Antisemitismus/Erfahrungen

0
29

Eine Tagung zu Spätfolgen der Shoah und Antisemitismus heute…

Antisemitismus ist ein aktuell weit verbreitetes und historisch tief verwurzeltes Phänomen. Über Jahrhunderte gehörten dazu Vertreibungen und Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland und in anderen Ländern. Die systematische Verfolgung und Vernichtung jüdischer Frauen, Männer und Kinder im Nationalsozialismus ist jedoch historisch einzigartig. Gegenstand der Tagung sind einerseits die Erfahrungen von Antisemitismus bei Überlebenden und ihren Nach­kommen im Kontext des szenischen Erinnerns der Shoah in der deutschen Gesellschaft. Anderer­seits werden verschiedene Formen von Antisemitismus nach Auschwitz und damit verbundene Vermittlungsprozesse in – auch intergenerationalen – Interaktionszusammenhängen von TäterInnen und MitläuferInnen der NS-Verbrechen thematisiert. Zudem wird in intersektionaler Perspektive nach dem Verhältnis von Antisemitismus zu anderen Ausgrenzungspraktiken gefragt, besonders in Hinblick auf „Fremde“ und „Andere“.

Auschwitz ist historische Vergangenheit, die Erfahrungen der Shoah sind es nicht. Das extrem traumatisierende Geschehen belastet Überlebende, ihre Kinder und Kindeskinder bis heute. Das ihnen zugefügte Leid wurde durch eine in der Bundesrepublik vielerorts fehlende gesellschaftliche Anerkennung nachträglich noch verstärkt. So zeigen sich bei manchen Nachkommen von Über­lebenden Symptome, die von Menschen erwartet werden könnten, die selbst Opfer der NS-Verfol­gung waren.

Antisemitische Phantasmen und Projektionen wirken bei den TäterInnen, MitläuferInnen und ZuschauerInnen der NS-Verbrechen über die vermeintliche Stunde Null hinaus fort. Noch ihre Nachkommen sind mit der Erfahrung von Antisemitismus in der Weise konfrontiert, dass in ihnen die schuldhaften Verstrickungen der Eltern und Großeltern auf widersprüchliche Weise wirksam bleiben. Schuld- und Erinnerungsabwehr sind der Kern des Antisemitismus nach – und zum Teil auch wegen – Auschwitz. Klassische antisemitische Stereotype überdauern in neuem Gewand – und dies nicht nur in rechtsextremen Kreisen.

Ziel dieser Tagung ist es, die unterschiedlichen Dimensionen, Wirkungsweisen und Erfahrungen von Antisemitismus nach Auschwitz aus verschiedenen Perspektiven zu thematisieren, bewusst zu machen und so eine eigene Auseinandersetzung anzustoßen. Im Einzelnen geht es etwa um folgende Fragen:

Wie wird Antisemitismus in Überlebenden-Familien szenisch erinnert? Und welche Bedeu­tung haben vor diesem Hintergrund neue Erfahrungen von Antisemitismus?

Wie erhalten und erneuern sich bei TäterInnen oder MitläuferInnen antisemitische Poten­tiale nach 1945? Wie werden diese an ihre Nachkommen weitergegeben?

Durch welche Mechanismen vollzieht sich die gesellschaftliche (Re)Produktion von Anti­semi­tismus nach Auschwitz?

Wie wird Antisemitismus im Selbsterleben von jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Deutschland sowie in deren Begegnungen wirksam?

Welche intersektionalen Verbindungen des Antisemitismus nach Auschwitz gibt es mit ande­ren Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen?

Diese Fragen erfordern primär qualitativ-empirische Zugänge. Die verschie­denen Tagungsbeiträge basieren auf sozialpsychologischen, sprach- und sequenzanalytischen, psychoanalytisch-tiefen­hermeneutischen und gruppenanalytischen Untersuchungen der verschiedenen Äußerungs- und Herstellungsformen von Antisemitismus und seinen unterschiedlichen Erfahrungs­weisen. Dabei ergibt sich bereits aus der psychischen und gesellschaftlichen Langzeitwirkung der Antisemitismus/Erfahrungen – insbesondere der Shoah – notwendig eine Verknüpfung von geschichtlichen und aktuellen Perspektiven und Erfahrungsbezügen.

Während die Forschungen zu Antisemitismus als gesellschaftlichem Phänomen und seinen Aus­wirkungen umfassend sind, fehlt es bisher an systematischen und umfassenden Untersuchungen der verschiedenen subjektiven und intersubjektiven Erfahrungs- und Verarbeitungsdimensionen. Die multiperspektivische Herangehensweise dieser Tagung ist innovativ und eröffnet einen Zugang zu einer in dieser Verschränkung bisher nicht bearbeiteten Dimension von Antisemi­tismus.

Die Tagung Antisemitismus-Erfahrungen setzt die Fragestellungen der ersten Tagung zu Szenische Erinnerungen der Shoah im Jahr 2007 mit neuer Perspektive fort.

Die Tagung richtet sich an ErziehungswissenschaftlerInnen, PsychologInnen, Psychothera­peutInnen, PsychoanalytikerInnen, Geschichts-, Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen und an die interessierte Öffentlichkeit.

Der Eröffnungsvortrag am 8. September um 10 Uhr wird von dem renommierten Antisemitismusforscher Prof. Dr. Lars Rensmann gehalten. Er ist Associate Professor of Political Science am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der John Cabot University in Rom. Von 2006 bis 2012 DAAD Professor für Politikwissenschaft an der University of Michigan in Ann Arbor und seit 2006 Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum für Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam.

Weitere Beiträge von: Dr. Julia Bernstein, Dr. Kurt Grünberg, Prof. Dr. Lena Inowlocki, Dr. Judith Lebiger-Vogel, Dr. Jan Lohl, Prof. Dr. Angela Moré, Andrea Neugebauer, M.A., Dr. Nele Reuleaux, Dr. Katharina Rothe, Dipl.-Psych. Doreen Röseler, Dipl.-Päd. Michael Vollrath und Dipl.-Soz. Ruth Zeifert.

Anmeldung : Antisemitismus_erfahrungen@sigmund-freud-institut.de  (möglichst bis Ende August)

Tagungswebsite: sfi.neww.de