Vor 80 Jahren, im März 1933, floh der Verleger und Schriftsteller Wieland Herzfelde aus Deutschland. Damit begann die Geschichte der Exilliteratur…
Von Tobias Winstel
Erschienen in: Der Tagesspiegel vom 23.03.2013
Es ist schwer, auf einem Karussell geradeaus zu gehen. Jedenfalls wenn es sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dreht. In Berlin, Prag, New York. Wieland Herzfelde, dem legendären kommunistisch-pazifistischen Exilverleger, gelang es dennoch, bei voller Fahrt die Balance zu halten, aufrecht zu bleiben und dabei wertvolle Jetons einzusammeln. Mit seinen Zeitschriften und Buchverlagen ermöglichte er zahlreichen emigrierten Schriftstellern, die nach Hitlers Machtübernahme geflohen waren, ihre Werke zu veröffentlichen.
Infolge des 30. Januar und der Bücherverbrennung am 10. Mai mussten viele der wichtigsten deutschsprachigen Dichter und Denker emigrieren.
Damit sie im Exil weiter arbeiten und vor allem publizieren konnten, wurden bereits 1933 Exilverlage gegründet. Zunächst im europäischen Ausland, später auch in Übersee. So konnten in den zwölf Jahren des „Tausendjährigen Reichs“ in über hundert Verlagen und auf der ganzen Welt Bücher deutscher Emigranten erscheinen. Sie waren es, die dem faschistischen Regime unzensiertes geistiges Schaffen entgegenhielten, die ein anderes, manche meinten auch: das eigentliche Deutschland am Leben hielten. Wieland Herzfelde war einer von ihnen, vielleicht sogar der wichtigste. Er riskierte sein eigenes Leben, um das Lebensnotwendige für seine Autoren zu beschaffen – Aufenthaltsgenehmigungen, Geld, und vor allem: einen kulturellen Resonanzraum.
Was tat das NS-Regime dagegen? Alles, lautet die Antwort, was in seiner Macht stand. Nicht nur, dass die Gestapo ihren Arm auch im Ausland nach den Schriftstellern und ihren Verlegern ausstreckte. Propagandaminister Goebbels versuchte, Verlage außerhalb des Reichs aufzukaufen, um sie dann zu neutralisieren. Und er ließ deutsche Bücher an das Ausland zu Dumpingpreisen verschleudern. Damit kam er an dringend benötigte Devisen und erschwerte den Verkauf von Emigrantenliteratur. Bizarrerweise verkauften die Nazis dabei auch Bücher, die im „Reich“ auf dem Index standen.
Umso bemerkenswerter, dass einige Bücher im Exil Auflagenzahlen schafften, die auch unter anderen Umständen beachtlich gewesen wären. Wieland Herzfelde etwa kam mit seinen Verlagen Malik und Aurora immerhin auf eine Durchschnittsauflage von 4000 Exemplaren – eine Größenordnung, die mit der Produktion anspruchsvoller Literatur in unserer Zeit mithalten kann; darunter so bekannte Werke wie Oskar Maria Grafs „Der Abgrund“ oder Anna Seghers’ autobiografischer Roman „Der Ausflug der toten Mädchen“.
Herzfelde war eine der herausragenden Persönlichkeiten der Exilliteratur. Der Sohn des anarchistischen Schriftstellers Franz Held und Bruder des späteren Montagekünstlers John Heartfield hatte sich schon in jungen Jahren gegen die staatliche Obrigkeit gestemmt, zumal gegen die des Kaisers. So war es nur konsequent, dass er mitten im Ersten Weltkrieg, gerade einmal zwanzig Jahre alt, den Malik Verlag gründete. In kürzester Zeit war das Programm berühmt-berüchtigt für linke und zeitkritische Literatur und Kunst. Der Krieg, den Herzfelde als Sanitäter und Soldat erlebte, verstärkte seine pazifistische Haltung. Anschaulich beschreibt er in seiner wunderbaren Autobiografie „Immergrün“, wie er unter abenteuerlichen Umständen im Winter 1917 desertierte, verhaftet und eingesperrt wurde, um danach wieder in den Kriegsdienst geschickt zu werden. Mit jeder Faser seines Körpers wollte er fortan gegen all das menschliche Leid und die Gräuel protestieren, die er erlebt hatte.
Sein innerer politischer Kompass stand fest. Zusammen mit seinem Bruder sowie den Freunden George Grosz und Erwin Piscator trat Herzfelde am Silvesterabend 1918 als eines der ersten Mitglieder in die KPD ein. Das Parteibuch erhielt er aus den Händen von Rosa Luxemburg, so erzählte er später stolz. Gleichwohl wurde er nie ein blinder Parteigänger. Ideen wollte er transportieren; und das mit zeitlosen Büchern, übrigens auch mit zeitlos schönen Büchern.
In der Weimarer Republik gab Herzfelde mehrere Zeitschriften heraus, zum Beispiel das satirische Blatt „Jedermann sein eigener Fußball“, mit der er dem Dadaismus ein Forum bieten wollte. Bereits nach der ersten Nummer wurde das subversive Blatt verboten. Gesellschaftskritik hieß bei Herzfelde: Agitation, Provokation in Text und Bild, demokratische Politisierung mit den Mitteln der Kunst. Das Karussell drehte sich immer schneller, Herzfelde aber stand.
So zeigte er sich auch nicht überrascht, dass sein Malik Verlag als einer der ersten im Frühjahr 1933 von der SA besetzt wurde. Er konnte sich nun nicht mehr frei bewegen. Einige seiner Autoren waren schon emigriert, als auch er im März Berlin verließ. Über Salzburg, Wien und Paris floh er nach Prag; nur mit dem, was er am Leibe trug.
Noch im April 1933 nahm Herzfelde dort seine Arbeit wieder auf. Als erster Titel des Malik Verlags erschien die von dem ehemaligen Reichspolitiker Rudolf Olden anonym geschriebene Aufklärungsschrift „Hitler der Eroberer. Entlarvung einer Legende“. Ab Herbst 1933 gab er mit der Monatsschrift „Neue Deutsche Blätter“ eine der wichtigsten Exilzeitschriften heraus. Zudem veröffentlichte er die Gesamtausgaben von Ilja Ehrenburg und Upton Sinclair, um die Tradition der Übersetzungen herausragender internationaler Literatur weiter zu pflegen. Mit Sinclairs Romanen gelangen ihm überdies herausragende Verkaufserfolge, der Autor wurde dadurch in Europa zunächst erfolgreicher als in Amerika.
Während Herzfelde 1939 die ersten beiden Bände einer Gesamtausgabe von Bertolt Brechts Werken zum Druck brachte, marschierten deutsche Truppen in der Tschechoslowakei ein. Er musste für sich, seine Frau Gertrud und seinen Sohn George die nächste Flucht vorbereiten. Diesmal flohen sie nach New York, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und das nationalsozialistische Deutschland zu bringen. Hier konnte der Verlag zunächst nicht weitergeführt werden. Die meisten deutschen Emigranten hatten genug damit zu tun, ihre schiere wirtschaftliche Existenz zu sichern, ehe sie ans Schreiben denken konnten.
Auch Wieland Herzfelde ernährte sich und seine Familie in dieser Zeit von Gelegenheitsarbeiten, später durch den Verkauf von Briefmarken und Büchern. Deutsche Emigranten waren in den Vereinigten Staaten zunächst mehr geduldet als willkommen. Sie galten offiziell als feindliche Ausländer, dadurch blieb für viele von ihnen Amerika ein Land der begrenzten Möglichkeiten. So dauerte es eine Weile, bis Herzfeldes neuer Verlag im April 1944 endlich registriert werden konnte: Er taufte ihn Aurora, die Morgenröte, benannt nach dem berühmten Kreuzer, der während der Oktoberrevolution mit einem Schuss aus der Bugkanone das Signal für den Umsturz durch die Bolschewisten eingeläutet hatte.
Bis jedoch die ersten Bücher erscheinen konnten, war der Krieg vorbei. Das brachte zwar die ersehnte Niederlage der verhassten Nazis, löste aber mitnichten die existenziellen Nöte. Problematisch war auch, dass der Großteil der Autoren nach 1945 die USA wieder verließ und somit schlicht der literarische Nachschub fehlte. Der Kalte Krieg zog auf, Unterstützung vonseiten der amerikanischen Behörden hatte ein Herausgeber mit kommunistisch-anarchistischer DNA nicht zu erwarten. Auch wenn Herzfelde wohl nicht ahnte, dass sein Briefmarkengeschäft von früh bis spät vom FBI überwacht wurde, spürte er doch, dass er nicht länger in New York bleiben konnte. „Was mich 1933 aus Deutschland stieß“, schrieb er im Rückblick, „hieß mich sechzehn Jahre später Amerika den Rücken kehren. Damals wie heute wollte ich Soldat im Kampf um eine neue Welt bleiben.“ Im April 1949 traten Wieland und Gertrud Herzfelde mit einem polnischen Frachter die Rückreise nach Deutschland an.
Das Karussell im neuen Leben drehte sich für ihn in der DDR, genauer gesagt in Leipzig, wo er als Literaturprofessor lehrte. Eine Lizenz, die für eine Verlagsneugründung nötig gewesen wäre, erhielt Herzfelde in der DDR nicht. Seine Aurora-Bibliothek wurde dem Aufbau Verlag einverleibt. Zwar arbeitete er gemeinsam mit seinem Bruder John Heartfield, der 1950 aus London zurückgekehrt war, an Bühnenbildern und Buchausstattungen; und für einige Jahre war er auch Präsident des DDR-PEN-Vereins, seit 1961 sogar Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Doch traute der neue antifaschistische Staat dem überzeugten Kommunisten nicht so recht über den Weg. Herzfelde wurde zur Randfigur, dem man Preise um den Hals hing, ihn aber ansonsten versuchte kaltzustellen. Anfang der 1950er Jahre geriet er ins Visier der SED-Kontrollkommission und wurde zeitweise sogar aus der Partei ausgeschlossen.
Isoliert war Herzfelde jedoch keineswegs, weder in Intellektuellenkreisen der DDR noch mit Blick auf seine Freunde und Verbündeten aus den Tagen der Emigration. Bis zu seinem Tod 1988 führte er intensive Briefwechsel mit seinen ehemaligen Autoren. Sie zeugen von einer engen Verbindung, die über die Jahrzehnte und Systemgrenzen hinweg Bestand hatte. Und von einem Verleger, der eben ein real existierender Freiheits- und Gerechtigkeitsfanatiker war.