Ein Weg nach Tabou

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„Laudatio“ auf den Wissenschaftler und Erzähler Paul Parin…

„Wir lebten in einer Zeit, die nicht groß war, aber böse und grausam, in der es vielleicht schwer war durchzukommen, aber leicht zu wissen, was man zutun hatte.“
Paul Parin

Von Christa Wolf (1992)

Liebe Goldy Parin, lieber Paul Parin,

als ich anfing, mich mit dieser „Laudatio“ zu beschäftigen – auch eines jener Worte, die ich nur noch in Anführungszeichen setzen kann -, da träumte ich eines Morgens von dieser Veranstaltung, zu der wir uns heute versammelt haben. (Oja, unverfroren betrete ich in Ihrer Gegenwart, noch dazu mitten in Wien, den „Königsweg zum Unbewußten!“)

Ich kam, im Traum, zu spät, schlich mich also von hinten in den Saal, der, anders als dieser hier, hell, quadratisch, schmucklos war und sah vor mir dicht bei dicht die Rücken der zu Ihrer Feier erschienenen Gäste.

In der linken Hand hielt ich einen Blumenstrauß für Sie, genauer: einen dicken unordentlichen Busch grüner Gräser, und um wenigstens etwas von der verlorenen Zeit aufzuholen, begann ich, eilig im Seitengang nach vorn strebend, wo ja ein leeres Rednerpult auf mich wartete, pflichtschuldigst zu reden. Ja, meine Damen und Herren, sagte ich, ich bin hier, um etwas nachzuholen, für Sie, Paul, aber auch für uns; um Sie also zu uns herein- und heranzuholen, wohin Sie längst gehörten. So redend und weitergehend hatte ich aber doch aus den Augenwinkeln die beiden Gestalten erblickt, die in einer Saalecke bescheiden auf zwei Extrastühlchen saßen: das waren Sie, Paul und Goldy, und, zugegeben, mir wurde unbehaglich bei Ihrem Anblick, aber mein Befremden hielt sich in Grenzen. Nur hoffte ich, ja: eigentlichrechnete ich fest damit, daß Sie nicht nur da in Ihrem Eckchen, sondern doch auch auf dem Ihnen zustehenden Platz in der ersten Reihe sitzen würden, wo ich Sie ja dringlich benötigte, um Sie endlich gebührend anreden zu können, und da sah ich auch schon vom Ehrenplatz her Ihren Hinterkopf schimmern, ich war erleichtert und hatte das Gefühl, alles sei in Ordnung.

Wollte ich Ihnen also eine veritable Schizophrenie anhängen? Ich lief zum Schreibtisch und fand unter den Notizen, die ich mir am Vorabend bei der Lektüre Ihres Slowenien-Buches „Untrügliche Zeichen von Veränderung“ gemacht hatte, die Bemerkung: Die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftler und Schriftsteller spaltet bei Parin nicht die Person. Aha. Welchen der beiden Teile Ihrer Person hat nun aber mein boshafter, natürlich mit Inversion arbeitender Traum aufs Nebenstühlchen, welchen auf den Ehrenplatz gesetzt? Und warum haben die Blumen, von denen Sie mir am Vortag geschrieben hatten – Blumen für einen Preis, der noch gar nicht verliehen war: das gefiel mir sehr! – sich in meiner Hand in schmucklose grüne Gräser ver-wandelt? (…)

In dem Gedicht von Erich Fried, mit dem sie Ihren Vor-Gratulanten dankten, schwingt ein leises „Zu spät“ mit und hat, da bin ich mir sicher, unterirdisch an der Färbung meines Traumes mit-gearbeitet:

„Mit den Jahren Mit meiner Erfahrung wächst
meine Fähigkeit zu beschreiben was ich nicht mehr beschreiben werde“

Ein hintergründiges Gedicht. Eine Unfähigkeit wird durch eine Fähigkeit ausgedrückt. Eine Trauer unter Lächeln, nicht ohne Selbstironie. Das Unbeschriebene, nicht mehr zu Beschrei-bende dämmert herauf, aber es wird die Horizontlinie des Beschriebenen nicht mehr passieren. (…)

Ich glaube zu ahnen, lieber Paul Parin, warum Sie dieses Gedicht berührt, gerade fange ich an, seine ersten Zeilen zu buchstabieren und wünsche mir, mit Ihnen im Gespräch zu bleiben über die Spannung zwischen der übermächtigen, unstillbaren Sehnsucht, alles zu sagen (auch um den Preis jener fast unvermeidlichen Prise Unaufrichtigkeit, die von unsichtbarer Hand in den Schreibvorgang hineingesteuert wird) und der beinahe ebenso dringlichen Scheu, das Geheimnis zu verletzen, das in dem Wort „Mensch“ beschlossen ist. (…)

Aber in Ihrer Gegenwart muß ich altmodische Wörter nicht meiden, recht gut fügen sie sich in Ihre Gedankengänge ein, die zwar, wie ich glaube, auf der Höhe der Zeit, nicht aber auf dem Stand der letzten Mode sind: Unbelehrbar wissen Sie sich „der Aufklärung verpflichtet“, haben aber nicht die mindesten Bedenken, sich, „was nämlich die menschlichen Verhältnisse betrifft, schon immer skeptisch zu erklären“. Subjekt im Widerspruch heißt eine Ihrer Essay-sammlungen, und deren Gegenstücke: Widerspruch im Subjekt.

Sicherlich war es auch meine Lust auf eine erneute Lektüre aller Ihrer Bücher und Artikel, die mir eingab, Ihnen diesen Preis anzutragen. (…)

Die „Brüdergemeinde“ Parin-Fried

Merkwürdigerweise – aber das ist ja nicht neu -überwand die moralische Anstrengung, mich diesem Leben, und die ästhetische, mich diesen Texten zu stellen, die Entmutigung. Ich dachte auch: Fried wäre einverstanden, das war eine Gewißheit, an die ich mich halten konnte. Es war übrigens der erste Satz, den Paul Parin nach einer ungläubig-überraschten Reaktion herausbrachte: Fried würde sich wohl freuen. Er hatte ihn, Parin, nämlich als seinen älteren Bruder adoptiert und sich seiner Autorität, seines Verständnisses und seiner Brüderlichkeit versichert.

Die „Brüdergemeinde“ ist ja ein konstituierendes Element in Parins Leben und Werk; sie ist es, der er, zuerst unbewußt, zustrebt, in der er sich, wenn er in ihr „angekommen“ ist, aufgehoben und glücklich fühlt, sei es in gefährlichen Aktionen, bei härtester Arbeit, auf abenteuerlichen Erkundungen. Die brüderlich -schwesterlich miteinander verbundene Gruppe Gleichgesinnter, Gleichberechtigter, die gemeinsam „zugunsten besserer Verhältnisse“ kämpfen – gegen den Faschismus – und arbeiten: als Ärzte bei den jugoslawischen Partisanen, als Psychoanalytiker in Zürich, als Ethnopsychoanalytiker in Afrika: dies ist der praktische harte Kern von Parins Utopie – ein Wort, das er, horrible dictu, bis in seine jüngsten Arbeiten hinein nicht aufgeben will; auch nicht aufgeben kann: Sein Schreiben hört auf, wenn seine Utopie verschwindet, er schildert das eindrucksvoll in seinem Buch über die Zeit bei den jugoslawischen Partisanen (Es ist Krieg und wir gehen hin). (…)

Und so ganz abwegig scheint es doch auch nicht zu sein, wenn man sich heutzutage dem ei-nerseits verzweifelten, andererseits wohligen Gefühl der Vergeblichkeit all unseres menschli-chen Tuns und Treibens einfach überläßt oder überließe. In diesen Chor, sage ich, muß Parin nicht einstimmen. (…)

Parins und seiner Genossen „emotionale Bedürfnisse“ waren von Anfang an „gerade die entgegengesetzten“: „Wir waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. Deshalb war für uns jede Heimat zu eng und die Verpflichtung auf eine Linie eine Fessel.“ (…)

Den Preis für ein Leben ohne Rückhalt, ohne Verankerung in herkömmlichen Strukturen hat Parin gelassen, oft, so scheint es mir, freudig gezahlt: Leben in einer Art Randexistenz, die mir allerdings bei Goldy und Paul Parin – nur gemeinsam sind sie seit über fünfzig Jahren zu denken – zum Verwechseln ähnlich scheint mit Glück.

Detailfülle und Anschaulichkeit der Erzählungen

Das Glück in den Zeiten von „Zwängen und Regressionen, die das Individuum verkrüppeln und verstümmeln“: daß man Parins Arbeiten auch unter diesem Gesichtspunkt soll lesen können!

Nie hätte ich erwartet, daß ein Wort wie Glück in dieser Rede erscheinen werde, lange ist es her, so kommt es mir vor, daß ich es überhaupt habe denken können. (…)

Eben deshalb verfolge ich die Erzählungen Parins mit solcher Spannung, weil, was immer sie an „Stoff liefern mögen – und sie liefern eine Menge interessanten Stoff in großer Detailfülle und Anschaulichkeit -, doch ständig als Untertext die Suche nach einer tieferen Erfüllung mit-läuft, für die die äußeren Ereignisse nur der Anlaß sind.

Das fängt früh an. Die Sehnsucht des Jungen nach Freundschaft ist stark, der Sohn eines jüdi-schen Gutsbesitzers in Slowenien lebt von möglichen Kameraden isoliert, das soll ein Ende ha-ben: „Noch bevor ich vierzehn war, beschloß ich, die schäumende Savinja, die durch ihr Schotterbett im breiten Tal unten dahinströmte, mit meinem Boot, das ich „Vrag“, den Teufel, genannt hatte, zu befahren, um einen Freund zu finden.“

Ein uraltes Motiv, ein klassisches Epen-, Sagen- und Märchenmotiv, dessen mythische Un-terströmung den Jungen ganz zwanglos, so scheint es, zu jener Begegnung mit dem „braun-gebrannten und schlanken Geschöpf hintreibt, das, aus der Welt der Undinen auftauchend auf einmal in einem Wasserwirbel mit ihm spielt und, anstelle des gesuchten Freudes, das geheimnisvolle Ziel all seiner Wünsche wird; das mit der Zeit zwar einen Wohnort und einen Namen bekommt: Wanda, die Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers, deren Schicksal aber geheimnisvoll bleibt und für ihren Verehrer sogar die Rolle des möglichen Retters bereit hält -eine Tat, die ihm dann doch nicht abverlangt wird, was er nach einer Reihe von „Ereignissen, die wegen der unreifen Wünsche, durch die sie verursacht wurden und wegen des beschämenden Ausgangs dem ordnenden Bewußtsein leicht entglitten“, schließlich begreifen muß.

Wie nun diese immer noch von einer Aura des Unwirklichen umgebene Wanda drei Jahre später noch einmal in sein Leben tritt, dann für immer verschwindet und – dadurch? – dem jun-gen Mann den Weg freigibt zu seinem ersten „Tun“ – nämlich Flüchtlingen aus dem von der Deutschen Wehrmacht besetzten Österreich über den nächtlichen Grenzfluß zu helfen – das lese man in dem Slowenienbuch nach und lasse sich gefangen nehmen von der ungewöhnlichen Dichte und Sinnhaftigkeit der Beschreibung, die, wie auch sonst bei Parin, durchsetzt ist von treffenden Sätzen der Selbstbeobachtung – „Tun wir wirklich etwas Neues, tun wir es besser, kehren wir um, an der das Kind nicht weiter wußte und der Jüngling?“ – und von kurzen erhellenden Reflexionen über die politischen Situation. „Wir lebten in einer Zeit, die nicht groß war, aber böse und grausam, in der es vielleicht schwer war durchzukommen, aber leicht zu wissen, was man zutun hatte.“

Ich muß kaum erwähnen, daß ein solcher Satz – und er ist einer von vielen – die Eigenschaft hat, sich festzuhaken und einen Prozeß der Selbstbefragung und Selbstprüfung in Gang zu setzen: Wann hätte er buchstäblich auch für mein Leben gegolten, wann eher seine Umkehrung: daß es nicht besonders schwer war, durchzukommen, aber nicht ganz leicht zu wissen, was man zu tun hatte… Und: wie lange soll es noch gelten, dieses „böse und grausam“: wie lange kann es überhaupt noch ertragen werden? Während bestimmte Bilder in mir aufsteigen, Stimmen zu hören sind, bildet sich in einer anderen Schicht meines Bewußtseins, aufgerufen durch die leicht unwirkliche Figur der Wanda, eine andre Gestalt aus einer viel späteren Erzählung Paul Parins, die der Ich-Erzähler, indem er sie La Gioconda nennt, durch nichts als ein Lächeln charakterisiert, wenn auch durch das berühmteste Lächeln des Abendlandes.

„Der Roman des Mannes, der noch ein Leben fand, nachdem er den sozialen Tod erlitten hatte“, schreibt Parin in einem seltsamen kleinen Vorwort zu dieser nur siebzig Seiten langen Erzählung, „hätte auch mein Leben sein können“. Aber es ist nicht sein Leben. Doch der Reiz, wenigstens auf dem Papier durchzuspielen, wie ein Mann weiterlebt (falls er weiterlebt), nachdem er aus politischen Motiven getötet hat, mag der stärkste Antrieb in dem reichen Beziehungsgeflecht sein, das gerade dieser Erzählung zugrunde liegt: Hatten nicht im Jahr 38 die Zagreber Studenten hitzig als Ausweg aus der drohenden Katastrophe die Möglichkeit debattiert, diesen Hitler umzubringen, ohne zu ahnen und ohne zu erfahren, daß unter ihnen einer war, der dachte, er als einziger könnte, müßte es vielleicht tun, weil er ein ausgezeichneter Schütze war: Paul Parin…

Die Erzählung Noch ein Leben oszilliert zwischen zwei Ichs, dem des Erzählers und dem des namenlosen Protagonisten, den seine Wirtin, die ihn durch Vermittlung der Partei im Zimmer einer Prostituierten unterbringt, „Giorgio“ nennt. Dieses Zimmer liegt in Milano, wohin ich nun, als mein Manuskript bis zu dieser Stelle gelangt ist, zum erstenmal in meinem Leben fahren werde.

Auch diese Stadt werde ich also auf die Weise kennenlernen, die mir die liebste ist, nämlich durch die Augen eines Autors und seiner Figur. Werde mich fragen, ob jener Namenlose sich in einem der Häuser versteckt gehalten hat, an denen wir vorbeigehen; ob ich in einem dieser Häuser das Zimmer finden könnte, in dem der von der Partei zum Töten bestimmte, nun von dieser Arbeit erschöpfte und jedenfalls vorläufig nicht mehr brauchbar Mann auf dem Bett liegt, grübelt, vor sich hindämmert, Anrufe von Freiern jener Frau empfängt, die vor ihm in diesem Zimmer gewohnt hat, die er eines Nachts, mit ihrem besonderen Lächeln, schattenhaft im Spiegel sieht, deren Erscheinen er nun jede Nacht sehnsüchtig erwartet und die jedesmal wieder entschwindet, als sei sie nie dagewesen, so daß der Mann, der nichts mehr fühlen kann als das Ansteigen seiner Fühllosigkeit, zweifeln muß, ob sie eine wirkliche Frau ist oder ein Phantom, das seine bis auf den Grund ermüdeten und zugleich überreizten Sinne ihm vorgaukeln.
Den trockenen, von einer verborgenen Glut durchhitzten Erzählton im Ohr, werde also auch ich auf dem Platz vor dem Dom stehen, dessen schlichtes Innere so überraschend dem überreich verzierten Äußeren widerspricht, werde, wenn auch nicht durch einen Regenguß gescheucht wie der namenslose Mann aus der Erzählung, durch die Galleria schlendern, wo immer noch „alles, was es in Milano gibt“, vorbeikommt, „Statisten in einem Schauspiel, das sie nicht kennen, weil sie Fremde in ihrer eigenen Stadt sind“. Warum geht mir ein Satz wie dieser so nahe, der doch auf andre Menschen, auf eine andere Zeit, auf eine fremde Stadt gemünzt ist, wenn ich ihn abends im Hotel in dem kleinen leichten Büchlein lese.

Schreibantrieb ähnelt Motivation bei Analyse

In einem seiner autobiographisch getönten psychoanalytischen Essays schreibt Parin, der „soziale Tod“ trete ein, wenn die gewohnten Bindungen zerbrechen – viele von uns haben das er-fahren, erleben es heute. Der Namenlose baut sich auch mit Hilfe von Büchern eine Brücke zurück ins Leben; ein sehr merkwürdiger Satz, der nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint, stößt ihn auf den Namen Elio Vittorini; der Mann findet die Gespräche in Sizilien in einer Zürcher Buchhandlung, ich nehme das Buch in Berlin aus meinem Reagl. Ich lese, was damals ganz neu war und heute wieder neu wirkt: von dem „Großen Lombarden“, der sich nur eines wünscht: „ein frisches Gewissen“ zu haben, „eins, das von ihm verlangt, andere Aufgaben zu erfüllen, andere, neue, größere Aufgaben gegenüber den Menschen.“

Parins Namensloser wird zu einem Bruder des „Großen Lombarden“. Er, der in jenem Zimmer der Gioconda reflexhaft einen Mann tötete, dessen Besuch vielleicht gar nicht ihm gegolten hat, der aber zufällig der Oberkiller der Faschisten ist, kann seine innere Erstarrung erst auf der Rückfahrt von Milano nach Zürich auflösen. Erst jetzt, nach so vielen Jahren, kann er sein „Gewissen ganz von dem trennen, was in den Gesetzbüchern geschrieben steht. Auf Gesetze ist einfach kein Verlaß. Dem einen ist es genug, das zu tun, was er muß, damit er nicht ins Ge-fängnis kommt. Für andere ist das nicht genug. Sie wollen mehr, ein richtiges großes Gewissen. Alles soll gerechter werden, womöglich die ganze Welt. Mit dem Gesetz hat das nichts zu tun.“

La Gioconda, die ihm auch in Zürich erscheint und ihn lange begleitet, verschwindet endlich aus seinem Leben, ohne daß das Rätsel ihrer Erscheinung aufgelöst würde. Der Mann sieht sich nun veranlßt, „alles aufzuschreiben“: „Ich fürchte zu vergessen. Ich muß alles einmal ganz korrekt registrieren, damit mein heutiges Leben… nicht durch allerhand Ticks und Son-derlichkeiten gestört wird.“

Mir fällt auf, daß die Schreibantriebe, wenn er sie denn einmal benennt, bei Parin den Moti-vationen zu Beginn einer Analyse ähneln: „Nur anfangs war es anstrengend, sich an den Schreibtisch zu setzen. Jetzt kommen die Erinnerungen wie von selbst, und die Worte fehlen mir nicht.“ Den Schreibtisch mit einem anderen Möbel vertauscht, und wir befinden uns in der typischen Situation einer günstig verlaufenden Therapie. Die lästigen, wohl auch beängstigenden „Störungen“ verschwinden, indem der Mann sich schreibend erinnert. „Das Verfahren hat sich ziemlich bewährt.“

Parin denkt als Psychoanalytiker den Eigentümlichkeiten, Sonderlichkeiten, der Verblendung, den gefährlichen irrationalen Ausbrüchen einzelner, ganzer Schichten und Völker nicht ohne Bedenklichkeit und Vorbehalt nach: Als Praktiker müsse er pessimistisch sein. Ja doch, unsere Trägheit, unsere Feigheit. Die schiere Unveränderbarkeit unseres Unbewußten. Dieser anscheinend unausrottbare Anpassungszwang, auch an unzumutbare Verhältnisse. Und doch, und doch: innerlich freie, oder freiere Menschen seinen kein Hirngespinst; das „geistige Klima“, also Kritik, Opposition, freiheitliche Gesinnung könnten „enorm viel“ ausrichten – woraufhin Parin selbst kräftig und anhaltend dazu beiträgt, ein solches geistiges Klima zu schaffen, Widerspruch und Widerstand, die er dadurch unvermeidlich erfährt, gleich mit analysierend.
Er, der sich scherzhaft einen „moralischen Anarchisten“ nennt, möglichst wenig Macht institutionalisiert sehen will, bleibt, als einem Gebot „radikaler Menschenliebe“, seiner dickköpfigen Überzeugung treu, daß es sich lohne, durch den Zusammenschluß Gleichgesinnter, durch Zivilcourage, unerschrockenes, an die Wurzeln der Widersprüche und Konflikte gehendes Denken „Inseln von Vernunft in einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt“ zu schaffen. – Übrigens: Was sollte man denn sonst auch tun?

Aufbruch, Reise, Abenteurer

Eben bemerke ich, daß ich alles auf die Rückseiten der Druckfahnen meines letzten Büchleins geschrieben habe, jener stark angefochtenen Erzählung mit den Titel Was bleibt, geschrieben mit beharrlich schmerzendem rechten Ellenbogen, der mich auf primitive Weise am Schreiben hindern zu wollen scheint. Allzu durchsichtige Manöver: durch körperlichen Schmerz den seelischen vermeiden oder erträglich machen – eine Taktik, die allerdings im Zeitalter der Textverarbeitungsmaschinen nicht mehr verfängt. Und doch bringe ich es über mich, schon jetzt diesen altmodischen Schreib-Grund mit dem herausfordernd grünlich leuchtenden Bildschirm zu vertauschen, als entstünde aus der materiellen Schichtung übereinandergelagerter Zeilen eine Art Palimpsest, als schlüge die dringliche, immer dringlicher werdende Frage durchs Papier durch und provoziere auf der Rückseite, wo sie auf Parins Sätze trifft, neue Ansätze zu Antwor-ten. Einen neuen Text.

Auch sonst muß ich mich zu abergläubischem Verhalten gegenüber Geschriebenem be-kennen. Zu viele Teufel im Land, Paul Parins Buch über seine und seiner Gefährten Afrikarei-sen, war das erste seiner Bücher, das er mir schenkte – 1984 -, und es war das letzte, das ich gelesen habe. Ich war davor gewarnt worden: Es verfolge einen. Anscheinend traute ich mir in jenen Jahren noch eine Verfolgung durch unlösbare Probleme bis in den Schlaf hinein nicht zu, wich ihr aus, indem ich das Buch nicht las, auf dessen Rückseite steht: „Über Afrika liegt ein Verhängnis. Die liebenswürdigen schwarzen Männer, Frauen und Kinder sind Opfer einer Katastrophe, mit der Europa die Missionare, Soldaten, Händler und Maschinen den ganzen Kon-tient überzogen haben. Und wir selbst sind ein Teil und späte Boten des Greauens, von dem niemand spricht.“

Der Aufbruch in die Fremde, die Reise, das Bestehen von Abenteuern: Immer wiederkehrende Motive bei Parin. Zunächst die Reise ins eigene Unbewußte, die Psychoanalyse als Abenteuer (die Parin übrigens scharf kritisiert, wo sie sich institutionalisiert, ihrem gesellschaftskritischen Auftrag untreu wird), dann der immer neue Aufbruch als Begleiter in die Wirrnis der Seelen der Patienten. Es ist der Weg in die Tiefe, zu den „Müttern“ – ein Gang, bei dem sich in diesem Jahrhundert Psychoanalyse und Literatur immer wieder aufeinander beziehen, auch, so glaube ich, aufeinander angewiesen sind. Dann, auf der Suche nach Lebensformen, die es ihnen ermöglichen sollten, dem Gesetz der weißen Zivilisation, „die für das Wohlbefinden der Men-schen eine so unzweckmäßige Entwicklung nimmt“, ein anderes, autonomes Lebensgesetz entgegenzustellen, sind Goldy und Paul Parin, Ruth und Fritz Morgenthaler „in die Sahara“ ausgewichen, ins Herz der Finsternis, nach Afrika, in den dunklen Erdteil: um die Seele wieder zu weiten, um sich selber deutlicher zu sehen, aber auch, um „das Afrikanische“ in sich zu ent-decken… (…)

Parins Buch von den Teufeln im Land habe ich inzwischen zweimal gelesen, zuerst flüchtig, flüchtend, gewärtig, daß aus den Schilderungen der herzanrührenden Begegnung mit fremdartigen Menschen und Landschaften jederzeit „das Grauen“ hervorbrechen konnte; dann noch einmal, gewappnet mit dem Stift, den Erinnerungsund Assoziationsmustern folgend, die Parin seinen als Reiseberichten getarnten kunstvollen Erzählungen unterlegt hat. So ist ein Gewebe entstanden, aus dessen Tiefe die Mythen der afrikanischen Völker aufscheinen. (…)
Auch hier: Parin schreibt gegen das Vergessen.

Ein Glückspilz

Sein Zorn und sein Schmerz über die Barbarei der Kolonisatoren, die seiner Hautfarbe und Kultur angehören, sind eingeschmolzen in seine und seiner Gefährten Zuneigung und Liebe, in ihre Bezauberung durch den afrikanischen Kontinent, die bei genauerer Kenntnis nur immer intensiver wird und die ihren ganzen Schmerz entfaltet in der Schilderung der Reise nach Tabou, ins Zentrum aller Sehnsucht.
Tabou, ein Ort, den es nicht gibt, dessen Name immer wieder aufleuchtet, lockend, verführend, bis sie sich aufmachen müssen, ihn zu suchen: ein Ort, den man, wie billig, nur unter äußerster Anstrengung aller körperlichen und geistigen Kräfte erreichen kann. Den man „vergessen“ muß, damit er einem endlich „entgegenkommt“, in einem „duftenden Windhauch“. „Wir sahen den Himmel blau zwischen Baumkronen aufleuchten, die Blätter bewegte ein ungewohnter Wind, die Kräuter am Weg wurden spärlich, weißer Sand knirschte unter den Rädern, ein Hügel, eine Biegung des Weges, und vor uns lag weit offen derblaue Ozean, die Brandung, weithin die weißsandige Küste, davor in Hainen wehender Kokospalmen die kleine Stadt Tabou.“
Und auch das gehört zu den Eigenheiten endlich erreichter Sehnsuchtsziele, zu den Gesetzen von Utopia: Was der Reisende dort erfährt, ist eigentlich nichts ganz Besonderes, „nur“ das ge-steigerte Normale, das konzentrierte Menschliche, ein „Licht, das die Zukunft, die dunkle Wol-kenwand, die heraufzieht, von fernher erleuchtet“. (…) allerdings gibt es Menschen mit einer besonderen Begabung, dieses Licht zu sehen, Paul Parin gehört zu ihnen, denn er ist „ein Glückspilz“, das bekennt er frei heraus, seine Mutter hat es vor seiner Geburt gesagt: Ich bekomme einen Sohn , und der wird Glückspilz.

Man muß wohl nicht Psychoanalytiker sein, um zu wissen, daß weder Schicksalsschläge noch Kummer, daß keine Gefährdung, auch die durch Gewissensqualen und Konflikte nicht, gegen eine derartige Vorhersage ankommen; daß dem so Bezeichneten auch die tiefsten Zweifel auf Dauer nicht in Verzweiflung umschlagen. (…)

So kann ich, lieber Paul Parin, Ihre Lebenskunst und deren Ergebnis – Heiterkeit und Sou-veränität – und ihre Schreibkunst, die sich aus diesem Ergebnis speist und zu ihm beiträgt, nur gemeinsam rühmen, und ich muß es für eine glückliche Fügung halten, daß ich Ihnen beiden – Goldy und Ihnen – und Ihren Büchern im richtigen Augenblick begegnet bin, da Sie mir not-wenig waren und sind.

Die hier publizierte Rede hat Christa Wolf Anfang Mai 1992 in Wien gehalten. Paul Parin, von der Autorin ausgewählt, erhielt dort den Erich-Fried-Preis 1992.

Dieser Beitrag Christa Wolfs ist zuvor erschienen in: Roland Kaufhold (Hg.) (1993): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld, psychosozial Nr. 53 (1/1993), S. 119-125. Der Beitrag wurde von Roland Kaufhold für haGalil gekürzt. Wir danken dem Autor und dem Psychosozial-Verlag für die freundlich erteilte Nachdruckgenehmigung.

Die ungekürzte Version dieser Preisrede Christa Wolfs auf Paul Parin kann als Sonderdruck hier erworben werden.