder ermordet weil sie Juden sind. Und es gab keine „je suis juif“ Erklärung der französischen Regierung und/oder der französischen Gesellschaft.
    Diesmal hielt der Ministerpräsident eine „starke Rede“, nachdem er von jüdischen Franzosen oder französischen Juden bedrängt wurde, weil der Staat sie nicht schützt. Und wieder einmal – so befürchte ich – werden nicht die entsprechenden Taten erfolgen, denn der Staat kann unmöglich vor jeden jüdischen Laden und vor jeder jüdischen Wohnung bewaffnete Polizisten stellen. Und er kann auch die Juden, die als Juden erkennbar sind auch nicht auf der Straße schützen.
    Was sich aber ereignet ist paradox. Gerade junge jüdische Ehepaare mit einigen Kindern verlassen das Land. Die meisten gehen nach Israel und diese Bewegung wird – glaube ich – wenn sich nichts ändert, anhalten.

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