„China“ von Albert Montefiore Hyamson in der Encyclopaedia Judaica (1930)

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Interessanterweise bezog die Berliner Encyclopaedia Judaica ihre Informationen zu Juden in China nicht wie das „Jüdische Lexikon“ von einem einheimischen Gelehrten, sondern sie beauftragte den britischen Staatsbeamten und Historiker Albert Montefiore Hyamson (1875-1954) mit der Abfassung eines Beitrags. Dieser Autor war lange Jahre im britischen Mandatsgebiet Palästina für Einwanderungsangelegenheiten zuständig gewesen und galt, vor allem in seinen späteren Jahren, als ein geradezu radikaler Anti-Zionist. Hyamsons Biografie verdient Beachtung…

Am 27. August 1875 als  Sohn eines Kaufmanns aus dem polnischen Teil Russlands in Canonbury, London geboren, unterstellte sich Hyamson im Alter von 20 Jahren der britischen Krone und begann eine rundweg erfolgreiche Staatskarriere. Jedoch damit nicht genug, zugleich machte er sich nämlich als Intellektueller schon bald einen guten Namen. Er publizierte regelmäßig und vorzugsweise zu historischen Themen.

So werden es dann wohl, neben seiner Staatsverbundenheit, seine herausragenden Kenntnisse der Materie gewesen sein, die ihn bei seinen Vorgesetzten als den geeigneten Mann für einen höheren Posten in der Verwaltung des britischen Mandatsgebietes Palästina haben erscheinen lassen. Hyamson erhielt jedenfalls im Jahre 1921 Order sich in den Nahen Osten zu begeben und dort die Interessen seines Vaterlandes Großbritannien zu vertreten.

Ein gewisses Licht auf seine Einstellung gegenüber der Lage im damaligen Mandatsgebiet wirft das folgende, höchstwahrscheinlich aus frühen Jahren stammende, Zitat: „Let Britain remember her past, think of her future, and secure for the Jews, under her protection the possibility of building a new Palestine on the ruins of her ancient past“.

Je länger sich der Brite und bekennende Jude Hyamson allerdings in Palästina aufhielt, desto kritischer, ja ablehnender, stand er dem Yishuv gegenüber, außerdem befürwortete er strikt einen einzigen Staat für sowohl Juden als auch Araber. Seine staatsdienstlichen Pflichten nahm er überaus ernst und so erteilte er gnadenlos Absagen, verfügte er ablehnende Bescheide, verweigerte er Juden die Einreise. Damit hatten es, nach seiner Ablösung im Jahre 1934, seine nichtjüdischen Nachfolger umso leichter die von ihm einmal vorgegebene harte Linie auch weiterhin fortzusetzen, mit den bekannten tragischen Konsequenzen.

Ebenso umstritten sich Hyamson bei sehr vielen seiner Glaubensgenossen in Palästina gemacht hatte, so angesehen blieb er auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung und der ernsthaften Publizistik. Er bekam u.a. den Rang eines „Fellow“ der Royal Historical Society verliehen, er wurde Vorsitzender der Jewish Historical Society of England und ehrenhalber Herausgeber dieser Gesellschaft bis an sein Lebensende im Jahre 1954 (5. Oktober). Hyamson war der Autor zweier bedeutender Publikationen über Palästina (1917 und 1928), einer Geschichte der Juden in England (1908/1928), einer einbändigen jüdischen Enzyklopädie (Vallentine’s Jewish Encyclopedia, 1938), eines Werkes über die Sepharadim in England (1951) sowie mehrerer Nachschlagewerke.

Als Albert Montefiore Hyamson seinen China-Beitrag für die Berliner Encyclopaedia Judaica verfasste, lebte er noch in Jerusalem.

Das von herausragenden Fachleuten verantwortete und in hoher Druckqualität ausgelegte Nachschlagewerk aus dem Verlag  Eschkol, dessen Einzelbände ab Ende der 1920er und bis in die frühen 1930er Jahre erschienen, blieb bekanntlich ein Fragment. Es konnte nur bis zum Buchstaben „L“ geführt werden, ehe die politischen Verhältnisse in Deutschland eine Weiterarbeit, oder gar einen Abschluss, unmöglich machten. Als Chefredakteur der Encyclopaedia Judaica wird Dr. Jakob Klatzkin, als dessen Stellvertreter Prof. Dr. I. Elbogen angegeben.

Es folgt aus dem im Jahre 1930 erschienenen Band 5 die Wiedergabe der Stichworte „China“ und „Charbin“:

China. Der früheste bekannte Hinweis auf Juden in C. ist zu finden in Jes. 49, 12: „Siehe, diese sollen von fern kommen, diese von Norden und von Westen; und diese aus dem Lande Sinim“. Daß der noch verbliebene Überrest chinesischer Juden sich aus früher Zeit herleitet, ist sehr wahrscheinlich, obwohl ihre Abstammung von Exulanten unter Nebukadnezar oder von Angehörigen aus der Armee Alexanders des Großen sich nicht belegen läßt. Nach der Inschrift in Kai-fung-fu siedelten sich Juden in dieser Stadt während der Han-Dynastie an, d.i. zwischen 206 a(nte = vor Chr.) und 221 p(ost = nach Chr.). Eine präzise Bemerkung besagt, daß sie während der Herrschaft von Ming-ti (58-76 p.) ankamen (Tobar, Inscriptions Juives de Kai-fung-fu). Der erste chinesische Schriftsteller, der sie erwähnt, war Sung-tse-an im 5. Jht. p. Einige Jahrhunderte später werden sie von dem Schriftsteller Weih-Shuh erwähnt. Abu Zaid Hassan al Sirafi, ein muselmännischer Reisender des 9. Jht., berichtete, daß eine große Zahl Juden in der Revolte von Baichu im J. 884 umgekommen sei (Reinaud, Géographie d‘ Aboulfeda); er fügt hinzu Juden hätten sich in C. seit undenklichen Zeiten niedergelassen. Zwei muselmännische Reisende bemerken im J. 851, daß viele Juden in C. ihren Glauben abgeschworen haben, um Ämter zu erlangen oder reich zu werden. (s. E. Renaudots Ancient Accounts of India and China). Ein anderer chinesischer Gewährsmann behauptet, siebzig jüd. Familien seien um 950 in Honan gelandet und von der Regierung in Pienlang angesiedelt worden. Nach Chavannes sind Juden unter der Sung-Dynastie (960-1126) aus Indien auf dem Seeweg nach C. gekommen; offenbar gab es mehr als eine jüd. Ansiedlung in C. Nach den Namen, unter welchen Juden in C. bekannt sind und waren, Tiao-Kin-Kiasow oder Sehnenausreißer (s. Gen. 32, 33), ist es wahrscheinlich, daß die ursprüngliche jüd. Ansiedlung auf eine Zeit zurückgeht, da diese Sitte bemerkenswert genug war, um Aufmerksamkeit bei nichtjüd. Nachbarn zu erregen.

Die Juden in C. sind gewöhnlich mit der Stadt Kai-fung-fu oder Pienlang (auch bekannt als Pienchow, Fung-King und Pien-King) in de Provinz Honan, 400 Meilen südlich von Peking, in Verbindung gebracht worden, wo die einzigen Überbleibsel einer Synagoge oder Gemeinde gefunden wurden, und woher die wenigen chinesischen Juden, von denen man in neueren Zeiten Kenntnis hatte, gekommen sind. Beträchtliche jüd. Ansiedlungen haben jedoch auch in Kanton, Ningpo, Nanking, Peking, Hangchow-foo, Amoy, Kangchow usw. bestanden. Die wichtigsten Daten aus der Geschichte der Juden von Kai-fung-fu sind aus vier dort aufbewahrten steinernen Inschriften, die dem 12.-17. Jht. angehören, zu entnehmen. Die älteste und zugleich kürzeste Inschrift, aus dem Jahre 1164, lautet: „Was die jüd. Religion betrifft, so war unser erster Vorfahre Adam; unsere Religion wurde begründet durch Abraham; nachher kam Mose, der der Vermittler der heiligen Schriften war. Zur Zeit der Han-Dynastie (25-221 p.) wurde diese Religion in C. eingeführt. In dem zweiten Jahre von Hiao Tsung (1164) wurde eine Synagoge in Kai-fung-fu errichtet. Die da Götzen und Bilder als Götter verehren, beten vergeblich zu leeren Phantomen; aber die, die die Schriften achten und befolgen, kennen den Ursprung aller Dinge. Die heiligen Schriften und die ewige Weisheit ergänzen und vervollständigen einander; sie erklären und machen es deutlich, woraus und wie der Mensch geschaffen wurde. Alle Bekenner dieses Glaubens streben nach guten Taten, erfüllen sie und verabscheuen die Sünde“. – Die zweite Inschrift, datiert vom J. 1488, ist die ausführlichste. Sie wiederholt die biblischen Daten über Abraham und Mose, für deren Zeit die entsprechenden Jahre der chinesischen Zeitrechnung gegeben werden (146. bzw. 613. Jahr der Tscheou-Dynastie); es folgt eine Beschreibung der jüd. Gebet- und Festtagsordnung, in der sich die Sätze finden: „Wir beten dreimal täglich: morgens, mittags und abends. Beim beten beugt der Betende seinen Körper; dann bringt er sein Gebet in stiller Ergebenheit dar oder erhebt seine Stimme und wiegt sich währenddessen hin und her. Zuletzt geht er drei Schritte zurück und fünf vorwärts, wendet sich dann zur rechten und zur linken und blickt schließlich nach oben und unten, um seinen Glauben zu bekunden, daß Gott überall ist. Der Jude ist verpflichtet, seine Vorfahren zu ehren, und weiht ihnen zweimal jährlich, im Frühling und im Herbst, Ochsen und Schafe zusammen mit den Früchten der Jahreszeiten. Vier Tage in jedem Monat werden der Reinigung (Läuterung) und dem Ansporn zu wohltätigen Handlungen gewidmet usw. In der vierten Jahreszeit unterwirft sich der Jude sieben Tage lang ernsten Beschränkungen usw.“. Im Anschluß daran wird die Einwanderung der Juden nach C. geschildert; als Ursprungsland der Einwanderer wird Tien-Tschou (Indien?) angegeben und die Ansprache des Kaisers an die 70 angekommenen jüd. Familien wiedergegeben: „Ihr seid nach C. gekommen; bewahrt die Gewohnheiten eurer Vorfahren und siedelt auch in Peenlang (Kai-fung-fu) an“. Danach wird der Ursprung der Synagoge von Kai-fung-fu erzählt, die im J. 1163 von Yentula unter dem Rabbinat des Ouseta (Rabbiners) Lie Wei (Levi) errichtet worden sei, und über ihre verschiedenen Zerstörungen und Wiederaufrichtungen berichtet. Zum Schluß wird die Gleichberechtigung des jüd. Kultus neben den verschiedenen Religionen Chinas festgestellt und das wesentlichste Merkmal desselben wie folgt definiert: „Wenn auch unsere Religion in vielem mit der Religion der Literaten übereinstimmt und nur in geringem Grade von ihr abweicht, so ist doch ihr Grundcharakter nichts anderes als: Verehrung für den Himmel und Verehrung für die Vorfahren, Treue gegenüber den Fürsten und Gehorsam gegenüber den Eltern, eben das, was in die fünf menschlichen Bezeichnungen, die fünf beständigen Tugenden, zu den drei hauptsächlichen Lebensverbindungen, eingeschlossen ist.“ – Die dritte Inschrift, vom J. 1511, inhaltlich der zweiten ähnlich, erwähnt auch Esra, der „der jüd. Nation (Yew-Thae) das Gesetz verkündet und die Buchstaben klar gemacht hat“. Die letzte Inschrift, vom J. 1663, versucht zunächst in einer Vorrede zu zeigen, daß in dem religiösen Gesetz der Juden nichts enthalten ist, was nicht in Übereinstimmung mit den sechs kanonischen Büchern der Chinesen steht. Dann folgen Bemerkungen über die aus den vorangehenden Inschriften bekannten Ereignisse und eine Fortsetzung der geschichtlichen Betrachtungen bis zu dem Zeitpunkt der Inschrift selbst; besonders ausführlich wird die religiöse Erneuerung des J. 1653 geschildert.

Nach diesen Inschriften und anderen Quellen läßt sich eine, freilich lückenhafte, Geschichte der Gemeinde geben. Im 8. Jht. wurde ein Regierungsbeamter zur Aufsicht über die Gemeinde eingesetzt, der für ihre Wohlfahrt verantwortlich war. Ein Jht. später litt die inzwischen mächtig gewordene Gemeinde materiell unter der Baichu-Revolte und geistig durch die ausgedehnte Assimilation unter ihren Mitgliedern. 1163 gab der Kaiser Hiao-Tsung, nachdem eine jüd. Einwanderung aus Persien und Chorassan stattgefunden hatte, die Erlaubnis zur Errichtung der Synagoge. Sie verfiel dann und wurde 1279 wieder aufgebaut. Marco Polo berichtet gelegentlich seines Besuches in C. (1286) von dem Gedeihen der jüd. Gemeinde. Die Gesetzgebung des J. 1329 sah die Besteuerung von Juden und von Mitgliedern andersgläubiger Minoritäten vor. Ein Vierteljahrhundert später wurden reiche Juden und Muselmänner aufgefordert, bei der Unterdrückung eines Aufstandes zu helfen. Es wird über drei spätere Anlässe berichtet, bei denen die Synagoge wiederaufgebaut wurde, 1489, Anfang des 17. Jhts. und 1653. Diese Restaurationen waren notwendig, um die durch die häufigen Überflutungen entstandenen Schäden auszubessern. Durch eine dieser Überschwemmungen 1446 wurden die meisten Bücher und Manuskripte der Gemeinde vernichtet; sie wurden dann, so weit möglich, durch die Gemeinde in Ningpo ersetzt. Ende des 16. Jhts. fielen die Synagoge und die Bücher einem Brand zum Opfer; 1642 erfolgte eine Vernichtung während der Belagerung der Stadt; weitere Katastrophen erfolgten 1742, 1849 und 1860.

Die Entdeckung der jüd. Gemeinde von Kai-fung-fu ist einer Gruppe von Jesuiten zu verdanken, die Ende des 16. Jhts. als Missionare nach Peking gesandt wurden. Einer von ihnen, Matteo Ricci, erhielt den Besuch eines chinesischen Studenten, der in dem Betzimmer des Paters vor zwei Bildern, einem der Heiligen Familie (mit St. Johannes) und einem der vier Evangelisten, bemerkte: „Wir in China verehren auch unsere Vorfahren; dies eine ist Rebekka mit ihren Söhnen Jakob und Esau; was aber das andere Gemälde betrifft, warum soll man sich nur vor vier Söhnen Jakobs verbeugen, wo doch ihrer zwölf waren?“ So entdeckte Ricci, daß sein Besucher ein Jude aus Kai-fung-fu war, und erfuhr er von der dortigen jüd. Gemeinde, wie auch von anderen, von denen die in Hong-Chow-foo offenbar die größte war. Später besuchten ihn andere Juden aus Kai-fung-fu, und man bot Ricci die Stelle eines Rabbiners an, wenn er bereit wäre, sich des Genusses von Schweinefleisch zu enthalten. Riccis Nachfolger, Julius Aleni, der etwas Hebräisch konnte, besuchte Kai-fung-fu im J. 1613; ihm folgten Gozani, Gaubel (1704), Cibot und Domengo. Gozani gab einen Bericht über die Gebräuche der Gemeinde und über die Synagoge, Domengo machte eine Skizze von den Bauten der Gemeinden, Gaubel und Cibot kopierten die Inschriften. Noch früher hatte der jesuit. Missionar Semmedo, als er 1642 in Nanking war, erfahren, daß die wenigen Juden in dieser Stadt erst vor kurzem zum Islam übergetreten seien und andere jüd. Gemeinden wenigstens in vier chinesischen Städten existierten. Im J. 1723 wurden die Missionare vertrieben; einige erfolglose Versuche, mit der Gemeinde wieder in Verbindung zu treten, wurden unternommen: 1760 vom Chacham Isaak Nieto aus London, 1769 von Benjamin Kennicott, 1777 und 1779 von dem Dänen Tychsen und 1815 von einer Gruppe englischer Juden. 1844 sandte James Finn, englischer Konsul in Jerusalem, einen Brief an die Gemeinde von Kai-fung-fu. Der Brief erreichte seinen Bestimmungsort, aber durch verschiedene Umstände kam die Antwort erst 26 Jahre später an. In dem Schreiben wurde über den Verfall der Gemeinde geklagt; die Kenntnis des Judentums sei gänzlich geschwunden, und die Mitglieder wußten nur noch, daß sie Juden seien; eine einzige Person, eine Frau von über 70 Jahren, hatte etwas Kenntnis des Hebräischen; die Synagoge sei eine Ruine. „Morgens und abends“, hieß es in dem Briefe, „mit Tränen in unseren Augen und Weihrauch darbringend, flehen wir, daß unsere Religion wieder aufblühen möge“. Die Schreiber baten, daß ihre Synagoge wieder hergestellt werde und Lehrer zu ihnen gesandt werden möchten. 1850 sandte George Smith, protestantischer Bischof von Hongkong, zwei chinesische Christen nach Kai-fung-fu; sie fanden dort nur noch sieben Clans (von ursprünglich 70) mit etwa 200 Personen, die in größter Armut lebten, aber trotz der zu zwei Dritteln mohammedanischen Umgebung und der Nähe eines heidnischen Feuertempels an der Hoffnung auf die Erneuerung ihrer Religion und ihres Kultes in diesem Lande festhielten.

Die Boten hatten einige jüd.-chinesische Schriften erworben. Als 1866 der amerikanische presbyterianische Missionär A. P. Martin die Stadt besuchte, war die Lage der Juden noch schlechter geworden. Die Ruinen der Synagoge waren von den Juden selbst niedergerissen und das Material verkauft worden. Eine Tafel, die der Synagoge gehörte, war nach einer Moschee gebracht worden, und infolgedessen beteten einige Juden dort. 1867 kam der erste jüd. Besucher, ein Deutscher namens I. L. Liebermann, in die „Waisenkolonie“, dem dann andere folgten. Schließlich bildeten die Juden von Shanghai ein Rettungskomitee und sandten einen Vertreter nach Kai-fung-fu, der einige von den noch Verbliebenen nach Shanghai brachte; zwei von diesen studierten und kehrten nach Kai-fung-fu als Lehrer zurück. Im Jahre 1902 gab die Regierung der Gemeinde wieder Rechtstitel, um die Stelle der früheren einzunehmen, die in der Taipung-Rebellion zugrunde gegangen war, in der der letzte ihrer früheren Lehrer getötet wurde. Auch um diese Zeit beschränkte sich das Judentum der Gemeinde auf die Traditionen, aus dem Fleisch, bevor sie es aßen, die Sehnen zu entfernen, nicht Bekenner anderen Glaubens zu heiraten, und sich des Genusses von Schweinefleisch und des Gebrauches heidnischer musikalischer Instrumente bei ihren Hochzeiten zu enthalten. 1908 wurde die Zahl der Juden in Kai-fung-fu auf etwa 400 geschätzt.

Die Synagoge von Kai-fung-fu wurde von Gozani 1704 ausführlich beschrieben (seine Mitteilungen wurden 1850 durch die Abgesandten von George Smith bestätigt). Der Platz war 3-400 Fuß lang und 150 Fuß breit. Die Bauten waren um vier Höfe herum aufgeführt. Die Vorderseite der Synagoge selbst war nach Westen (Richtung Jerusalem) gewandt. Ein Gewölbe in der Mitte des ersten Hofes enthielt eine chinesische Inschrift, die dem Schöpfer und Bewahrer aller Dinge gewidmet war. Bäder faßten die Seiten dieses Hofes ein. Ein großes Tor, nur bei besonderen Gelegenheiten geöffnet, und zwei Seitenpforten gaben Zutritt zum zweiten Hof, der die Wohnhäuser der Beamten enthielt. In der Mitte des dritten Hofes war ein kleineres Gewölbe mit Pavillons an jeder Seite, welche zwei von den erwähnten Inschriften aufwiesen. An der Nord- und Südseite waren Kapellen, zu Ehren zweier jüd. Mandarine, die die Synagoge wieder aufgebaut hatten. Andere Bauten in diesem Hof waren Empfangsräume für Gäste. Der vierte Hof wurde durch eine Allee von Bäumen geteilt; in der Mitte des Weges stand eine eherne Weihrauchvase, zu deren Seiten Blumenvasen und Marmorlöwen auf Piedestalen waren. Eine Nische in der nördlichen Mauer diente für die Sehnen, die den geschlachteten Tieren ausgezogen wurden. In demselben Hofe war die Halle der Vorfahren, wo die Patriarchen bei jüd. Festen geehrt wurden; jedem war eine Inschrift und ein Weihrauchfaß gewidmet. In dem Hofe war auch ein Raum für die Laubhütte, die alljährlich zum Fest errichtet wurde. Die Synagoge selbst, am Ende dieses Hofes, war 60 Fuß lang und 40 Fuß breit, von unverkennbar chinesischem Aussehen und mit einer Säulenhalle, einer doppelten Reihe von vier Säulen, ausgestattet. Die Mitte der Synagoge war eingenommen von dem sogenannten Mosesstuhl, einer runden Kanzel, von der aus die Tora den Versammelten verlesen wurde. Vor der Synagoge war eine Tafel angebracht, die in goldenen Buchstaben den Namen des Kaisers enthielt. Oben auf der Kuppel fanden sich verschiedene hebr. Inschriften. Bei der Tür stand ein Tisch mit sechs Armleuchtern, einer Weihrauchvase und einer Tafel, die die freundlichen Handlungen der Kaiser der Ming-Dynastie aufführte. Am westlichen Ende der Synagoge, erreichbar durch Treppenstufen, war das „Himmelshaus“ oder die Lade, in welcher 13 Torarollen lagen. Die mittelste Rolle war die am meisten geschätzte und wahrscheinlich die älteste. Die westliche Mauer trug zwei Tafeln mit den zehn Geboten. Die Synagoge war auch das Wochenversammlungshaus, und wohl nur am Sabbat geöffnet; die Besucher zogen beim Eintritt ihre Schuhe aus. Die Kopftracht war von blauer Farbe, zum Unterschied von Andersgläubigen. Der Toravorleser bedeckte sein Gesicht mit einem Gazeschleier und trug einen roten Seidenumhang.

Eine Anzahl der Bücher der Gemeinde befindet sich im Besitz des Hebr. Union College, andere in der Bodleiana und der Cambridger Universitätsbibliothek; einzelne Rollen befinden sich im Brit. Museum, in der Yale Universität, Lennox Library, in New York, Hongkong, Wien, Paris und in der Bibliothek von Mayer Sulzberger in Philadelphia. Das Ritual der chinesischen Juden wurde von Adolph Neubauer untersucht (JQR VIII), der die Ansicht vertrat, daß es mit dem, fast unbekannten, persischen identisch gewesen sei. Für die Verbindung mit Persien spricht es, daß alle Angaben in den Büchern und den Kolophonen in modernem Persisch abgefaßt sind. Von dem Pentateuch der Juden von C. gibt es Abdrucke; er war in 53 Abschnitte geteilt (die modernen Juden zählen 54). Aleni und Gozani zufolge hatten sie auch die meisten anderen Bibelbücher, ferner aramäische Texte von I. Mak., Judit und Koh. Die Haftara oder Teile der Propheten wurden in den Sabbatgottesdiensten gelesen. Auch Bücher von Auslegern, vermutlich Kommentare und Zeremonienbücher, sollen vorhanden gewesen sein. Das Gebetbuch enthält Zitate aus der Mischna, aber nichts aus dem Talmud. Der Kalender war ähnlich dem der modernen Juden und näherte sich sehr dem chinesischen. Der Sabbat wurde streng gehalten. Die Gebräuche und religiösen Gepflogenheiten stimmten im wesentlichen mit denen der rabbanitischen Juden überein, nur der Neumond wurde als voller Festtag gefeiert.

In ihrer körperlichen Erscheinung sind die Juden in C. kaum von anderen Chinesen zu unterscheiden; hin und wieder kommt ein Rückschlag zu einem mehr jüd. Typus vor. Sie sind auch wie Chinesen gekleidet; ihre Frauen pflegen sogar ihre Füße zu binden.

A. Semmedo, Lettres from Jesuite Missions 1627; idem, Further Reports 1642; E. Renaudot, Ancient accounts of India and China 1733; Trigaltius, De Christiana Expeditione apud Sinas 1615; Kaegleiri, Notitiae S. S. Bibliorum Judaeorum in Imperio Sinensi 1805; Sionnet, Essai sur les Juifs de la Chine 1837; A. Kingsley Glover, Jewish Chinese Papers 1894; Henri Cordier, Les Juif en Chine 1891; JE 1Vs. V.; Jerome Tobar, Variétés sinologiques, Inscriptions Juives de Kai-Fong-Fou 1892; The Jews at Kae-Fung-Foo 1853; Lopez, Les Juifs en Chine; I. Finn, The Jews in China 1843; idem The Orphan Colony of Jews in China 1872; C. T. von Murr, Versuch einer Geschichte der Juden in China 1806; S. M. Perlmann, The History of the Jews in China 1912; Lettres édifiantes et curieuses, écrites des Missions étrangères par quelques Missionaires de la Compagnie de Jesus (Berichte von Gaubel und Domengo) XXXI, 1774; Commentatio de Judaeis Sinensibus 1771; A. P. Martin, A Cycle of Cathay 1896; A. Neubauer, Jews in China, JQR VIII; M. N. Adler, Chinese Jews, ibid. XIII (1901); G. Smith, The Jews at Kae-Fung-Foo 1851; A. M. Hyamson, Encyclopaedia of Religion and Ethics, s. v. Jews, Chinese; A. Katz, Die Juden in China 1900; M. Adler, ha-Jehudim be-China 1901.

In neuester Zeit. Um die Mitte des 19. Jhts. bildete sich eine jüd. Niederlassung in Shanghai. Es waren zuerst Juden aus Indien, später kamen auch europäische Juden dorthin. An der Wende des 19. und 20. Jhts. setzten sich Juden in Charbin, in der Mandschurei, fest. Nach dem Weltkriege wurde Charbin, wo zahlreiche Juden aus Rußland und Sibirien Zuflucht fanden, zum größten jüd. Zentrum in C. Von dort aus verbreiteten sie sich auch nach anderen Städten der Mandschurei, u. zwar nach Chailar, Tsitsikar, Mukden und Dairen (russ. Dalni, nördl. von Port Arthur), ferner nach Tientsin, Han-kou. Eine kleine Gemeinde besteht auch in Hong-Kong. Die jüd. Bevölkerung in Shanghai nahm ebenfalls im 20. Jht. an Zahl zu. Im J. 1921 wurde die gesamte jüd. Bevölkerung in C. (außer den alteingesessenen in Kai-fung-fu) auf 12 000 Personen geschätzt. Nach privaten Schätzungen betrug die Zahl der Juden in der Provinz Mandschurei im J. 1929 etwa 16 000, wovon ca. 13 000 auf Charbin entfielen. Die in der nördl. Mandschurei lebenden Juden sind größtenteils russische Staatsangehörige.

American Jewish Year-Book, Bd. 30; M. Ben-Menachem, Mandschurei un di Jiden, „Die Jid. Emigracie“, Berlin 1929, V. Jhg., 6-8.

Charbin, Stadt in der Nordmandschurei, das größte moderne jüd. Zentrum in China. Die Ansiedlung der Juden in C. datiert vom Jahr 1898, als sie anläßlich des Baues der ostchinesischen Eisenbahn als Materiallieferanten dorthin kamen. Der russisch-japanische Krieg brachte einen neuen Strom von Juden nach C.; besonders stark war die Zuwanderung nach der Revolution von 1917. Im Jahre 1929 wohnten hier etwa 13 000 Juden. C. ist ein Durchgangspunkt für jüd. Emigranten aus Sowjetrußland; es besteht ein zentrales jüd. Informationsbüro („Daljewceb“). Die Gemeinde gibt ein Wochenblatt „Jewrejskaja Shisnj“ heraus. Es bestehen in C. zwei jüd. Banken. Der Getreideexport aus der Nordmandschurei war einige Jahre in den Händen der Juden; das immer zahlreicher werdende chinesische Element drängt sie in letzter Zeit aus diesem Berufszweig zurück. In der Mehrzahl sind die in C. lebenden Juden russ. Staatsangehörige, ein Teil von ihnen hat das Bürgerrecht anderer europäischer Staaten angenommen, und nur wenige haben sich naturalisieren lassen.

Di jidd. Emigracie, Berlin 1929, V. S. 341f  (Autor des Charbin-Eintrags: Jakob Kamsky, Berlin)

Anmerkungen:

Der Lexikontext wurde in seiner Originalschreibweise belassen.

Donald Leslie gibt in seinem Buch „The Survival of the Chinese Jews“, Leiden 1972, u.a. Albert Montefiore Hyamson als Referenz an.

Albert Montefiore Hyamson war der Neffe des aus Litauen stammenden Rabbis und Gelehrten Moses Hyamson (1863-1949), der seit seinem fünften Lebensjahr in England lebte, dort studierte und später zum Oberrabbiner dieses Landes ernannt wurde. 1914 ging Moses Hyamson nach New York und lehrte dort 1915 bis 1940 am Jüdischen Theologischen Seminar. Er war außerdem ein ausgesprochen fruchtbarer Autor für religiöse Literatur und stand zeitlebens in hohem Ansehen.

Die Biografie des Autors des Charbin-Artikels, Jakob Kamsky, wird in naher Zukunft Thema eines haGalil-Artikels sein.

Zu Albert Montefiore Hyamson:

Hyamson, A. M. In: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971

Hyamson, A. M. In: The Palgrave Dictionary of Anglo-Jewish History, (Hg.) William D. Rubinstein u.a., Gordonsville 2011

http://en.wikipedia.org/wiki/Albert_Montefiore_Hyamson