IV. Teil, Mair Treitel und seine Nachfahren…
Von S. Michael Westerholz/Deggenau
Meir (Meyer) Treitel hatte drei Söhne.
- Julius, ein Banker, war der Vater der oben genannten Grete, Liese und Hans Treitel in Berlin.
- Alexander , erster Jurist in der Familie Treitel. Er ließ sich als Rechtsanwalt nieder und stieg zum Geheimen Justizrat auf. Er wurde mit dem Roten Adlerorden ausgezeichnet, der zweithöchsten Auszeichnung des Königreichs Preußen. Alexander Treitel zog nach Danzig. Er engagierte sich unter anderem in der Naturkundlichen Gesellschaft Danzig und war zeitweise deren Vorstand. Sir Guenter Treitel: „Als kleiner Junge, um 1932, habe ich ihn besucht. Er starb 1935, da war er in den Achtzigern. Es ist eine Gnade, dass er die bevorstehenden Schrecken nicht mehr erleben musste.“
- Marcus, auch Max genannt, wurde Getreidehändler. Er ehelichte die Cäcilie Oppenheim. 1897 zogen sie nach Berlin um. Sie hatten fünf Söhne, von denen einer als Säugling, der andere, Carl, im Vorschulalter an Diphtherie starb.
>> Marcus´ und Cäcilies Sohn Hermann (1889 bis 1965) wurde ebenfalls Getreidehändler. Er heiratete die Witwe Frieda des Rabbiners Lewin, eine geborene Gutmann. Hermann war als Soldat im Ersten Weltkrieg zweimal verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Im Sommer 1938, vor der Reichspogromnacht, wurde Hermann in das KZ Sachsenhausen verschleppt und schließlich mit der Maßgabe entlassen, das Land unverzüglich zu verlassen. Er floh mit seiner Frau nach Chile. Seine Geschwister und deren Nachfahren sahen ihn und seine Frau nach der Auswanderung nie wieder.
>> Sohn Richard wurde Jurist, Politiker und Journalist. Er lebte einige Zeit im Haushalt seines Bruders Hermann.
>> Sohn Theodor wurde wie Richard Jurist und entkam im letzten Augenblick nach England.
Feinde und Freunde im Nazi-Reich
Das Leben im Berlin, das seit Ende Januar 1933 von den Protzbauten der Nazis, ihren fast täglichen Aufmärschen und dem kaum mehr abgeräumten Fahnenmeer bestimmt war, wurde zunehmend härter. Sir Guenter Treitel erinnert sich, dass Juden zur Zeit seiner Abreise nach England am 21. März 1939 noch Bahnen, Busse und Taxis benutzen durften. Auch den Großen Tiergarten, eine innerstädtische Parkanlage, durften sie noch betreten, nicht aber den Zoologischen Garten. Den „Ariern“ hatten sie überall den Vortritt zu lassen, mussten von Gehwegen herunter auf die Straße wechseln. Bibliotheken, Kunstausstellungen, Sitzbänke an Straßen und in Parkanlagen waren tabu für sie. Archive und Lesesäle waren ihnen verschlossen, in Badeanstalten und Seen durften sie nicht schwimmen. Einkaufen durften sie nur an bestimmten Abenden in festgelegten Läden – und sie bekamen auf den ihnen zugeteilten Lebensmittelkarten geringere Mengen als die „Arier“. Arztpraxen durften sie nicht betreten, medizinische Behandlungen bekamen sie nur von Ärzten, denen die Zulassung entzogen worden war und die bestenfalls noch als „Heilbehandler“ arbeiten durften. Selbst Haustiere waren ihnen verboten, und christliche Hausangestellte machten sich strafbar, wenn sie ihren Dienst nicht unverzüglich aufgaben. In große Wohnungen wurden ihnen Mieter zwangsweise einquartiert. Eine ganz kurze Verschnaufpause durch kurzzeitige Lockerungen der rigorosen Alltagsbedrängungen der jüdischen Deutschen gab es 1936, als die Nazis mit den scheinbar so weltoffenen Olympischen Spiele in Berlin ein letztes Mal die Welt über ihre wahren Taten und Absichten täuschten.
Bald nach Kriegsbeginn wurden immer mehr Juden zu „kriegswichtigen Arbeiten“ verpflichtet. Die einst erfolgreiche Geschäftsführerin Grete Treitel zum Beispiel wurde Ende 1940 in die Firma Pertrix in Oberspree am Stadtrand Berlins abgeordnet: Die Firma stellte Taschenlampen-Batterien her. Ohne jeglichen Staubschutz mussten sie und bis zu 1.000 Frauen und Männer aus allen Berliner Schichten, akademischen und praktischen Berufen und egal welchen Alters in Tag-und Nacht-Wechselschichten zum Beispiel die Kohlewürfel herstellen, die in den Batterien als Kontakte dienten. Egal, wie weit die Heimwege waren und ohne Rücksicht auf wenig Schlaf nach Bombenangriffen mussten die Zwangsarbeiter pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen – oder Anklagen wegen Sabotage fürchten. Grete hatte Glück. Sie meldete sich nach einem Jahr krank, fand andere Arbeit und entging drohenden Zwangsmaßnahmen.
Die früher durch ihren Fleiß und die juristischen Erfolge gut situierten Brüder Richard und Theodor Treitel hatten nach ihrem Rauswurf aus der Rechtsanwaltskammer im Jahr 1938 keine Einnahmen mehr und mussten sich einschränken. Theodor, dessen Eltern in der Klopstock-Straße im selben Wohngebiet gelebt hatten, zog 1933 nach dem Wegfall seiner Einnahmen als Notar mit seiner Familie aus der Brückenallee 10 im gutbürgerlichen Hansaviertel in die Flotow-Straße 11 um.
Die Adressen der Familie offenbaren deren Wohlstand und zugleich ihre Stellung in der Gesellschaft. Bei Meister Leopold Treitel (ebenfalls ein Sohn des Abraham und der Emma Treitel, geborene Pinner, auch er starb 1942 in Theresienstadt) ließen sie ihre Maßanzüge nähen. In Kulturetablissements waren sie gerngesehene Gäste, an Stammtischen hatten sie ihre Plätze. Ihre Nachbarn waren Nobelpreisträger, Schauspieler wie Ilse Fürstenberg und Heinrich George, Ärzte wie der Chirurg August Bier, die Schriftstellerin Alice Berend, Preußens Ex-Ministerpräsident Botho zu Eulenburg und zahlreiche weitere Minister, Theaterkritiker Alfred Kerr, der gefeierte Theatermacher Max Reinhardt und Berühmtheiten wie der Maler Lovis Corinth, die Bildhauerin und Malerin Käthe Kollwitz und die Lyrikerin Nelly Sachs. Auch Lenin hatte dort gelebt, ringsumher rund 20 Prozent jüdische Deutsche. Das Quartier wurde im Krieg zu 90 Prozent zerstört. Das Haus Flotow-Straße 11 hat den Krieg überstanden. Vier Etagen mit je zwei Wohnungen altberlinischen Zuschnitts mit inbegriffenen Dienstbotenzimmern. Viel Marmor und hohe, helle Räume hat das restaurierte Haus. Google-Map zeigt ein Gebäude aus der Gründerzeit mit viel Grün.
Noch 1931 war Dr. Richard Treitel in der Brückenallee gemeldet, 1939 in der Giesebrechtstraße 11, seit Oktober 1942 in der Nummer 15 derselben Straße. In der Nummer 11, einst Wohnhaus des Librettisten und Humoristen Fritz Oliven, teilte er sich ein Appartement mit seinem Bruder Hermann und dessen Frau Frieda. Bei seinem Einzug traf er auf Bekannte aus der Gemeinde: Frieda Loewy, Fritz Hirschfeldt, Else Noah und die Eheleute Gertrud und Max Zuttermann. Im 2. Obergeschoss existierte der „Salon Kitty“. Dieses „Edelbordell“ war von den Nazis zu einer Abhörzentrale verkabelt worden, in der Gäste aus aller Welt, aber auch Parteigenossen wie der berüchtigte SS-General Sepp Dietrich bespitzelt wurden. Britische Agenten hatten eine der Prostituierten auf ihre Seite gezogen und hörten nun mit. Das Haus unweit des Kurfürstendamms wurde 1942 bei einem Bombenangriff beschädigt. Das Bordell zog ins Erdgeschoss, die verbliebenen Juden wurden in die Nummer 15 umquartiert. Das Bordell wurde weit nach dem Krieg in eine Asylbewerber-Pension umgewandelt, schließlich in alter großbürgerlicher Repräsentationspracht restauriert. Es beherbergt heute Rechtsanwalts-Kanzleien, Ingenieurbüros und ein PsychoForum.
Auch das Haus Giesebrechtstraße 15, der letzte Zufluchtsort Dr. Richard Treitels in Berlin, war ein jüdisches Haus. Stolpersteine erinnern dort heute an Lotte, Waldemar und Lissy Ingeborg Wagner, an Agnes Schlawanski und Monika Erhard, die alle ermordet worden sind. Das ebenfalls repräsentative, große Haus bietet heute neben Mietern auch Rechtsanwälten und dem Irish Harp Pub Unterkunft. Genaue Mieterlisten aus der Nazizeit gibt es nicht mehr, doch sollen dort wie in Nummer 11 und weiteren jüdischen Häusern der Umgebung zahlreiche zusammengepferchte jüdische Deutsche in äußerster Not vegetiert haben.1
1912 war in Charlottenburg die Synagoge der liberalen Gemeinde Berlins eingeweiht worden. Sie bot 1.750 Gläubigen Platz. Leo Baeck wurde ihr Rabbiner und predigte häufig in diesem Tempel. Seine Gemeinde war mit 11.000 Mitgliedern die größte in Deutschland. Dr. Richard Treitel und Dr. Heinrich Elkeles waren ihre juristischen Vertreter. Die Tochter Lotte (1926 bis 1991) des Dr. Elkeles heiratete durch Hans Henry Hank David Treitel (1924 bis 2005) in den Zweig des Rabbiners Dr. Leopold Treitel hinein, ihr Sohn Bob in den USA ist einer der besten Kenner der Treitel-Ahnenlisten. Der Tempel wurde in der „Reichspogromnacht“ 1938 schwerst beschädigt und endgültig im Krieg zerstört. Letzte Ruinenteile wurden 1958 abgebaggert. Schon seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurden hier betende Juden häufig auf der Straße verbal und handgreiflich attackiert. 2
Ungeachtet der eigenen Nöte engagierten sich die Brüder Richard und Theodor im „Kulturbund deutscher Juden“, der erst die jüdische Kulturszene Berlins, dann aber jene im ganzen Deutschen Reich repräsentierte: Nur der „Kulturbund‘ ermöglichte Künstlern, von denen viele christlich getauft waren, Auftritte und somit ihren Unterhalt und den ihrer Familien. Die Nazis hatten sie aus Redaktionen, dem Rundfunk, den Akademien der Wissenschaft und der Künste, aus Universitäten und Schulen, als Juristen und Mediziner, aus Verlagen, Theatern, Opern- und Operettenhäusern, aus Magierbünden und dem gesamten öffentlichen Kulturleben verbannt.
Sir Guenter Treitel über das soziale Zusammenrücken der schuldlos terrorisierten Juden: „Auch meine Eltern gingen zu Veranstaltungen des Kulturbunds deutscher Juden, ins Theater und in die Oper. Ob Onkel Richard sich sogar in die Organisation einbrachte, weiß ich nicht.“
Mutige Freunde – widerwärtige Spitzel
Doch völlig verlassen waren die einst so prominenten Brüder Richard und Theodor Treitel trotz ihrer offiziellen Isolierung nicht. Professor Dr. Kurt Nemitz erinnert sich, dass seine Großmutter, die Reichstagsabgeordnete Anna Nemitz, sein Vater, der Arzt und Reichstagsabgeordnete Dr. Julius Moses, und weitere – auch nichtjüdische – Freunde zu jüdischen Feiertagen bei den Treitels eingeladen waren. Gastgeber dürfte hier und da auch Hermann Treitel gewesen sein, da Dr. Moses ihn in einer intellektuellen Purimrede erwähnt.
Professor Dr. Nemitz: „Unter den Geburtstagsgästen (Anm.: bei Dr. Moses am 2. Juli 1938) befand sich auch der frühere Stadtrat Dr. Treitel, an den ich mich besonders gerne erinnere. Bis 1938 luden Treitels ihre einstigen Freunde zum Purim-Fest ein, das in ihrer im Tiergarten gelegenen Wohnung nach liberaler jüdischer Art begangen wurde. Meine Aufmerksamkeit war vor allem auf das mit einem großen „Streng-Kosher“-Schild versehene Speisebuffet gerichtet. Außerdem war Verkleidung empfohlen. Und vor allem wurde von meinem Vater der Vortrag eigener dichterischer Werke erwartet. (…)
Als vor einiger Zeit das Leo-Baeck-Institut (…) eine Historikertagun g zur Lage und den Lebensverhältnissen der Juden während des NS-Regimes in Deutschland organisierte, mußte ich während der ganzen Veranstaltung an diese Sylvesterfeier 1937 bei Treitels denken.
Allein das Szenarium dieser Zusammenkunft macht deutlich, worauf es in diesen Jahren der eskaliernden Hetze und Gewaltanwendungen ankam. Seit dem Erlaß der Nürnberger Gesetze 1935 rückte der Freundeskreis immer enger zusammen. Und die beiden Brüder Treitel, in der Weimarer Zeit als geachtete Anwälte tätig, der eine auch als Stadtrat, luden zu verschiedenen Zeiten immer wieder ein. (…) Und alle wußten: zum festen Ritus gehörte der Vortrag meines Vaters, der mit Versen, gespickt mit humorigen Anspielungen auf Anwesende, aber auch mit Hinweisen auf die allgemeine „Lage“, Zuversicht verbreiten und den Überlebenswillen stärken konnte….“
Dr. Moses´ „Capuziner-Predigt für (die) Sylvester-Feier 1937 beim Dr. Treitel“ weist auf die Anwesenheit von Anna Nemitz, der Eheleute Horlitz, der Frieda Nemitz, der Eheleute Paul und Clara sowie des Sohnes Werner Löbe hin und wirkt in der Rückschau wie eine große Prophetie des scheinbar noch fernen Krieges, der Vernichtung des Judentums und des Untergangs des Deutschen Reiches, sowie der Ordnung der Völker in der Welt. Sie geht unter anderem direkt auf Dr. Richard und auf dessen Bruder Hermann Treitel ein:
„Und O. R. mit dem Bart á la Habby,
Nicht Stadtrat mehr, sondern ein weiser Rabbi!
Er lebt nur noch von Schar und More Nebuchim
Und will in der Anwaltschaft auch nichts mehr suchim!
O. R. Onkel Richard richtig verdeutscht,
Sieht dem Goj im Suff zu, so ganz verkneutscht.
Und O. H. nicht Oberste Heeresleitung:
Onkel Hermann in ihrer Familiendeutung,
Er schüttelt den Kopf als steter Kritikus:
Was redet der Capuziner da heut für ´nen Stuss!“ 3
Professor Dr. Nemitz im Telefongespräch am 29. Mai 2012: „Ich war ja erst zehn – elf Jahre alt, habe aber diese Begegnungen bei den Treitels nie vergessen. Sie waren Persönlichkeiten, die ein Kind beeindrucken konnten. Und ich begriff sehr wohl, dass auch ihnen wie meiner Oma Anna Nemitz und meinem Vater, Dr. Moses, fürchterliches Unrecht angetan wurde!“
Als die ersten KZ-Überlebenden die USA erreichten, brachten sie Listen von Displaced Persons (DP) mit. Die veröffentlichte die deutschsprachige Zeitung DER AUFBAU In New York sofort. Auch Dr. Richard Treitel wurde darin genannt. Die Zeitung CENTER REVUE der Überlebenden im DP-Camp 7 Deggendorf, veröffentlichte seit Dezember 1945 Suchanzeigen: Eine davon hatte Dr. Richard Treitel aufgegeben – und sie oder DER AUFBAU scheint Albert Horlitz (1882 bis 1972) gelesen zu haben.
Der Schlesier Albert Horlitz war Kunstschreiner, Möbel- und Innenarchitekt, Gewerkschafts-Sekretär, Konsum-Geschäftsführer im Krefelder Raum gewesen und hernach SPD-Sekretär, Stadt- und Bezirksverordneter in Berlin-Charlottenburg geworden. Dort wurde er besoldeter Stadtrat. Er hatte viele Jahre in der Partei mit Dr. Theodor Treitel, im Rathaus mit dessen Bruder Richard zusammengearbeitet. Die Nazis warfen ihn im März 1933 aus dem Rathaus. Trotz seiner Überwachung durch die GESTAPO hörten Paul Löbe und weitere Mitwisser von Attentatsplänen gegen Adolf Hitler in der Wohnung der Eheleute Horlitz Feindsender ab – darauf stand der Tod!
Sir Guenter Treitel schrieb zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht in einem Brief an die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ seine Erinnerungen an die Eheleute Horlitz und die Ereignisse rund um den 9./10. November 1938 nieder:
„Ich war erst zehn Jahre alt, aber gleich nach der `Kristallnacht´ wurde der jüdischen Bevölkerung Berlins bekannt, das jüdische Männer in großer Zahl willkürlich verhaftet und in Konzentrationslager geschickt wurden. Wir waren um meinen Vater besorgt. Der war 53 Jahre alt und nicht bei bester Gesundheit. Ferner um meinen Onkel Richard Treitel und sogar um meinen Bruder Kurt, der dazumal 16 Jahre alt war. Denn es war bekannt, dass die Nazis sogar ältere Söhne solange als Geisel festhielten, bis deren Väter sich freiwillig stellten.
Mein Vater und mein Onkel waren prominente Aktive der Sozialdemokratischen Partei. Sie hatten auch im Zuge dieser Tätigkeit nicht-jüdische Freunde gewonnen, die auch nach der „Machtergreifung“ der Nazis loyal zu ihnen standen. Ein solcher Freund war Herr Albert Horlitz. Als mein Vater, Bruder und Onkel nun ihre Festnahme fürchten mussten, nahmen Horlitz und seine Frau sie in ihrem Haus im Grunewald auf. Vergeblich suchten Gestapobeamte meinen Vater in unserer Wohnung. Ein oder zwei Tage danach machten meine Mutter, meine Schwester und ich uns nach Einbruch der Dunkelheit auf den Weg zu Horlitz. Mutter schärfte uns striktes Schweigen sowohl auf den Straßen, als auch in den Zügen ein, mit denen wir ein Stück weit fahren mussten.
Ich habe wenig Zweifel, dass die Eheleute Horlitz meinem Vater, dem Bruder und meinem Onkel das Leben gerettet haben. Sie waren sehr tapfer, zumal sie Hausangestellte hatten, deren Reaktion sie nicht abschätzen konnten. Es war auch nicht sicher, dass die Gäste im Hause von den Nachbarn unentdeckt blieben.
Doch die Horlitz wagten noch viel mehr: Als nach der „Reichspogromnacht“ die Juden zur Strafe alles Eigentum aus Edelmetallen, auch alten Schmuck, bei den NS-Behörden abzuliefern hatten, ihre Eheringe ausgenommen, entschied sich meine Mutter, das zu ihrer Hochzeit angeschaffte Tafelsilber um keinen Preis abzuliefern: Sie kaufte vielmehr eine neue Garnitur und lieferte die ab. Die ihr so kostbare übergab sie Albert Horlitz zur Aufbewahrung. Desgleichen übergab sie ihm zwei Golduhren. Eine hatte mein Vater von seinem Bruder Richard anlässlich seiner Anwaltszulassung erhalten, die andere gehörte Onkel Richard. Horlitz verwahrte diese Gegenstände in seinem Haus. Als die Sowjets 1945 die Stadt besetzten, vergrub er das Silber in seinem Garten. Dann ließ er sich wegen eines angeblichen Beinbruchs einen Gipsverband anlegen, in dem er die Uhren versteckte. Wir haben die Uhren und das Familiensilber von ihm zurückbekommen – er hatte auch dafür sein Leben riskiert.“
Kaum hatte Horlitz erfahren, dass und wo Richard Treitel nun lebte, beschwor er diesen, nach Berlin zurückzukommen und beim politischen und juristischen Wiederaufbau zu helfen. Er selbst hatte sich unverzüglich bei den alliierten Stadtherren gemeldet und war als 3. Bezirksbürgermeister von Charlottenburg eingesetzt worden. Von 1946 bis 1951 amtierte er als erfolgreicher Bürgermeister und wurde in das Berliner Abgeordnetenhaus und in Bezirksversammlungen gewählt.
Sir Guenter Treitel:
„Nach dem Krieg war Herr Horlitz ein Kandidat für die Wahl in ein öffentliches Amt in Berlin und wurde von politischen Gegnern beschuldigt, ein Nazi-Sympathisant gewesen zu sein. Daraufhin schrieb mein Vater einen offenen Brief mit dem Bericht darüber, wie Horlitz unserer Familie das Leben gerettet hatte. Er wurde gewählt.“
Albert Horlitz wurde 1957 zum „Stadtältesten“ ernannt, eine Ehrung, die der Ehrenbürgerschaft entspricht. Richard Treitel sah er nie wieder. Einen winzigen Schadensersatz für das ihnen geraubte Vermögen mussten die Treitel sich mühsam gerichtlich erkämpfen: Hermann Treitel 1950 und seine Frau Frieda 1955 und 1959 von Santiago in Chile aus, Dr. Theodor Treitel von London aus in vier Verfahren zwischen 1950 und 1959, seine Söhne Günter und Kurt 1959 von Oxford und London aus, und Celia (Cilly) Ruth Treitel für den geschädigten Dr. Richard Treitel 1959 von London aus.
Wie widerwärtig solche Prozesse verliefen, zeigt das Beispiel einer Treitelfamilie, die 2004 ein Schweizer Nummernkonto als Eigentum reklamierte. Im Fall Nummer CV-96-4849 des „Claims Resolution Tribunal“ klagte Walter Wolfgang Gerhard Tritell um das Konto seiner Mutter Rosa Treitel und der Schifffahrts-Unternehmen des Arnold Bernstein, nämlich die Steam Ship Line und die Red Star Line. Rosa Treitel war eine 1893 in Breslau geborene Bernstein und Ehefrau von Walter Treitel, den sie 1914 in Breslau geheiratet hatte. Sie war stille Gesellschafterin der beiden Bernstein-Reedereien. Neben Sohn Walter Wolfgang Gerhard hatte sie eine Tochter Anita. Als der Ehemann 1938 in die USA floh, folgte ihm der Sohn ein Jahr später. Anita wurde in ein KZ verschleppt und nahm sich dort im November 1941 das Leben. Auch Rosa Treitel starb in einem KZ. Angesichts der restriktiven Haltung vieler Schweizer Banken, die mit Nummernkonten ermordeter Juden und mit der deutschen Naziregierung gute Geschäfte gemacht hatten, war es kein Wunder, dass auch diese Klage auf Kontenöffnung abgewiesen wurde. 4
Die Schweiz hatte nur wenige Juden aufgenommen, die aus Deutschland geflohen waren. Sogar Kinder und Kranke hatte sie nach Italien oder Frankreich zurückgeschickt, wenn solchen von dort aus der Grenzübertritt in das Alpenland gelungen war. Und sie hatte zahlreiche Emigranten in Lager gepfercht. Sie hatte aber prächtige Geschäfte mit Deutschland gemacht. Als im Jahre 2001 Namenslisten einstiger jüdischer Kunden mit Konten auf schweizerischen Banken veröffentlicht wurden, meldete ein Otto Treitel Nachlassansprüche auf Konten seines Verwandten Gustav Baumann aus Berlin an. Ungeklärt ist, ob dieser Otto Treitel mit jenem O. Treitel identisch ist, der 1943/46 als Professor für Mathematik und Physik an der Fisk University in Nashville/TN wirkte. Die ehemaligen Kunden oder deren Erben hatten erst unter erheblichen Schwierigkeiten Zugriff auf die geheimen (Nummern-)Konten erhalten, als der Druck der internationalen Öffentlichkeit immer stärker wurde und die Schweiz mit Einbußen bei ihren Milliarden-schweren Bankgeschäften oder mit Klagen der UNO und von Menschenrechts-Gerichtshöfen rechnen musste.
Solidarisch wie Horlitz zeigten sich ab 1933 überwiegend Persönlichkeiten, die selbst in Gefahr waren. Einige von ihnen wurden zu Mitverschwörern und Opfern des missglückten Putsches gegen Hitler am 20. Juli 1944. Oft kam der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe (1875 bis 1967) in die Wohnung der Treitel. Und häufig spazierte er mit den Brüdern Treitel und dem Politiker (MdR seit 1930), Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Journalist Carlo Mierendorff (1897 bis 1943) durch Berlin. Noch 1938 traf er sich regelmäßig bei Dr. Richard Treitel unter anderem mit der späteren SPD-Bürgermeisterin von Berlin, Luise Schröder, der Ex-Abgeordneten Elfriede Ryneck, deren Enkelin Professor Dr. Jutta Limbach später Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts wurde, dem Ex-Abgeordneten Gustav Hoch und dem Ex-Innenminister Hessens, Wilhelm Leuschner. Offene Gespräche gab es nur bei Spaziergängen, weil viele Wohnungen abgehört wurden. Aber auch so schauten GESTAPO-Beamte zu.
Der sozialdemokratische Drucker, Gewerkschafter und Widerständler Paul Löbe, den die Nazis in Gefängnissen und KZ folterten, war bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen mit dem späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer in der Paneuropa-Union tätig. Das war ein ideologischer Vorläufer der heutigen Europäischen Union (EU). Mit Adenauer wirkte er auch in jenem Parlamentarischen Rat zusammen, der 1948/49 auf einer Chiemseeinsel das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitete. Sie entwarfen dabei eine liberale Verfassung, wie Deutschland sie nie zuvor besessen hatte. Und während Adenauer 1949 der erste CDU/CSU-Bundeskanzler wurde, war der SPD-Abgeordnete Löbe im selben Jahr bis 1953 der Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages.5
Löbe, der die Brüder Treitel nie wieder sah, blieb der Freund des Dr. Theodor Treitel in London. Am 11. November 1955 schrieb er ihm:
Lieber Herr Treitel!
Unser Zusammensein (…) anlässlich der Goldenen Hochzeit von Albert und Martha Horlitz hat uns an die Freunde erinnert, die ein Stück des Lebensweges neben uns geschritten sind und jetzt in der Ferne weilen. An erster Stelle steht in diesen Kreisen die Familie Treitel, die uns so viel Gutes erwiesen, mit denen wir frohe Stunden verbracht haben und die dann so Schweres ertragen mussten. Wir gedenken der gütigen Frau Hanna. Wie oft hat sie sich, gemeinsam mit Ihnen, lieber Herr Treitel, bemüht, uns die Abende recht anheimelnd zu gestalten. Wie oft denken wir an den Bruder Richard, der seine gute Laune zu bewahren suchte. Wir freuten uns mit Ihnen über das Gedeihen der Kinder und deren geistige Fortschritte. Es hat mich immer wieder geschmerzt, daß beide, Frau Hanna und Bruder Richard, nicht die Wiedergutmachung haben miterleben können.
Gestern abend fand in der Universität eine Gedenkstunde an die schreckliche Kristallnacht statt. Bürgermeister Amrehm, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Galinski, und Senator Lipschitz mühten sich gemeinsam, die Schmach abzuwehren, die das deutsche Volk damals verübte. Die Feier hat Frieden in einzelne Herzen gebracht.
Diese Zeilen, lieber Herr Treitel, sollen Ihnen bestätigen, daß wir Sie nicht vergessen haben, sondern oft Ihrer mit Hochachtung gedenken.
In alter Verbundenheit,
Ihr
(Paul Löbe)“ 6
Professor Dr. Kurt Nemitz´ Oma Anna Nemitz und sein Vater Dr. Julius Moses waren auch 1936 dabei, als Paul Löbe seine Freunde Treitel besuchte. Alle diese Treffen waren von den Nazis strikt verbotene Versammlungen einst führender Sozialdemokraten. Ihre Partei war aufgelöst, die Abgeordneten hatten ihre Mandate verloren. 7
Denn die GESTAPO hörte stetig mit – und selbst ein so gewiefter Politiker und Menschenkenner wie Paul Löbe plauderte mitunter ohne jegliche Scheu. So am 23. Februar 1938.
S 12 meldet Berlin, den 28. Februar 1938
„Bei der am 23. 2. 38 stattgefundenen Unterhaltung mit dem ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe machte dieser über seine alten Genossen folgende Mitteilungen:
1.) Die alten Berliner SPD-Mitglieder treffen sich regelmäßig in dem Männer-Gesang-Verein `Berliner Liederfreunde´, der vor kurzem ein Konzert in den Apollo-Sälen am Moritzplatz veranstaltet hat. Das nächste Konzert soll im März stattfinden, falls bis dahin die Polizei den Verein nicht aufgelöst hat, wie es in Hamburg einem ähnlichen Gesangverein erging, dem zuviel Marxisten angehörten.
2.) ………….
3.) ………….
4.) Bei dem Maler Emll S t u m p p in der Offenbacherstr. finden regelmäßig Skatabende statt, an welchen die ehemaligen Mitglieder des Reichstages Hugo H e i m a n n , Dr. Julius M o s e s, Anna N e m i t z , der frühere Vorsitzende der Presse-Kommission für den `Vorwärts´ Otto Meier sowie die Gebrüder T r e i t e l , von denen der eine Stadtrat der andere Syndikus und Vertreter einer Gewerkschaft waren, teil(nehmen).
5.) Weiter gibt es häufiges Beisammensein mit Theodor H e u s s, Gertrud B ä u m e r und der ehemaligen demokratischen Reichstagsabgeordneten und Schriftstellerin Marie-Elisabeth L u e d e r s. Nach Löbes Darstellung wurde Frau L u e d e r s nach dem Erscheinen ihres Buches `Das stumme Heer´ in Schutzhaft genommen, da sie von militärischen Kreisen den Auftrag hatte, Betriebe zu inspizieren, wie diese im Kriegsfalle mit Frauen zu besetzen wären. In Erledigung dieses Auftrages kam sie nach Paris und wurde daraufhin verdächtigt, über ihre gesammelten Eindrücke in den Betrieben Nachrichten an französische Kreise weitergeleitet zu haben. Durch Fürsprache der Militärkreise soll Frau L u e d e r s aus der Haft in ein Krankenhaus überführt und später aus der Haft entlassen worden sein. Das gegen sie eingeleitete Strafverfahren wurde angeblich niedergeschlagen.“ 8
Der Spitzel denunzierte zwei treue Freunde der Brüder Treitel: Der Maler Emil Wilhelm Stumpp (1886 bis 1941) war als Pressezeichner schon gut bekannt, als er zu Adolf Hitlers Geburtstag am 20. April 1933 für eine Dortmunder Zeitung ein Hitler-Porträt zeichnete: Das Bild missfiel Hitler so sehr, dass mit diesem Tage die Pressefreiheit in Deutschland endete. Der mit einem Berufsverbot belegte Stumpp schlug sich mühsam durch, wurde 1941 bei einem Aufenthalt auf der Kurischen Nehrung in Ostpreußen wegen offener Reden von einem Wirt denunziert und von einem Sondergericht in Memel verurteilt. Er starb an den Folgen unmenschlicher Haft im Gefängnis.
Anmerkungen
- WIKIPEDIA, eingesehen am 09.04. 2012
- Über Albert Horlitz, Paul Löbe, Anna Nemitz, Dr. Julius Moses, E. W. Stumpp, Dr. Th. Heuss siehe WIKIPEDIA, eingesehen am 29. 03. 2011
- Nemitz , Prof. Dr. Kurt *1925, in: Bundesratufer Erinnerungen, Oldenburgische Beiträge zu JÜDISCHEN STUDIEN, Bd. 16, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2006, S. 39 ff.,
- CLAIMS RESOLUTION TRIBUNAL In re Holocaust Victim Assets Litigation Case No. CV96-4849 Certified Denial to Clairmant Walter Tritell in re Account of Rosa Treitel Claim Number: 500617/AC
- WIKIPEDIA ÜBER Konrad Adenauer und Paul Löbe, eingesehen am 20. 08. 2011
- Archiv Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Familie Treitel Levy, 5. Theodor Treitel Korrespondenz, Inv.-Nr. 2007/129/48-49
- Nemitz, Prof. Dr. Kurt: Die Schatten der Vergangenheit, Oldenburgische Beiträge zu JÜDISCHEN STUDIEN, Bd. 7, Universität Oldenburg 2000, S. 142.
- Bundesarchiv, Abt. Potsdam, Bestand Reichssicherheitshauptamt, Abt. IV. R 58/3327, aus B Rep. 001, Nr. 2998.