Durcheinander an der Seine

1
161

Dem brachialen Judenhass eines Teils der muslimischen Jugend und der Normalisierungsstrategie von Marine Le Pen hält das ursprüngliche  Koordinatensystem der französischen Zivilgesellschaft nur schwer stand…

Von Danny Leder, Paris

„Sie haben das falsch verstanden“, sagte mir ein junger Mann auf dem Gehsteig vor dem „Théâtre de la Main d’Or“ und wirkte dabei aufrichtig erstaunt. Das war im vergangenen Juli. Soeben hatten wir, rund 150 Zuschauer dicht gedrängt, der neuen Darbietung des Kabarettisten Dieudonné in seiner angestammten Pariser Kleinbühne beigewohnt. Die Aufführung lief bereits vier Wochen, zweimal täglich. Unter dem zustimmenden Gelächter des Publikums, überwiegend junge Männer und auffällig wenig Frauen, hatte Dieudonné unter anderem erklärt: „Der Genozid an den Indianern, das war das Schlimmste. Daneben war die Sache in Polen während dem Krieg wie ein Urlaub im Club Méditerranée“.

In der Eile, nach der Vorstellung, als ich mir unter den wegströmenden Zuschauern einen Ansprechpartner schnappte, fiel mir obiger Satz ein, und ich fragte ihn, ob er sich an dieser Formulierung nicht gestoßen habe. Seine Antwort: „Dieser Vergleich war ein Witz, um die  Vertuschung des Völkermords an den Indianern zu kritisieren“. Ich blieb sprachlos.

So geht es einem oft, wenn man  Personen befragt, die zu Dieudonnés Fans gehören oder ihn in Schutz nehmen: „Warum soll man sich nicht auch über Juden lustig machen können?“ hatte mich eine politisch nicht sonderlich interessierte aber allen gegenüber wohlgesinnte Nachbarin zu Jahresbeginn gefragt. Damals hatte das Thema Dieudonné Tage lang die Öffentlichkeit beherrscht. Der damalige Innenminister (und jetzige Regierungschef) Manuel Valls hatte eine bereits ausverkaufte Tournee von Dieudonné in den Stadthallen mehrerer Provinzstädte wegen „Verhetzung“ verbieten lassen. Die Anwälte des antijüdischen Kabarettisten hatten jeweils – vergeblich – versucht die Verbote durch Berufung zu Fall zu bringen. Frankreichs TV-Nachrichtensender berichteten stündlich über diese Kraftprobe. In Erwartung der Entscheidungen der Höchstgerichte sah man tausende Fans vor den jeweiligen Hallen, die „Freiheit für einen Künstler“ forderten. Einige schwenkten Ananas-Früchte – in Anspielung auf ein, von Dieudonné verfasstes Spottlied: „Shoah-Ananas“. In dem damaligen Spektakel hatte Dieudonné über einen jüdischen Journalisten gesagt: „Sollte sich der Wind drehen, bin ich nicht sicher, ob er genug Zeit haben wird, seine Koffer zu packen. Wenn ich Patrick Cohen reden höre, denke ich, die Gaskammern – schade“.

Dieudonné Mbala Mbala, wie der Sohn einer Bretonin und eines Kameruner mit vollständigem Namen heißt, hatte ursprünglich mit antirassistischen Shows reüssiert und sich als Gegner des „Front National“ politisch engagiert. Ab 2004 war er aber zusehends von Israel-kritischen Einlagen auf schlicht anti-jüdische Hetze umgeschwenkt. Dabei blieb ihm ein Teil seines Ursprungspublikums aus der jungen Mittelschichte und aus franko-afrikanischen und franko-karibischen Kreisen treu, während neue, vor allem franko-arabische Fans dazu stießen. Seine Sketchs flachten zusehends ab, auch wenn sie sich mal zur Abwechslung nicht gegen Juden oder Homosexuelle (sein zweites Feindbild, darunter zuletzt namentlich Conchita Wurst) richteten. Sein Geschick besteht freilich darin, grausame Schmähungen als Späße zu tarnen und in seinen Darbietungen zwischenzeitlich durch andere Themen zu banalisieren.

Dabei besteht an seinem gewaltschwangeren, judenfeindlichen Weltbild kein Zweifel:

In der eingangs erwähnten, neuen Show im Juli machte Dieudonné „die Juden“ für die Sklaverei in der Karibik verantwortlich (weil sich unter den Sklaven-Haltern auch Juden befanden). Dabei hielt er „den Juden“ vor, sie hätten sich „nach diesem, von ihnen verübten Genozid besser als die Nazis durchgeschlagen“.  Auf seinem Webportal, das hunderttausende Besucher zählt, verlautbarte er zu Neujahr: „Zwischen Juden und Nazis bin ich neutral. Wer hat wen provoziert? Ich habe da so meine Idee“.

Dieudonné: „Der Zionismus macht die Franzosen zu Sklaven“

Für Dieudonné ist der Zionismus „eine Sauerei“, die die Franzosen „zu Sklaven“ gemacht habe. „Unsere Herren waren noch nie so mächtig, sie beherrschen uns, sie vergewaltigen und demütigen uns“. In Frankreich würde aber schon bald gegen diese „Herrschaft der Zionisten ein Aufstand stattfinden.“

Seinen Lagerwechsel von links nach rechts vollzog Dieudonné zuerst durch einen Schulterschluss mit Jean-Marie Le Pen. Sein engster politischer Gefährte ist aber Alain Soral. Vormals ZK-Mitglied des „Front National“, verließ  Soral diese Partei, um sich ungehemmter NS-Apologie zu widmen. Soral will  Rechtsradikale und Muslime unter dem Banner des „Kampfs gegen die jüdische Weltherrschaft“ vereinen.

Diese, auf das Internet konzentrierte „Dieudo-Sphäre“ ist zwar politisch eine marginale Strömung, sie addierte sich aber in den letzten Jahren mit drei weiteren, zunehmend gefährlichen Erscheinungsformen der Judenfeindschaft:

  • Gelegenheits-Übergriffe. An erster Stelle firmieren die immer wieder kehrenden Gelegenheitsattacken in volkstümlichen Vierteln, denen Juden ausgesetzt sind, die mit Erkennungszeichen wie der Kippa oder dem Davidstern unterwegs sind. Mal werden sie beschimpft, mal werden sie bespuckt, mal werden sie geschlagen. Ein jüdischer Schulbus wird mit Steinen beworfen. Aus den oberen Etagen einer Sozialbau-Siedlung prasseln Gegenstände auf den darunter liegenden Hof eines jüdischen Kindergartens, die Kinder können nicht mehr im Freien spielen. Die Täter sind fast ausnahmslos Jugendliche aus muslimischen Familien oder Islam-Konvertiten. Es gibt zwar etliche Beispiele aus Randvierteln, die von einer weiter bestehenden, problemlosen Koexistenz zwischen Juden und Muslime zeugen. Aber seit dem Jahr 2000, parellel zur zweiten palästinensischen Intifada, ist die Zahl der Attacken hoch geschnellt und und kaum mehr gesunken. Aus den Statistiken des französischen Innenministeriums geht hervor, dass von sämtlichen, als „rassistisch“ eingestuften Taten die Hälfte gegen Juden gerichtet ist. Dabei stellen die Juden weniger als ein Prozent der Bevölkerung Frankreichs. Auch wenn, auf Grund der Einwanderung aus Nordafrika, Frankreich das Land mit den meisten Juden Europas (rund eine halbe Million, Zahl abnehmend) und Muslimen (sechs bis acht Millionen, Zahl ansteigend) ist.
  • Die Juden müssen mit einer zusätzlichen Steigerungsstufe auf der Gefahrenskala umgehen, seit klar geworden ist, dass es zwischen ihren gelegentlichen Peinigern aus der näheren oder weiteren Umgebung und dschihadistischen Attentätern Querverbindungen geben kann. Das gilt vor allem seit dem Überfall von Mohammed Merah auf eine jüdische Schule in Toulouse im März 2012. Der Franko-Algerier Merah, der in Frankreich aufgewachsen war und später zur „Al Kaida“ stieß, erschoss in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer (In den Tagen zuvor hatte Merah zwei Soldaten getötet. Nach den Morden in der jüdischen Schule wurde er von der Polizei in einer Wohnung gestellt und kam nach einer Belagerung bei einem Feuergefecht ums Leben). Als Reaktion auf diese Morde gab es zwar einen nationalen Schulterschluss in Frankreich: der damalige Wahlkampf legte eine Pause ein, während der sich sämtliche Spitzenpolitiker zu einer Trauerkundgebung versammelten. An allen Schulen Frankreichs wurden Gedenk- und Gesprächs-Runden sowie eine Schweigeminute anberaumt. Aber in der Folge kam es zu einem deutlichen Anstieg der Drohungen und Handgreiflichkeiten gegen Juden, so als hätte Merah eine Art Beispielwirkung ausgeübt. Im vergangenen Mai folgte der Feuerüberfall des Franko-Algeriers Mehdi Nemmouche auf das jüdische Museum in Brüssel, bei dem vier Personen getötet wurden. Aber schon 2003 und 2006 waren jeweils ein Jude vorsätzlich von Jugendlichen getötet worden, die sich an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und Islamismus bewegten.
  • Kollektiv-Angriffe. Im vergangen Juli, im Rahmen der Demonstrationen gegen die israelische Intervention in Gaza, verdichtete sich dieses gewaltschwangere Klima erstmals zu einem Kollektiv-Angriff auf Synagogen und jüdische Läden. Am Sonntag den 20. Juli wurde eine Palästina-Kundgebung ausgerechnet in Sarcelles angesetzt. Das ist unter den hunderten Gemeinden des volkstümlichen, nördlichen Pariser Vorortegürtels jene Trabantenstadt, in der die meisten Juden leben. Seit den 1960er Jahren hatten sich dort Juden aus Tunesien angesiedelt und eine bis heute sichtbare Gemeindestruktur aus Synagogen, Kindergärten, Sozialzentren, koscheren Imbiss-Stuben und Lebensmittel-Läden errichtet. Die verheerenden Folgen der Palästina-Demonstration in Sarcelles waren daher quasi vorprogrammiert: kaum war die – von den Behörden verbotene, aber schließlich tolerierte – eigentliche Kundgebung beendet, stürmten hunderte Teilnehmer in Richtung der nächst gelegenen, größten Synagoge. Von der Polizei abgedrängt, verwüsteten sie Ämter und Läden, darunter ein Bistro, in dem christliche Einwanderer aus dem Irak und der Türkei („Chaldo-Assyrer“) verkehren, und einen koscheren Supermarkt. Dieser war bereits 2012 Ziel eines missglückten Sprengstoff-Anschlags einer Dschihadisten-Zelle gewesen. Geschäfte, die sichtlich Muslimen zugeordnete werden konnten, wie Halal-Metzgereien oder türkische Reisebüros, blieben bei den Unruhen im Juli von jeder Attacke verschont. Einige Angreifer schwenkten auch türkische Fahnen – wohl auch das Resultat der antijüdischen Hetze des türkischen Premiers Recep Erdogan. Bis dahin hatten die Juden von Sarcelles nie Zwischenfälle mit türkischen Muslimen aus der Gegend zu verzeichnen. „Schlimmer als die Zerstörungen ist die psychologische Erschütterung“, konstatierte Tags darauf der sozialistische Bürgermeister von Sarcelles: „Es ist der Schock über den Hass der Jugendlichen aus einigen Vierteln“. Tatsächlich waren Jugendliche und Halbwüchsige aus umliegenden Bauten auf die Straße gerannt, um sich dem unter ihren Fenstern vorbeilaufenden Pulk der Angreifer (die aus dem gesamten Vorortegürtel nach Sarcelles gekommen waren) anzuschließen.

Tunesisches Trauma

Nachträglich erschien mir die Signalwirkung der Ereignisse von Sarcelles besonders klar, als ich mich zufällig zu einer Untersuchung bei meinem – jüdischen – HNO-Arzt einfand. Unaufgefordert erzählte der ansonsten eher zurückhaltende Mann: „Mein Cousin in Sarcelles, sandte uns mehrere SMS mit Hilferufen, weil er fürchtete, die Menge könnte mit ihren Eisenstangen und Knüppeln in die Wohnungen der Juden hochstürmen. Mich hat das an unseren Auszug aus Tunesien erinnert, während des Sechstagekriegs 1967. Mein Vater hielt sich in einer Synagoge versteckt, die von der Menge angegriffen wurde. Der Synagogenwächter, ein Muslim, musste im Namen Allahs schwören, keine Juden zu verbergen. Aber immerhin beschützt uns hier die Polizei, das ist der Unterschied zu Tunesien. Auswandern werde ich nicht“.

Die Vorstellung, im Notfall nur mehr durch – einen selber schwer bedrängten – Polizeikordon vor einer feindlichen Meute geschützt zu werden, hat allerdings einige Juden sehr wohl in eine neue Emigration getrieben. Ein nach Israel ausgewanderter Jude, der dort vom Gaza-Krieg überrascht wurde, erklärte der Zeitung „Le Parisien“: „Ich bereue nichts. In Israel können wir kollektiv standhalten, in Paris war ich den Anfeindungen als Individuum ausgeliefert.

Die Auswanderung nach Israel blieb aber bisher bescheiden. In den letzten Jahren handelte es sich jeweils um 1500 bis 3000 Personen. Für 2014 prognostizieren die israelischen Behörden einen Zustrom von über 5000 Juden bis Jahresende. Erfahrungsgemäß kehrt ein Drittel wieder zurück. Freilich dürfte eine noch größere Zahl französischer Juden in andere Länder migrieren, vor allem in die USA und Kanada. Für einige dürfte die Bedrohungslage als praktizierende Juden ausschlaggebend sein, für andere die Krise der französischen Wirtschaft, und für manche ein Mix aus diesen Motiven.

Brisanter ist der Auszug fast aller jüdischen Kinder und – einiger – jüdischen Lehrer aus den öffentlichen Schulen im nördlichen Pariser Vorstadtgürtel. Man muss freilich einschränkend vermerken, dass Muslime ihrerseits aus Problemschulen in meistens katholische Privatanstalten ausweichen.

Präsident Hollande verärgert muslimische Meinungsträger, Regierungschef Valls bekennt „ewige Verbundenheit mit Israel“

Polizei und Justiz reagieren in den allermeisten Fällen verhältnismäßig schnell und scharf auf antijüdische Übergriffe. Die relevanten Politiker des Landes, ob Regierung oder bürgerliche Opposition, lassen nicht den geringsten Zweifel an ihrem Engagement zur Verteidigung der jüdischen Bürger.

Zu Beginn der israelischen Intervention in Gaza, im vergangenen Juli, signalisierte der sozialistische Staatschef Francois Hollande Verständnis für das Vorgehen Israels. Wofür Hollande als „Komplize Israels“ von der pro-palästinensischen Bewegung geschmäht wurde. Hollande und Regierungschef Valls ließen pro-palästinensische Demonstrationen im volkstümlichen Osten von Paris, wo die meisten Synagogen stehen, verbieten. Damit nahm Hollande eine spürbare Verärgerung etlicher muslimischer Meinungsträger in Kauf, obwohl die muslimischen Wähler entscheidend zu seinem Sieg bei der Präsidentenwahl 2012 beigetragen hatten.

Außerdem verknüpfte Hollande bei seinen Auftritten mehrmals die aktuelle Bedrohungslage der Juden, etwa nach den Morden in der jüdischen Schule in Toulouse, mit der Erinnerung an die Judenverfolgung unter der NS-Okkupation Frankreichs. Wobei er auch immer wieder die historische Mit-Verantwortung der französischen Behörden hervorstrich. So sprach Hollande gleich nach seiner Amtsübernahme 2012,  bei einer Gedenkzeremonie für die Massenfestnahmen unter den Juden von Paris im Juli 1942,  von „einem Verbrechen, das in Frankreich und durch Frankreich verübt wurde“ – ausgeführt durch „französische Polizisten“ und „französische Gendarmen“ auf „Anweisung des französischen Kollaborationsregimes“. Generell erwog Hollande „den Verrat an den Juden Frankreichs“. Damit trat Hollande in die Fußstapfen des bürgerlich-gaullistischen Staatschefs Jacques Chirac, der ebenfalls gleich nach seinem Amtsantritt, 1995, diesbezüglich eine „untilgbare Schuld Frankreichs“ eingestanden hatte.

Manuel Valls, den Präsident Hollande im März 2014 zum Regierungschef ernannte, ist da um eine Spur noch engagierter. Wie eingangs bereits erwähnt, war Valls als Innenminister dem antijüdischen Hetzer Dieudonné entgegen getreten, in dem er eines seiner Spektakel erstmals verbieten ließ. Valls hatte seine Popularität für diesen Vorstoß, der von einem Teil der Öffentlichkeit als übertrieben empfunden wurde, aufs Spiel gesetzt. Schon zuvor hatte Valls, der ursprünglich als Bürgermeister der Trabantenstadt Evry (südlich von Paris) amtierte, mehrfach festgestellt:  „In unseren Vorstädten entwickelt sich ein neuer Antisemitismus“. Wofür Valls die Vermengung zwischen Kriminalität und radikalem Islam verantwortlich machte. Beim jüngsten jüdischen Neujahrsfest in der Pariser Hauptsynagoge in der Rue de la Victoire erklärte Valls: „Man muss den neuen Antisemitismus bekämpfen, der vor dem Hintergrund des Antizionismus den Judenhass verbreitet… Wer Israel das Existenzrecht abspricht, kann dem Vorwurf des Antisemitismus nicht entgehen… Jude und Franzose zu sein sind zwei untrennbare Identitäten“. Valls, der mit einer jüdisch-stämmigen Musikerin verheiratet ist, hatte sich auch nicht gescheut in einem Radio-Interview  zu versichern: „Über meine Frau bin ich auf ewige Weise mit der jüdischen Gemeinschaft und Israel verbunden“.

Der vormalige bürgerliche Staatschef Nicolas Sarkozy hatte sich im Wahlkampf 2007, der ihn an die Staatsspitze befördern sollte, mehrfach zu den jüdischen Wurzeln seiner Familie bekannt: vor tausenden begeisterten Anhängern, bei Massenversammlungen im Vorfeld seines Wahlsiegs, würdigte Sarkozy auch immer wieder seinen Großvater mütterlicherseits, der aus einer jüdischen Familie in Griechenland stammte: „Dieser Jude aus Saloniki, den ich leidenschaftlich liebte“.

Bei einer Rede vor dem Dachverband der jüdischen Organisationen Frankreichs, 2008, empfahl Sarkozy, jeder französische Schüler der zweiten Grundschulstufe (10 bis 11 Jährige) sollte die Patenschaft für jeweils ein jüdisches Kind übernehmen, das in der Deportation umgekommen war – ein Vorschlag, den auch die meisten jüdischen Persönlichkeiten und Organisationen als unzweckmäßig und überlastend ablehnten (Die „Massenvernichtung der Juden und Zigeuner“ ist seit 2002 ein Schwerpunkt des Geschichtsunterrichts der mittleren französischen Schulstufe. An den Toren fast aller Pariser Schulen hängen Gedenktafeln für die deportierten jüdischen Kinder, in den Eingangshallen sind meistens ihre Namen in Stein gemeißelt). Nach dem provokanten Aufmarsch einer antijüdischen, schwarzen Separatisten-Sekte („Tribu Ka“) im Mai 2006 im historischen jüdischen Pariser Viertel um die Rue des Rosiers sagte Sarkozy: „Der Antisemitismus bedarf keiner Erklärung. Er wird bekämpft“.

Noch vor ihm hatte Präsident Jacques Chirac nach der ersten Welle antijüdischer Übergriffe in Frankreich, im Jahr 2000, parallel zur zweiten palästinensischen Intifada, erklärt: „Wer einen Juden angreift, greift Frankreich an.“  Chirac, Sarkozy, Hollande und Valls waren und sind, ihren phasenweisen Popularitäts-Einbrüchen zum Trotz und jeder auf seine Weise, die Träger des Mehrheitswillens des französischen Wahlvolks.

All dies muss man im Auge behalten, wenn man leichthin formulierte Schlagzeilen über den „wachsenden Antisemitismus in Frankreich“ liest, die bei oberflächlicher Lektüre den Eindruck eines generellen Anstiegs der Judenfeindlichkeit in Frankreich hinterlassen können. Will man so etwas wie eine Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung ausmachen, kann man am ehesten von einem abwechselnden Unbehagen gegenüber Israel und seinen arabischen Gegnern sprechen. Von einer relevanten Zunahme anti-jüdischer Einstellungen in der Mehrheitsbevölkerung Frankreichs kann aber keine Rede sein.

Stimmungsverschiebung im gesellschaftskritischen Jugendmilieu

Eine bedeutsame Stimmungs-Verschiebung hat allerdings im gesellschaftskritischen Jugendmilieu und bei den gebildeten Mittelschichten stattgefunden. Dieses rührige Milieu neigte bis in Ende der 1990er Jahre zu Sympathie mit der jüdischen Minderheit. Aktivisten mit jüdischen Wurzeln waren und sind in diesem Milieu zahlenmäßig stark vertreten – ein Teil von ihnen trägt auch pro-palästinensische Initiativen oder unterstützte zumindest israelisch-palästinensische Verständigungsbemühungen. Ihr Anteil ist aber unter den nachrückenden Generationen der linken Szene gesunken. Nunmehr überwiegt in diesem Milieu eine schärfere Kritik an Israel und Unverständnis gegenüber einer jüdischen Gemeinschaft, die sich nach außen hin vor allem in der ultrarigoristischen Lubawitsch-Bewegung verkörpert. Das hat eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen Opfern von Übergriffen mitbegünstigt.

Das lässt sich im Rückblick an zwei historischen Markierungen festmachen. Im Zuge des Jugendaufstands des Mai 1968 lautete einer der Slogans: „Wir alle sind deutsche Juden“. Das war eine Antwort auf ein rechtsradikales Blatt, dass dem Aufstands-Tribun Daniel

Cohn-Bendit zum Vorwurf gemacht hatte, sowohl Jude als auch Deutscher zu sein. Im Mai 1990 löste die Schändung des jüdischen Friedhofs in Carpentras, in Südost-Frankreich, immense Demonstrationen aus, wobei Jean-Marie Le Pen (damals in einer Aufstiegsphase) als indirekter Verursacher gebrandmarkt wurde (Die Täter, erst sechs Jahre später ausgeforscht, kamen aus einer Neonazi-Clique). Die antijüdischen Übergriffe der vergangenen Jahre haben hingegen nie eine auch nur ansatzweise vergleichbare Reaktion ausgelöst.

Distanz zwischen Juden und „sichtbaren Minderheiten“

Repräsentanten jüdischer Institutionen und Verbände bemühen sich um Bündnisse mit Organisationen, die einen Vertretungsanspruch für ethno-soziale Gruppen erheben, die heute in Frankreich als „sichtbare Minderheiten“ bezeichnet werden: vornehmlich Muslime, Araber und „Schwarze“ (Der Begriff „Les Noirs“ oder „Les Black“ wird in Frankreich als identitätsstiftende Definition von den betroffenen Gruppen benützt). Diese Bündnisse sind aber auf wenige Berufsaktivisten und abgehoben wirkende Würdenträger beschränkt.

In einer unterschwellig gängigen Optik, in der sich Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit vermengen, stehen sich Juden und muslimische Jugend aus arabischen und afrikanischen Familien auf den zwei Ebenen der französischen Gesellschaft gegenüber. Dabei spielt die Polarisierung um den Nahost-Konflikt die Schlüsselrolle. Dazu kommt, dass die Juden, inklusive ihrer, aus nordafrikanischen Familien stammenden Mehrheit, zu den „Weißen“ gezählt werden, weil sie keine berufliche Diskriminierung erleiden, vielfach im Mittelschichtsmilieu aufgegangen sind und unter den wirtschaftlichen und politischen Eliten prominent vertreten sind. Auch wenn jetzt wieder eine wachsende Zahl der Juden in Armut abstürzt.

Folgt man den erwähnten, geläufigen Vorstellungen, steht dieser „weißen“ Mehrheitsbevölkerung ein Kollektiv gegenüber, das aus Franko-Arabern, Franko-Afrikanern und Franko-Karibern („Antillais“) besteht (Letztere sind von Haus aus französische Staatsbürger, stammen aus den noch immer zu Frankreich gehörenden Antillen-Inseln und sind Nachfahren der dorthin verschleppten afrikanischen Sklaven). Hinter dieser Zuordnung zu einem Kollektiv verbergen sich zahllose, unterschiedliche Abstammungs- und Gemeinschaftsdefinitionen, verschiedentlichste, rivalisierende religiöse und politische Strömungen und eine grenzenlose Vielfalt von sozialen Schicksalen und persönlichen Meinungen. Es ist aber nichtdestotrotz wahr, dass die jungen Menschen aus diesen Bevölkerungsgruppen die vergleichsweise geringsten Job- und Aufstiegschancen haben. Wobei die anhaltende Stagnation der französischen Wirtschaft in besonderem Maß auf diesen Personengruppen lastet. So beträgt etwa die Jugendarbeitslosigkeit im Landesschnitt 23 Prozent (Stand vom ersten Trimester 2014), sie erreicht aber die doppelte Höhe in den Sozialbau-Siedlungen an den Stadträndern, wo die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund überwiegen.

Ein Teil der jungen Menschen aus diesem „nicht-weißen Kollektiv“  hat auf Grund gemeinsamer Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung auch zu einer Art Gemeinschafsgefühl gefunden, das sich zunehmend mit der Bezeichnung „Muslime“ überlappt. Der von diesem Jugendmilieu entwickelte Habitus, wie etwa Grußformeln und andere verbale Code, die einem neo-pietistischen Islam entlehnt sind, üben eine gewisse Faszination auf einen Teil der „weißen“ Jugend aus. Mitübernommen wird dann auch das antijüdische Ressentiment, das bei einem Teil der muslimischen Jugend virulent ist. Die Resonanz von Dieudonné unter „weißen“ Jugendlichen ist Ausdruck dieser Tendenz.

Debatte um „Anti-Weißen-Rassismus“

Aber meistens ist (immerzu dem selben Schema folgend) auf der „weißen Seite“ des Jugend- und Bevölkerungsspektrums eine tendenziell konträre kollektive Befindlichkeit spürbar. Diese beruht auf teils realer und teils vermeintlicher Rivalität mit den Nachfahren der Migrantenfamilien und den Neu-Migranten um Jobs oder Sozialbauwohnungen. Und auf der Angst vor der Gewalt und Kriminalität, die ein Teil der vorstädtischen Jugend ausübt.

Die Träger dieser Kriminalität sind zwar eine Minderheit unter der Jugend mit Migrationshintergrund, und ihre ersten Opfer im Alltag sind auch wiederum die Nachbarsfamilien mit Migrationshintergrund. Sie prägen aber das Erscheinungsbild der Gewaltkriminalität. Dahinter steckt das Wegbrechen der französischen Industrie in einem bisher unbekanntem Ausmaß. Dadurch werden, wie bereits erwähnt, vorrangig Familien arabischer und afrikanischer Herkunft ihrer vormaligen Berufs- und Aufstiegschancen beraubt – auch wenn der französische Wohlfahrtsstaat, trotz Sparmaßnahmen, noch immer mittels vergleichsweise hoher Transferleistungen ein halbwegs funktionstüchtiges soziales Auffangnetz gewährleistet.

Aber immer breitere Teile der übrigen Bevölkerung, die ihrerseits zunehmend sozial abrutschen, überschätzten diese Transferleistungen und beneiden deren Bezieher. Kaum mehr erträglich scheint dann der zuvor beschriebene kriminelle Druck von Teilen der Jungend aus den Sozialbau-Siedlungen. Es ist diese Konstellation, die zum drastischen Anstieg der Jungwähler des „Front National“ entscheidend beigetragen  hat.

Wie wir bereits gesehen haben, müssen sich Juden vor den selben Kreisen der vorstädtischen Jugend fürchten. Das hat, im öffentlichen Erscheinungsbild jüdisch eingestufter Persönlichkeiten, auf zwei Ebenen seinen Niederschlag gefunden:

  • einige Aktivisten und Gruppen der moderat-linken Anti-Rassismus-Szene, haben den Begriff des „Anti-Weißen-Rassismus“ geprägt. In mehreren Fällen von Gewalttaten gegen „Weiße“, die als solche beschimpft und attackiert wurden, haben Opfer-Anwälte (aus diesen Anti-Rassismus-Bewegungen) bei Prozessen auf Taterschwerung gepocht, wie sie die Gesetzgebung bei rassistischen Beweggründen vorsieht. Eine derartige Argumentation war zuvor rechten Bewegungen vorbehalten. Andere Anti-Rassismus-Bewegungen beharren darauf, dass der Rassismus-Vorwurf nur dann zutreffe, wenn er Ausdruck einer politisch konstruierten Ideologie und Vormachtstellung gegenüber Angehörigen von historisch benachteiligten und entsprechend klassifizierten Gruppen ist.
  • Einige – wenige, aber markante – Persönlichkeiten mit jüdischen Wurzeln gelten als Bannerträger der Kritik des (ihrer Meinung nach) um sich greifenden „Multi-Kulturalismus“. Nach deren Lesart stehen vor allem die jungen Muslime unter Verdacht, kaum Eingliederungsbereitschaft und staatsbürgerliche Loyalität gegenüber der demokratischen Republik aufzubringen. Dieser Haltung würden linke Lehrer Vorschub leisten, behaupten die Kritiker des „Multikulturalismus“. Der namhafteste Repräsentant dieser Kritik auf jüdischer Seite ist der Essayist Alain Finkielkraut. Er ist damit zu einem Buhmann vieler Linker geworden, obwohl er (was weniger bekannt ist) im Nahost-Konflikt die innerjüdische „J-Call-Bewegung“ unterstützt, die von Israel den Rückzug aus den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten fordert. Unbestreitbar weit rechts angesiedelt ist der prominente Essayist und TV-Polemist Eric Zemmour, der zuletzt von der französischen Medien-Aufsichtsbehörde in die Schranken gewiesen wurde, weil er erklärt hatte: „Die großen Invasionen, die auf den Fall von Rom folgten, werden jetzt durch Banden von Tschetschenen, Roma, Kosowaren, Maghrebinern, Afrikanern ersetzt, die Gewalt ausüben und plündern.“ Derartige Meinungsträger gab es schon seit jeher auch unter Juden, sie fanden aber kaum breitenwirksame Tribünen und wurden auch nicht als Stimmungsbarometer ernst genommen.

Marine Le Pen „entteufelt“ ihre Partei

An dieser Stelle ist ein Exkurs zum „Front National“ nötig. Der rechtspopulistische FN kam bei den EU-Wahlen im vergangenen Mai auf 25 Prozent und wurde damit erstmals zur stimmenstärksten Partei. Die FN-Vorsitzende, Marine Le Pen, erzielte diesen Erfolg, in dem sie sich und die um sie gescharten eher jüngeren Parteikader  vor allem als Verfechter nationaler Eigenständigkeit gegenüber der EU präsentierte. Die Agitation gegen die EU, die  Sparauflagen von Brüssel, den globalen Wettbewerb und den  Euro („ein von Deutschland aufoktroyiertes Zwangskorsett“) stand im Vordergrund. Die üblichen Reden gegen den Vormarsch des Islams, neue Migranten aus Afrika und Roma aus Osteuropa lieferte die Begleitmusik.

Marine Le Pen war es zuvor gelungen, im öffentlichen Auftreten ihrer Partei das ihr nachhängende antijüdische Image fast komplett zu tilgen. Der Lebensgefährte von Marine Le Pen und FN-Vizepräsident, Louis Alliot, der auf einem jüdisch-algerischen Großvater verweist, erklärte in Hinblick auf die so genannte „Dédiabolisation“ (wörtlich: „Entteufellung“, der Begriff steht für die neue Akzeptanz des FN unter Marine Le Pen): „Diese (Entteufellung) bezieht sich nur auf den Antisemitismus. Beim Flugzettel-Verteilen war der (Vorwurf des) Antisemitismus das einzige Hindernis, an dem wir scheiterten. Es war nur das. Wenn sie diesen Riegel entfernen, kommt alles in Fahrt“ (Aus einem Gespräch mit der Historikerin Valérie Igounet, zitiert in ihrem 2014 erschienenen Buch „Le Front national de 1972 à nos jours“).

Beim historischen Gründerkern des FN rund um Jean-Marie Le Pen fiel der Judenhass zweifellos ins Gewicht. Als Jean-Marie Le Pen aber in den 1980er Jahren mit ersten Wahlerfolgen aus seiner politischen Randexistenz hervortauchte, versuchte er an jüdischen Gemeinden anzudocken und mit pro-israelischen Stellungnahmen zu punkten. Er blitzte aber dabei jedes Mal ab.

In der Folge leistete sich Jean-Marie Le Pen gelegentlich wieder unterschwellige aber dafür umso provokantere antijüdische Sprüche. Rund um den Aufstieg seiner Tochter zur Parteivorsitzenden 2011 wurde dieses Thema zu einem innerfamiliären Reibungspunkt der Le Pen-Dynastie.

Der Vater hatte zwar seine Tochter als Nachfolgerin favorisiert. Ihren Triumphzug als Partei-Erneuerin erlebte er aber als seine Kaltstellung. Dagegen opponiert er mit einschlägigen Sprüchen. Nach dem Erfolg von Marine Le Pen bei den EU-Wahlen erschien auf dem FN-Webportal ein Interview, in dem Jean-Marie Le Pen gegen Promis wetterte, die es gewagt hatten, sich seiner Bewegung öffentlich zu widersetzen. Als er auf den Schlagerstar Patrick Bruel, der aus einer jüdischen Familie stammt, zu sprechen kam, lachte Jean-Marie

Le Pen höhnisch und sagte: „Das nächste Mal machen wir (aus ihm) eine Ofenladung“. Dabei benützte Jean-Marie Le Pen das französischen Wort „Fournée“, das auch  „Ladung“ (ohne Ofen) oder „Schub“ bedeuten kann. Deswegen, so Jean-Marie Le Pen nachträglich, wäre „jeder Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg eine verrückte Interpretation von Schwachköpfen.“

Die Bezeichnung „Schwachkopf“ zielte auf den oben erwähnten FN-Vizepräsidenten Louis Alliot. Dieser und weitere FN-Politiker desavouierten erstmals den Gründer des Front National. Marine Le Pen rang sich allerdings erst zwei Tage später zu einer – spitzfindigen – Stellungnahme durch: darin übernahm sie die Rechtfertigung ihres Vaters, indem sie von einer „böswilligen Interpretation“ sprach. Fügte aber hinzu, dass Jean-Marie Le Pen durch eine derartig interpretierbare Formulierung einen „politischen Fehler“ begangen habe. Auch nehme sie diese „Polemik“ zum Anlass, um „daran zu erinnern, dass der Front National jede Form von Antisemitismus verurteilt“.

Marine Le Pen kann und will sich nicht von ihrem Vater trennen, dem ideologischen Urgestein des FN. Auch wenn sie bezüglich des Holocausts dem Anstand genüge getan hat (Sie bezeichnete den Holocaust als „Gipfel der Barbarei“). Sie verwahrte sich deswegen auch gegen eine Fraktionsbildung im EU-Parlament mit Parteien wie der ungarischen „Jobbik“ oder der griechischen „Goldenen Morgenröte“.

Jüdische und muslimische Wähler des „Front national“

Die Zähmung der antijüdischen Parteikader rund um ihren Vater ist für sie umso wichtiger, als sie sich als Verteidigerin der säkularen Republik gegen die Islamisten präsentiert. So erwähnte sie mehrmals die Bedrohung, denen Juden, Frauen und Homosexuelle in Vierteln ausgesetzt sind, in denen muslimische Migranten überwiegen. In ihrer Entourage sind aber Persönlichkeiten aktiv, die gegenüber den judenfeindlichen Strömungen um Dieudonné und Soral wohlwollende Neutralität signalisieren.

Bis heute haben sich die repräsentativen jüdischen Gemeindevertreter den Vereinnahmungsversuchen von Marine Le Pen widersetzt. Die Bedrohungslage der Juden in den volkstümlichen Vierteln wirkt freilich als Nährboden: galten traditionell rund fünf Prozent der Wähler aus jüdischen Familien als FN-nah, so dürfte sich der Trend inzwischen verstärkt haben.

So wie es eine Minderheit jüdischer FN-Wähler gibt, existiert auch eine wachsende Minderheit muslimischer Wähler, die für Marine Le Pen stimmt. Wenn Juden und Muslime für den FN stimmen, sind vielfach die selben Gründe wie für die restliche Bevölkerung ausschlaggebend, also die Jobkrise, die Angst vor der Kriminalität und die Suche nach einem Sündenbock. Aber darüber hinaus wählen Teile der Juden und Muslime zwei verschiedene Arten von FN. Jüdische Wähler können darin die schärfste Antwort auf die Bedrohung durch radikalisierte junge Muslime sehen. Während auf Seiten der muslimischen Wähler einige glauben, sie könnten ihrer Aversion gegen Israel und ihrer Judenfeindschaft eine Steigerungsstufe verleihen, in dem sie für die von Jean-Marie Le Pen gegründete Partei stimmen.

Aber wenn ich Erfahrungen aus meiner Wohngegend berücksichtige, im nordöstlichen Teil von Paris, wo Sozialbauten, Mietskasernen und gediegenere Unterkünfte der Mittelschicht aneinander kleben, dreht sich die Stimmabgabe für den FN überwiegend um eins: die kriminelle Energie von Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Darüber gerate ich oft im Zeitungsladen vor meinem Haustor in Gespräche. Das Geschäft wird von einem homosexuellen Paar geführt, das sich von Jugendlichen aus der Umgebung manchmal bedrängt fühlt, sei es durch Anpöbelungen oder Diebstähle. Eine nahe Anrainer-Initiative liegt im Dauerclinch mit einer lärmenden und dealenden Jugendbande.

Die überwiegend ältere Kundschaft des Zeitungsladens berichtet über Wohnungs-Einbrüche und  Raubüberfälle auf der Straße, manches vom Hören-Sagen und aufgebauscht, manches tatsächlich erlebt. Marine Le Pen hat bei etlichen dieser Kunden Aufwind. Die beiden Ladenbetreiber wollen die FN-Chefin nicht an die Staatspitze gelangen sehen, aber ihre jüngsten Wahlerfolge haben sie als Revanche erlebt für die kleinen Demütigungen und Belästigungen, denen sie gelegentlich ausgesetzt sind. Die beiden, keine Juden, platzieren ein jüdisches Wochenblatt an einer prominenten Stelle ihres Geschäfts, gleich neben der Kassa. Für die Zur-Schau-Stellung dieser Zeitung wurden die Labenbetreiber von Maghrebinern mehrmals beschimpft.

Manchmal stellen sie mich, den deklarierten linksliberalen SP-Wähler, zur Rede, zuletzt als Jugendliche, im Tross der Fans des algerischen Fußballteams während der WM, in französischen Städten der Polizei Straßenschlachten lieferten, Auslagen und Gemeinde-Einrichtungen verwüsteten und an einigen Stellen französische Fahnen abrissen. Ich zog mich murmelnd aus der Affäre. Was sollte auch ich sagen? Darauf verweisen, dass es sich um eine Minderheit der Fans, die üblichen Hooligans, handelte? Zum x-ten Mal erklären, dass jugendliche Widerspenstigkeit und Verwahrlosung an den sozialen Rändern, besonders in Krisenzeiten, ein immer wieder kehrendes Phänomen sind? Dass es dies auch schon gab bevor muslimisch-arabische und afrikanische Familien einzogen? Oder dem Ärger der beiden Ladenbetreiber zustimmen, weil ich mir die folgende Frage stelle: wie würde ich reagieren, wenn man meine Klage über die Übergriffe gegen Juden durch Jugendliche aus Migrantenfamilien immerzu mit dem Verweis auf die sozialen Begleitumstände und den geringen Bildungsgrad der Täter relativieren würde?

Erstveröffentlichung in der Wiener Jahreszeitschrift „Das jüdische Echo“.

1 Kommentar

  1. Lieber Danny Leder,
    wie immer eine auf den Punkt gebrachte Momentaufnahme.

    Die anscheinend alternativlose gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit des letzten Abschnitts fordert jedoch Widerspruch:

    Persönlich könnte die Frage lauten: „Wie hätte ich vor 30 Jahren reagiert. Wären soziale Begleitumstände und der Bildungsgrad von mir als Grund gesellschaftlicher Auswirkungen in Zweifel gezogen worden; falls nicht, warum heute?“

Kommentarfunktion ist geschlossen.