Nationalsozialistischer Untergrund

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„Der Kick“ von Andres Veiel im Willy Praml-Theater…

Von Detlef zum Winkel 

Schockierend, beängstigend, erhellend und leider höchst aktuell: Insgesamt fünf Mal war im Frankfurter Willy Praml Theater das dokumentarische Stück „Der Kick“ zu sehen.  Andres Veiel bearbeitet darin eine schreckliche Mordtat, die im Sommer 2002 in der brandenburgischen Gemeinde Potzlow geschehen ist. Dort quälten, schlugen und traten drei Gewaltjugendliche den 16-jährigen Marinus Schöberl so lange, bis sie sich davon überzeugt hatten, daß er tot war. Anschließend verscharrten sie die Leiche neben einem Schweinestall. Einer der Täter war ein ausgemachter Nazi, der gerade eine Strafe wegen eines rassistischen Überfalls auf einen Afrikaner abgesessen hatte. Die anderen beiden wollten es ihm, dem großen Bruder und Anführer, gleichtun und ihm imponieren. Schöberl, der eigentlich einen „Saufabend“ mit den vermeintlichen Kumpels verbringen wollte, wurde als Opfer auserkoren, weil er ein bisschen anders war, der jüngste, der schwächste, ein bisschen behindert, nicht so trinkfest, nicht so zugehörig zum Dorf, ein Außenseiter.

Veiel hat darauf verzichtet, selbst ein eigenes Stück zu schreiben. Stattdessen hat er Originalaussagen aus Potzlow – von Gerichtsakten, Polizeiprotokollen, Interviews – ausgewählt und zu einer Folge von Monologen verdichtet, die den Zuschauer 90 Minuten lang in Atem hält. Sie präsentieren die Täter und ihr familiäres Umfeld sowie die Mutter und einen Freund des Opfers in der Zeit, nachdem das Verbrechen bekannt geworden ist. In ihren Berichten rekonstruiert sich die Tat. Es gibt keine monströs dargestellten Bösen, keine Gewaltszenen und auch keine sympathisch gezeichneten Guten. Theatralische Mittel werden äußerst sparsam eingesetzt und versuchen nicht,  oder nicht vordergründig, Abscheu, Erregung und Katharsis hervorzurufen. Durch die Distanz des epischen Theaters beansprucht „Der Kick“ Authentizität, so gruselig der Begriff in diesem Kontext klingt. Man ist „ganz nah dran“, wie es nicht weniger gruselig in einigen Begleittexten und Kommentaren heißt.

Je vier Schauspielerinnen und Schauspieler einer Abschlußklasse der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) haben den brisanten Stoff zu ihrem Projekt gemacht und eine echte Mannschaftsleistung zustande gebracht, wie man im Sport sagen würde. Individuelle schauspielerische Mittel, Gesten, Stimmen, Bewegungen werden zurückhaltend eingesetzt. Die Darsteller widerstehen der Versuchung, zu spielen, sich in den Vordergrund zu spielen, am besten zu spielen. Sie sehen sich als Teilnehmer eines Geschehens, das zu dokumentieren ist. Nur auf diese Weise, so ist zu vermuten, konnte das Experiment gelingen. Die kahle alte Werkshalle der Naxos-Fabrik bot dafür den perfekten Raum, aber das täuscht natürlich: Potzlow müssen wir uns als beschaulichen norddeutschen Ort mitten in der schönen Natur der Uckermark vorstellen, mit einer alten Kirche, einem Holzrad, einem Pferdehof und vielen Ausflugsmöglichkeiten, um Störche, Adler und Kraniche zu beobachten.

Ob es an der Anwesenheit der Zugvögel in der Uckermark liegt? Wie in Schillers Gedicht Die Kraniche des Ibykus hat einer der Täter die Tat zwei Monate danach gewollt-ungewollt aufgedeckt und dann ein umfassendes Geständnis abgelegt. Das ist das Besondere an diesem Mordfall, und auf dieser Aussage des Marcel Schönfeld basiert „Der Kick“. Doch leider reagiert unsere Öffentlichkeit etwas anders als Schillers Griechen, die umstandslos die Szene zum Tribunal machen. Obwohl die Medien in den vergangenen zehn Jahren immer mal wieder über Marinus Schöberl und Potzlow berichteten, habe ich bei Willy Praml zum ersten Mal das gehört: „Mein Bruder Marco fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob er oder dass er ein Jude sei. Frau Spiering sagte, Marinus solle doch zugeben, dass er ein Jude sei, dann wäre Ruhe. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er ein Jude sei. Ruhe war dann auch nicht. Dann ging es richtig los.“ Und nur Andres Veiel zitiert den Staatsanwalt, der in dem Verfahren feststellte: „Am Tatabend war weder ein Asylbewerber, ein Jude oder irgendjemand, worauf das Feindbild zutraf, vorhanden. Deshalb musste hier ein Kumpel als Notopfer herhalten, weil den Tätern kein besserer begegnete. Nach unserer Auffassung hat das Opfer Schöberl nach den ganzen Misshandlungen sein eigenes Todesurteil gesprochen, indem er gesagt hat: Ich bin Jude.“ Diese Schlüsselinformation ist in Potzlow und Deutschland bis heute tabu.

Die unbestreitbar notwendige Debatte über strukturelle Ursachen der jugendlichen Gewalt, über Perspektivlosigkeit, Orientierungslosigkeit, mangelnde Ausbildung, fehlende kulturelle Angebote, Tristesse des langweiligen Alltags, sieht ganz gern darüber hinweg, wenn es sich wie in diesem Fall – aber nicht nur in diesem! – um klassische nationalsozialistische Verbrechen handelt. „Neo“ ist daran nur, daß es in Brandenburg kaum mehr Juden gibt, weil die Vorgänger und Vorbilder der heutigen Nazis bereits ganze Arbeit geleistet haben. Das Potzlower Trio hat also einen Jungen zum Juden ernannt, um den Antisemitismus zu exekutieren. Marinus Schöberl ist ihr Jude. So sieht der Antisemitismus ohne Juden aus, von dem wir sonst nur als statistische Größe erfahren. Sollte man nicht darüber reden, während ein Verbotsverfahren gegen die politischen Stichwortgeber der Gewalttäter läuft?

„Der Kick“ zerrt den nationalsozialistischen Untergrund unserer Gesellschaft auf die Bühne und demonstriert, daß er aus weit mehr als jenem Dutzend besteht, das die Bundesanwaltschaft namentlich benannt und vor Gericht gestellt hat. Anders als Marcel Schönfeld schweigt Beate Zschäpe beharrlich. Die Kraniche und die Rachegöttinnen haben sie noch nicht erreicht. Aber wollen wir überhaupt, daß sie redet? Oder wissen wir ohnehin, was sie sagen würde, und wollen es gar nicht hören?

1 Kommentar

  1. 2002. Grausamer, heimtückischer und feiger gehts
    wohl kaum.

    „Richtiger“ oder imaginierter Jude – was stört das Antisemiten?

    Jemand erzählte mal: „1957 war ich in einem Internat für Söhne wenig Betuchter, eingerichtet von der Inneren Mission, dem caritativen Zweig der EKD. Ich war dort ein Außenseiter, schüchtern, introvertiert. Ein paar der anderen hielten sich
    manchmal ihren Kamm unter die Nase, hoben den rechten Arm und versuchten, Hitler zu imitieren.

    Das machte ich nie mit, kritisierte es.

    `Guckt mal, ein Jude´ rief plötzlich einer. Damit hatte ich meinen Spitznamen weg. Man lauerte mir wenig später im Waschraum auf, warf die Tür zu, versuchte mich, `den Juden´
    zusammenzuschlagen. Ganz zufällig kam Hans dazu, blond, mit blauen Augen, hochgewachsen, sportlich, ein `Arier´ wie aus dem Bilderbuch. Er erfasste die Situation vollständig, sagte nur: `lasst ihn in Ruhe, das ist mein Schutzjude´, zog mich
    hinter sich, schlug sich etwas mit den Angreifern und scheuchte sie davon. Von da ab stand ich tatsächlich unter seinem Schutz und wurde nicht mehr behelligt.

    Aber was wäre gewesen, wäre Hans nicht zufällig hinzugekommen? Und – woher kannte er das Wort Schutzjude? Von seinen Eltern? Gefiel er sich in dieser Nazi-Rolle oder wollte er mich tatsächlich nur auf geschickte Weise den Typen entziehen unter Bezug auf das, was bei ihnen ankam, nämlich das +/- gerade erst untergegangene „III. Reich“? Ich weiß es nicht.“

    Interessant, so meinte er, sei in diesem Zusammenhang vielleicht, dass gerade mal vier Jahre später, 1961, das Stück „Andorra“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Andorra_(Drama) des
    Schweizer Schriftstellers Max Frisch seine Erstaufführung erlebte. In Schulen dient es noch heute als Unterrichtsstoff, und das ist auch gut so, denn das Geschehen um Marinus Schöberl ist kein Novum, ist, wenn auch kaum so brutal,
    Kontinuität.

    „Gäbe es keinen Juden, der Antisemit würde ihn erfinden“ – Jean-Paul Sartre.

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