Wachsende Todeslisten und postalische Nöte

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Die ALTE KASERNE in Deggendorf nach dem Zweiten Weltkrieg, Teil IV…

Von S. Michael Westerholz/Deggenau

Kaum hatten die Überlebenden im DP-Camp 7 Deggendorf Kontakt zu ihren meist im Ausland lebenden Angehörigen aufnehmen können, erreichte sie eine Sturzflut von Anfragen nach dem Schicksal von Verwandten, Freunden und Bekannten. Das riss Wunden wieder auf, von denen zum Beispiel Karola und Simon Freimark gehofft hatten, dass sie sich rasch schließen würden. Als „Überbleibsel“ bezeichneten sie sich selbst, stapelten immer mehr Mitteilungen über ermordete nahe Verwandte, auch wenn amtliche Totenscheine natürliche Todesursachen suggerierten:

„Tante Meta, gestorben 1943 an Krebs,

Onkel Hermann, gest. 1943 an Blutvergiftung,

Onkel Moses, gest. 1942 an Hirnschlag,

Ferdinand Müller, gest. 1944 an Altersschwäche,

Verwandte aus Bochum und aus Berlin verschleppt nach Izbica“ –   „G´tt hat uns beschützt, damit wir Euch wiedersehen. Über alle l.(ieben) Verwandten hier in Deutschland, die sich bis jetzt nicht gemeldet haben, mache ich mir wenig Hoffnung“, schrieb Karola Freimark am  10. September 1945.

Die verzweifelte Suche konnte aber auch unerhofftes Glück bescheren: Freimarks Kinder lebten in Philadelphia/USA. Ein Telegramm der Eltern aus Prag, ein zweites aus Deggendorf und auch die gleich nach der Ankunft in Deggendorf geschriebenen Briefe an ihre Kinder kamen dort nicht an. Dann erfuhren sie, dass ihre Theresienstädter  und nunmehrigen Deggendorfer Nachbarn, Ingenieur Johann Steiner (*1877) und Rosa Steiner (*1892) aus Wien, einen Sohn Frank  hatten. Der war ebenfalls in Philadelphia beheimatet, gegenwärtig aber als GI in Deutschland. Er fand seine Eltern in Deggendorf, und im Gespräch zwischen Steiner und Freimarks fiel dem GI ein, dass sein Verwandter  namens Hahn  mit dem ehemals Bochumer Juden  Louis Magaziner zusammenarbeitete. Den kannten Freimarks: Frank Steiner schickte also über die US-Feldpost einen Brief der Freimarks an Hahn, der ihn an Magaziner weiterreichte – und der wiederum kannte die beiden Freimark-Kinder in Philadelphia und deren Adresse! Ein besonders berührender Nebeneffekt war, dass Freimarks und Steiners die Mutter Hahns, Irene, * 1904, und deren Tochter Rita , * 1931, im DP-Camp 7 Deggendorf fanden. Beide waren in Wien geboren und dort auch verhaftet worden, während der Sohn und Bruder bereits in die USA ausgewandert war.


Karola und Simon Freimark 1939 in Bochum (Foto: Mit freundl. Genehmigung von Dr. H. Schneider/Bochum)

 „Nur dem Vergangenen nicht nachtrauern, wir können daran leider nichts mehr ändern. Es lebe das Leben mit G´tt“, resignierte Simon Freimark in einem Geburtstagsglückwunsch an seinen Sohn, als die Liste der Toten noch  länger, das Ausmaß des Völkermords als ein im industriellen Maßstab organisiertes singuläres Verbrechen an den  europäischen Juden  immer deutlicher erkennbar wurde: Julius Freimark  in New York erfuhr von Karola und Simon Freimark, dass seine Mutter Sofie Freimark 1944 nach Polen verschleppt worden war.

Rosel Gottschalk, ihr Mann Erich, Adolph und Lina Gottschalk, Siegfried, Johanna und Ilse Gottschalk waren  in Auschwitz gestorben.

Otto Fromm starb 1941 kurz vor der Auswanderung.

Tante Frieda Gärtner starb am 7. Januar 1945, ihr Sohn, der US-Soldat Bernd Gärtner, fiel am Neujahrstag 1945 in Belgien – die Mutter erfuhr dies nicht mehr.

Kurt Nachmann, Vorsitzender des Zentralvereins der europäischen Juden in Philadelphia, erfuhr über die Freimark-Bekannte aus Theresienstadt und Deggendorf, Anna Valfer (*1900 in Mannheim), Zeitpunkt und Umstände des Todes seiner Eltern, die aus Frankenthal/Mannheim verschleppt worden waren.

Die Freimark-Kinder Steffi und Gerhard („Gerd“) in den USA mussten ihre Freunde Cohn trösten, da deren Vater  irgendwo in der grauenvollen KZ-Welt verschollen war und nie wieder auftauchte. Dann baten die Eltern sie, ihre Freundin Hanna Mischkowski zu trösten:  Deren Vater  Max sei Ende Juli 1942 kurz vor der Verschleppung in Essen gestorben.

Max Heimann, *1885, und seine Frau Meta, * 1890/91, von der Synagogengemeinde Witten verschwanden in Auschwitz (und wurden 1957 für tot erklärt!).

Ida und Lina Freimark waren schon 1942 nach Lublin abgeholt worden.

Die Mitteilungen über Tod und Verderben rissen nicht ab. Wiederholt äußerte vor allem Simon Freimark sich gleichmütig oder verhalten resignativ, sprach scheinbar G´tt-ergeben  vom unabwendbaren Schicksal  –  ein früher mehr aus Gewohnheit praktizierender als wirklich frommer Jude, ein Kriegsbeschädigter, der in der ersten Zeit nach der Befreiung immer noch nicht recht zu begreifen schien, was ihm und den deutschen und europäischen Juden angetan worden war. So deutsch war zum Beispiel Munisch Mautner, dass er seinen Sohn beim glückhaften Wiedersehen anfuhr, wie denn er es fertiggebracht habe, „gegen unsere deutschen Landsleute zu kämpfen?“ Der Sohn rief den Vater in die Realität zurück, die er doch in Theresienstadt nur mühsam überlebt hatte: „Als wir erfuhren, dass sie UNS vernichten wollten, hatte ich keine Hemmungen mehr. Ich musste ja DICH retten!“  In Wahrheit verließ Mautner, Freimarks, auch Margot Friedländer  das Grauen nie mehr, ließen sich die Erinnerungen nicht auslöschen oder irgendwo in ein Hirnkastl einschließen. Umso tragischer waren die Erinnerungen dann, wenn jüdische Greifer sie der GESTAPO ausgeliefert hatten: Margot Friedländer war dies in Berlin passiert! ((Archiv Westerholz aus Leo-Baeck-Institut New York, hier Kopien aller Camp-Zeitungen und der Berichte der einzelnen Selbstverwaltungs-Abteilungen; B. Petschek-Sommer, DEG, Jüdische Displaced Persons in Degendorf 1945 – 1949, in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 20/1999; zu Admiral N. Horthy und seine Staatsyacht DER SPIEGEL Nr. 9/1955.))

Das Grauen der Jahre unter Bochumern, die er einst als Arbeitskollegen, als Nachbarn, als befreundet geschätzt hatte und die ab 1933 immer feindseliger Abstand von ihm und seiner Frau genommen hatten, und seine eigene, sowie die Tragödie der jüdischen Massen in Theresienstadt erklären Simon Freimarks gelegentlichen Hass-Ausbrüche: Zum Beispiel jenen, als er erfahren hatte, dass die US-Militärverwaltung es Deutschen überlassen hatte, zu entscheiden, wann Überlebende auswandern durften: Die US-Einwanderung der Freimarks hatte sich dadurch verzögert! Auch ihren Sohn Gerhard quälte dies. Wie kamen die Deutschen dazu, die Papiere seiner Eltern zurückzuhalten? Hatten die plötzlich Juden gegenüber so feindseligen deutschen Beamten doch  kaum mehr als zehn Jahre zuvor schon seinen Pass lange zurückgehalten, so seine eigenen Emigrationspläne gestört und ihn  schwerst geängstigt! Erst im Januar 1946 schickte Präsident Truman drei hohe Beamte nach Deutschland, darunter erneut den bereits genannten Juristen Harrison. Sie sollten die organisatorischen Voraussetzungen für eine beschleunigte Aufnahme von deutlich mehr DP in den USA schaffen, die Harrison ja schon einmal dringend empfohlen hatte.

Die postalischen Verbindungen waren fragil. Eine amtliche deutsche Post mit Verbindungen ins Ausland gab es nicht mehr. Und die Hilfsbereitschaft vieler Soldaten, die Briefe auf dem militärischen Postweg verschickten, war dadurch begrenzt, dass diese relativ häufig und stets unvorhersehbar versetzt wurden.  Mignon Langnas  empfing erst gegen Ende September 1945 ihren ersten Brief: „25. IX. Peperl, der gute Peperl (Anm. Weiss aus Wien) – bringt einen Brief von Frau Dr. Löwenherz! Der erste Brief an mich -; lieber Gott! Vielleicht ist der Bann gebrochen + ich bekomme bald die langersehnte Post!“

Verzweifelt suchten ihre 1939 in die USA geflohene Schwester Nelly  Eckstein, geborene Rottenberg (1908 bis 1991)und die 1938 in die Schweiz geflüchtete Cousine Hala Dornstrauch geborene Hauser (1894 bis 1979) in Zürich Mignon. Gerüchte besagten, dass sie in Wien, in Prag oder in Theresienstsadt sei. In Wahrheit rang sie im Krankenhaus Deggendorf fast fünf Monate mit dem Tode, war postalisch völlig abgeschnitten. Als Hala Dornstrauch an Nelly Eckstein schrieb, dass „wenigstens Tante Fanny Schleifer/Langnas lebt“,  erwies sich das als tragischer Irrtum: Fanny war 1944 in Auschwitz ermordet worden, ihr Sohn Erwin 1941 im jugoslawischen Lager Sabac!  Der aufmerksame Freund Siegfried Rittberg fand aber die totgeglaubte Fanny, eine Schwester von Josef („Peperl“) Weiss, im Wiener Spital Malzgasse 16. Sie litt an Gelbsucht, erholte sich mühsam von den Jahren in Vernichtungslagern. DP-Camp 7 Deggendorf jubelte wie bei jeder guten Nachricht, und Mignon nahm die frohe Kunde trotz ihres Dauerfiebers von selten unter 400 wahr.

Auch sie konnte eine Anfrage positiv beantworten:  Cousine Hala in Zürich durfte Edith Birnbaum mitteilen,  dass ihre Cousine Golda Luster und deren Sohn Leo („ein prächtiger Junge!!!“)  in Deggendorf leben. Und sie bat Hala, den in Zürich lebenden, ehemals Wiener Arzt Dr. Leo Klein zu informieren,  „dass seine Cousine Irma Königsberger geb. Jurmann hier im Lager lebt. Sie hat sehr viel durchgemacht, ihr Mann ist in Auschwitz vergast. Sie bittet  ihren Cousin, ihr sofort zu schreiben + die Adressen der Angehörigen zu schicken, die in Palästina leben.“

Als sich Mignon Langnas´ Zustand langsam besserte, brachten die Freunde sie hier und da ins Theater, in Filmvorführungen, zu musikalischen und – als Zuschauerin  –  zu Tanzveranstaltungen. Doch wieder und wieder fielen ihr Namen von Ermordeten ein, wartete sie vergeblich auf Briefe ihrer Familie, überwältigte sie die Einsamkeit und die Langweile im Camp.  „Sonntag, 13. I. 1946: Ich sitze allein in meinem düsteren Stübchen, befallen von dem ganzen Schmerz, den dieser Tag an sich birgt, befallen von der Gewissheit, dass Hindzia + ihre Kinder + Sender + seine Familie – und alle, alle nicht mehr  leben. Wie war so etwas nur möglich? Was steckt im Menschen, im Einzelnen, dass er zu so einer Masse werden kann? Warum taten sie das, diese Hunde? Warum?! Ich heule wie ein Kind + kann es nicht lassen.

Wie soll man weiter leben? Wie?

Es ist alles so trostlos – man möchte sich verkriechen, um nie mehr lachen zu hören; weil man sich die Verzweiflung so lebendig vorstellt + die Augen dieser Unschuldigen – . (…)

Heute hat Peperl geheiratet. Gott gebe ihnen Glück (…)

Dann tranken wir Kaffee bei Fannerl, – alles war lieb + schön, – ich war so voll guter Laune, dass ich mir sogar vom kleinen Janek das Tanzen lernen ließ. Sr. Erika war da + Miss Waters -.“ 

Welche Irrwege Briefe und Paketsendungen nahmen, zeigen zwei eklatante Beispiele: Die 1946 in Berlin gegründete „Zeitschrift für Fragen des Judentums“, „DER WEG“, meldete in den Ausgaben Nr. 27 und 28 im August/September 1946 insgesamt 76 in der Redaktion eingegangene Briefe „aus dem Ausland“, konkret aus Palästina, Großbritannien, Australien, den USA, Belgien und Frankreich.  Sie waren an einstige Berliner Juden abgeschickt worden, durchweg Suchanfragen. Ihre Schreiber hofften, die  namentliche Nennung der Empfänger in der Zeitung würden Hinweise auf die Personen bringen. Sieben der Empfänger waren teils mit  Angehörigen zu dieser Zeit im DP-Camp 7 Deggendorf:  Die pensionierte Studienrätin Käthe Breslauer, * 1874 in Berlin, deren drei Jahre ältere Schwester Rosa wenige Tage später in Deggendorf starb, Lucie Stenger, *1893 in Düsseldorf, Gerda, Ernst und Edith Böhm aus Hamburg, Fanny und Gerhard  Böhm aus Breslau, Charlotte Heymann, *1885 in Berlin, deren Verwandte  Karoline, * 1886, und Otto, *1893, aus Dortmund und Thea Heymann, * 1873, aus Köln zu der Zeit ebenfalls in Deggendorf lebten.

Auch Post aus Deggendorf an Hanna P. aus Berlin konnte nicht zugestellt werden. Ihre Freundin Ursula Herking (1912 bis 1974) suchte sie. Diese Kabarettistin und Schauspielerin aus einer sachsen-anhaltinischen Künstlerfamilie war als Ursula Natalia Klein in eine Familie mit vielen jüdischen Angehörigen hineingeboren worden. Seit 1944 war sie  in Prag in einer Rüstungsfabrik zwangsverpflichtet. Als die Sowjets vor Prag standen und Untergrundkämpfer mit der Jagd auf Deutsche begannen, schmuggelten tschechische Freunde Ursula Herking über die bayerische Grenze. Die Künstlerin schlug sich nach Deggendorf durch, wohin sie Monate zuvor ihre beiden Kinder und deren Erzieherin in Sicherheit gebracht hatte. Sie kam hier bei Bauern unter und arbeitete  für ihren Unterhalt auf den Äckern. Schließlich eröffnete sie mit dem Schauspieler und Regisseur Curd Jürgens (1912 bis 1982) in Straubing ein Theater, ehe sie 1946 nach München wechselte. Sie spielte in rund 140 Filmen mit. Ihre Adressatin Hanna P. war entfernt verwandt mit ihr. Und sie hatte als Kosmetikerin, Kostümdesignerin und „Mädchen für Alles“ auf dem Theater gearbeitet und so auch häufig der Herking beigestanden. Als Mignon Langnas vor ihrer Abreise in die USA zur Sicherung ihrer Papiere und des Visums einige Tage nach München übersiedelte, besuchte sie am Jahrtag der deutschen Kapitulation, am 8. Mai 1946, die von Herking mitgegründete „Schaubude“, ein Kabarett. „Habe viel gelacht!“ ((Zu Ursula Herking Gespräch in München, Augustinerkeller, Mai 1972.))

Ebenfalls in „DER WEG“ gesucht wurde die Schwesternoberin Emilie Kranz, * 1897 in Berlin. Die geborene Franz war nach ihrer Eheschließung mit (Professor?) Dr. Kranz in dessen hochherziger Adelheid-Kranz-Stiftung in Oberstetten im Taunus und zuletzt im Jüdischen Krankenhaus Frankfurt am Main tätig gewesen. Sie war mit dem letzten Ärzte- und Krankenschwestern-Transport aus Frankfurt und Hessen zu einem unbekannten Zeitpunkt über Berlin nach Polen geschafft worden, wo sich ihre Spur verlor. Ihr unglücklicher Vater überlebte Theresienstadt, kam in Deggendorf unter, schlug sich dann aber trotz arger Schwäche ganz allein nach Berlin durch.  Hier fand er überraschend seine Tochter Selma wieder. Die hatte mit ihrem Mann, dem Raumausstatter- und Malermeister Weidner, unverzüglich ein neues Malergeschäft eröffnet.  Emilie Kranz blieb verschollen.

Aus Deggendorf nach Berlin durchgeschlagen hatten sich auch Fritz Heymann aus der oben genannten Familie, und Käte Kaiser, eine geborene Levy. Sie hatte den Ehemann, die Eltern, Geschwister und Verwandten verloren und verlobte sich nun mit dem ebenfalls mit knapper Not überlebenden Fritz Heymann.

Ein zweites Beispiel für die postalischen Nöte kam aus dem DP-Camp 7 Deggendorf selbst. Am 5. März 1946 hatten vier Mitarbeiter des „Jewish Committee“ die Unterabteilung „Post“ überprüft. Alle vier Mitglieder dieser Abteilung waren angetreten: Dr. Erna Sonnenberger, 1892 in Köln geborene Muskat, der Berliner Verleger und Journalist Richard Ehrlich, * 1888 in Rogasen, Rebekka Morgenstern, *1924 in Lodz, und  Adam Stern, *1915 in Warschau. „Der allgemeine Eindruck war, dass alle Arbeiten bei uns ordnungsgemäß durchgeführt werden. Es wurde uns jedoch bekanntgegeben, dass in Regensburg  große Mengen unzustellbarer Pakete liegen, auf denen zwar ein Absender, aber kein Empfänger vermerkt ist. Es dürfte sich daher empfehlen, von unseren Campinsassen eine Aufstellung derjenigen Verwandten und Freunde mit Adressenangaben einzufordern, von denen sie Pakete erwarten. Dieses Adressenmaterial soll einem Vertreter unserer Gruppe in Regensburg übergeben werden, damit er die für Deggendorf bestimmten Pakete feststellt und übernimmt.“

Auch in München lagerten zahlreiche Pakete. Darum wurde vorgeschlagen, aus der Deggendorfer Wirtschaftsabteilung Vertreter nach München zu schicken, die dort helfen sollten, den Rückstand aufzuarbeiten und unzustellbare Pakete in die Donaustadt mitzunehmen. Pakete, die in Deggendorf lagerten und nicht zugestellt werden konnten, sollten indessen nach einer Karenzzeit  der Fürsorge zur Verfügung gestellt werden.

Zu denen, die Pakete vor allem in der Anfangszeit der Camp-Selbstverwaltung und der Postumwege über hilfsbereite US-Soldaten nicht regelmäßig bekamen, gehörte Louis Rosenberg aus dem Siegerland. Dass er überlebt hatte, lasen die Angehörigen erst im September 1945 im New Yorker „AUFBAU“. Sein Sohn Willy in Palästina bemühte sich um den Vater, die in die USA entkommenen Brüder und sonstigen Verwandten schickten Pakete: Kleidung, Schuhe, Körperpflege- und Hygieneartikel, teure und seltene Lebensmittel. Fünf Pfund pro Woche waren erlaubt.  Dass da manche Sendung nicht ankam, betrübte die Spender. Denn, so klagte  Sally Rosenberg aus Middle Village im US-Staat New York, dass er bereits seit mehr als sechs Jahren nachts in einer Fabrik arbeite und zwar von 7 Uhr  abends bis 7 Uhr morgens“, womit  er nur zehn Dollar verdiene. Ungefähr so viel kostete auch jedes Paket! Sally Rosenberg galt in der Familie und im Freundeskreis als gutmütiger, hilfsbereiter Mann. Deutschland hatte er aber in weiser Voraussicht kommenden Unheils verlassen und sich schon vor dem Ende des Krieges in seinen schlimmsten Ahnungen bestätigt gesehen. Jetzt aber verschwanden Postsendungen. Und es erwies sich, dass sowohl Helfer der alliierten Besatzungstruppen, als auch viele Deutsche in den Häfen Bremerhaven und Hamburg sowie in den Post-Verteilerstellen zahllose Pakete verschwinden ließen, deren Inhalt alsbald auf den Schwarzmärkten landeten. Sally Rosenbergs am 3. September 1946:

„In Bremen sind 24 Diebe festgenommen worden, die Liebespakete von hier im Hafen gestohlen haben, einer ist dabei erschossen worden und einer verletzt, ich hoffe, dass jetzt Deine Pakete ankommen. Bis jetzt hast Du uns von 11 abgesandten Paketen vom 12. Januar ab erst 4 Stück avisiert, es tut uns bitter leid, dass verruchte Hände Euch Ärmste der Armen so bestohlen haben.“ ((Zu Sally und Louis Rosenberg  Briefsammlung von Pia Rosenberg/Dänemark in der Übersetzung von G. Stockschlaeder, Gebhardshain, ferner tel. Gespräch mit E.-H. Zöllner/Betzdorf am 1. Juli 2011.))

Am  5. Oktober 1946 hatten Karola und Simon Freimark noch wie atemlos und in Angst, dass der Kontakt mit ihren Kindern wieder abreißen könne, geschrieben:  „Alle unsere Bochumer, Münchner, Altenstädter l(ieben) Angehörigen, 16 Personen, wurden durch diese Henker  umgebracht. Deshalb, wie es den Deutschen noch geht, geht es ihnen noch zu gut.“ Am 12. Januar 1946 schrieb  Simon Freimark: „An ihren Adolf werden sie hofftl. 100 Jahre denken, wenn auch die Mehrzahl jetzt die Faust in der Tasche macht.“  Mittlerweile war die beurkundete Zahl der Toten seiner Familie auf 21 gestiegen. Und obzwar sein Vater brieflichen Kontakt zu einstigen Mitbürgern in Bochum hielt, blieb  Gerhard Freimark in Erinnerung, dass sein Vater später die Meinung vertrat, die (internationalen Nürnberger) Gerichte seien nicht hart genug gegen die Deutschen vorgegangen.

Seine gelegentlichen Wut- und Hassausbrüche machten Simon Freimark jedoch nicht egoistisch: Bochumer Nachbarn, die sich anständig verhalten, durch Bombardierungen Haus und Firma verloren hatten und nun Hunger litten, schickte er Lebensmittel-Pakete. Und er zögerte nicht, deren Mut und Mitmenschlichkeit in den dunkelsten Jahren der Judenverfolgung öffentlich zu würdigen. Als er und seine Frau erfuhren, dass der aus Nürnberg stammende Kunsthistoriker Dr. Justus Bier von der Universität Louisvillle/Kentucky verzweifelt nach seiner Mutter suche, für die er schon eine Visumnummer als Voraussetzung für eine Einreisegenehmigung in die USA habe, schrieben Freimarks  über mehrere Kanäle an ihre Kinder: „Schreibt ihm, sie ist gesund & mit uns in Deggendorf!“

Gleichzeitig verschärfte die Erkenntnis, dass selbst diese Minna Bier (* 10. September 1874),  Mutter eines so berühmten Menschen wie Justus Bier, von den Deutschen nicht verschont worden war, den Hass. Bier hatte noch in Nürnberg alle Aufnahmen der Dürer- und Riemenschneider-Bilder reproduziert, erzählte die stolze Mutter ihren Nachbarn im DP-Camp. Beide Ausnahmskünstler hatten die Nazis als deutsche Idole  für ihre abstruse „Volkstums“-Ideologie vereinnahmt. Justus Bier war als akribischer Kunsthistoriker genehm, als Jude jedoch todeswürdig gewesen.

***

Einschub. Justus Bier war 1899 in Nürnberg geboren worden. Schon 1930 bis 1937 hatte er als  künstlerischer Leiter der Kestner-Gesellschaft in Hannover dem allgemeinen Verständnis für die moderne Kunst die Wege geebnet. Er war damit früh ins Fadenkreuz der Nazis geraten. Ungeachtet deren Angriffe auf die „entartete“, zunehmend  auch als „jüdische  Entartung“ diskreditierte  Kunst der Moderne hatte Bier damit begonnen, ein „Museum für das vorbildliche Serienprodukt“  aufzubauen, ein Vorgriff auf die Würdigung herausragenden Designs in der Gegenwart. Dass dieser vielgeschmähte jüdische Deutsche damit  einen Bogen von der historischen Gestaltung handwerklicher  Alltagsgegenstände zur  trotz industriellen Massenproduktion künstlerischen Innovation  schlug, ging tumben Nazis nicht auf.

Schon 1925 hatte sich Dr. Justus Bier mit den ersten beiden Bänden seiner Tilmann-Riemenschneider-Biographie den Ruf des Riemenschneider-Wissenschaftlers par exzellence erworben. Er festigte und krönte ihn mit den Bänden 3 und 4, die 1973 bzw. 1978 erschienen –  ein bis heute unübertroffenes Standardwerk. 1937 hatte Dr. Bier die Flucht in die USA antreten müssen. Zunächst an der Uni in Kentucky, wechselte der Professor 1961 an die Universität in Raleigh, North Carolina. In dem wunderschönen Städtchen Raleigh starb er 1990. ((Mutter und Sohn Bier vergl. Adressenliste des DP-Camp 7 Deggendorf vom 1. 1. 1946 und WIKIPEDIA, zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2011; Rosenberg wie oben 3; Friedländer und Langnas  in  Versuche, dein Leben zu machen, Rowohlt Berlin, 2008 und  E. Fraller/G. Langnas: Mignon, StudienVerleg Wien, 2010, wie diese wiederholt zitiert: H. Schneider (Hg.): Es lebe das Leben… Die Freimarks aus Bochum…, Klartext-Verlag Essen, 2005.))

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Trotz Eingewöhnung  –  das Ziel blieb die Auswanderung

Empfindungen tiefster (Mit-)Trauer  ob des Elends und der bitteren Erkenntnisse am Kriegsende wechselten bei der Wienerin Mignon Langnas  mit Schuldgefühlen angesichts des eigenen Überlebens, mit Hass-Stimmungen und solchen schierer Lebensfreude. Verständlich, dass sie hoffte, schnell zu ihrem Ehemann und den beiden Kindern in die USA gebracht zu werden, denen die Flucht gelungen war. „Ersatzfamilie“ waren ihr in der Deggendorfer Zeit die einstige Arbeitskollegin vom Wiener Kinderspital, Käthe Stux  samt deren  überlebenden Eltern, und gemeinsame Freunde aus Wiener Tagen und dem Theresienstädter Elend, Fanny (* 1919) und Peperl Weiss (*1910).

Menschen wie der aus Hamm an der Sieg stammende Louis Rosenberg (1875 bis 1953), brauchten  lange, um  aus ihrer  Traumastarre ins Leben zurück zu kehren. 1,53 Meter klein, zierlich, bei der Befreiung 60 Kilogramm leicht, war er unter dem zunehmenden Verfolgungsdruck aus seinem Wohnort Betzdorf nach Siegen  umgezogen. Dort war er am 26. Juli 1942 festgenommen, nach Dortmund transportiert und  von der GESTAPO mit der Nummer X/1  708 in einen Zug gesetzt worden. Er war nach 26 Stunden in Theresienstadt angekommen. „mit viel Gepäck, welches angeblich für die Bombengeschädigten in Deutschland beschlagnahmt wurde.“  Wie eine Mehrheit typischer, obrigkeitshöriger  Deutscher, die ein unauffälliges Leben verbrachten, schrieb er am 20. Januar 1946

„An das Bürgermeisteramt

Hamm a. d. Sieg

Hierdurch bitte ich höfl(ichst) um gefl(issentliche) Übersendung eines Geburtsscheines. Ich bin am 20. 7. 1875 als Sohn von Meyer Rosenberg dort geboren. Eine Gebühr von RM 2,- füge ich diesem Antrag bei. Sollte diese Gebühr nicht ausreichen, so bitte ich den Mehrbetrag durch Nachnahme  zu erheben.

Hochachtend

Louis Rosenberg

Camp Deggendorf a. d. Donau
Nieder Bayern“

Der Brief ging am 1. Februar 1946 im Rathaus Hamm ein, die Urkunde wurde ausgestellt und am 5.Februar 1946 abgeschickt, „der überzählige Betrag von 1 Reichsmark K(urzer) Hd.( = Hand) dem Brief nach Deggendorf beigelegt“ . War der Standesbeamte immer noch der der vergangenen zwölf Jahre? War auch er einer der Deutschen, die in vollendeter Opportunität nichts gesehen, gehört und gesprochen hatten? Schämte er sich oder verdrängte er bereits? Jedenfalls fand er für den überlebenden Rosenberg kein freundliches Wort,  fiel ihm keine Frage nach dessen Ergehen während dreier KZ-Jahre, keine nach dem Schicksal der Familie und weiterer Juden aus dem Siegkreis ein. Dabei war er nach dem Wissensstand des engagierten Forschers Ernst-Helmut Zöllner vom Verein Betzdorfer Geschichte  „der einzige überlebende Betzdorfer Jude und einer der ganz wenigen der gebürtigen Hammer Juden.“

Noch im Juli 1933 hatte die Gemeinde  mit Unterschrift des Polizei-Kommissars Schneider ein Polizeiliches Führungszeugnis für den 1914 geborenen Kaufmann Willi Rosenberg ausgestellt und diesem Sohn von Louis bescheinigt, „dass er sich immer einwandfrei betragen hat“   und weder je verhaftet, noch bestraft wurde. Am 1. September 1936 hatte überdies der Landrat des Kreises Altenkirchen, der NS-Mann Dr. Gorges, unserem Louis Rosenberg das 1934 von Reichspräsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ zur Erinnerung an den Weltkrieg 1914/18 überreicht. Das hatte übrigens auch der Kriegsbeschädigte Simon Freimark erhalten – und ebenso wie sehr viele Juden geglaubt: „Die Nazis mögen ja schreien. Aber uns Frontkämpfern tun sie doch ganz gewiss nichts“ – eine Überzeugung, die sehr viele Juden das Leben kostete. Und die zum Beispiel auch der 1920 in Deggendorf geborene, später in Jerusalem lebende  Felix Ephraim Scharf nie mehr vergessen sollte.

Die Eheleute Karola und Simon Freimark aus Bochum, Ingenieur Johann und seine Frau Rosa Steiner aus Wien, Salo (*1883), seine Frau Erna (1893) und ihre Tochter Lore Stein (*1924), die zuletzt in Hagen/Westfalen gelebt hatten, Louis Rosenberg, Dr. Richard Treitel, Berta (* 1903) und Heinrich Baehr (* 1897) aus Köln, der Berliner Max Abraham (* 1902), Abram Apelker (*1912), der in jenem Landsberg am Lech gelebt hatte, in dessen Gefängnis Adolf Hitler sein Buch „Mein Kampf“ geschrieben und darin nicht verschwiegen hatte, was er unter anderem gegen die Juden plante und schließlich auch vollstreckte, Rosa Apfelbaum (* 1899) aus Wien, Hilde Geisenheimer (* 1924) aus Köln, Margot und Adolf Friedländer aus Berlin genossen anfangs durchaus „das Kleinstädtchen Deggendorf, idyllisch am Rande des Bayerischen Waldes an der Donau gelegen.“

Mignon Langnas schrieb am 12. Oktober 1945: „Deggendorf ist ein ganz entzückendes Städtchen – lauter Villen, keine einzige Fabrik, Wälder, Wiesen + Berge ringsherum, mitten drin – die Donau. Halinka, ich habe die ganzen 7 Jahre kaum einen Baum gesehen + immer habe ich davon geträumt, einen Ausflug zu machen! Manchen Sommertag war das so qualvoll – diese Sehnsucht nach ein bisschen Grün – dass ich dabei war, den Stern zu verdecken + hinauszufahren – der Gedanke an Leo + die Kinder hielt mich sofort von diesem Vorhaben an, wusste ich doch, dass ich diesen Ausflug mit dem Leben bezahlen müsste – wär ich dabei  ertappt´— Und jetzt freue ich mich mit jedem Grashalm + jedem Sonnenstrahl – freue mich doppelt, weil ich ja gar nicht mehr hoffte, je wieder die Sonne zu sehen (…) Und dann erzählte mir die Amerikanerin (Anm. Miss Waters!), wie unsere Leben im Lager erleichtert + verschönert werden soll: die Strohsäcke werden gegen Matrazen eingetauscht, sie werden bemüht sein, uns Heizmaterial zu beschaffen + auch das Essen soll besser werden. Es werden schöne Abende veranstaltet, mit guter Musik + schönen Vorträgen, kurz: es wird alles geschehen, um die Wartezeit erträglich zu gestalten. Da auch Reisen im besetzten Gebiet genehmigt werden, werden sich auch hier verschiedene Möglichkeiten bieten (München, Nürnberg, – auch Salzburg) – ich muss nur gesund sein. – Auch das wird werden. Und wenn Post von Euch kommt – ach, dann wird alles schön + gut! Da werde ich nicht mehr zappeln + weinen.“

Schlimm war, dass in dieser Zeit schon die meisten Menschen im DP-Camp 7 Deggendorf  Post bekamen, Mignon Langnas aber so gut wie nie. In ihren Fieberfantasien erlebte sie das als Strafe, weil sie ihren Mann und die Kinder allein in Sicherheit geschickt hatte. Sie träumte von Freunden, die sich ihr mit Post näherten, aber dann lachend verschwanden. In der Realität landete ein Brief der Sophie Löwenherz aus Prag bei ihr. Erna Patak hatte einst in Wien den Kontakt hergestellt. Jene Patak, geborene Eisenmann (1871 bis 1955), die ein Erholungsheim in Wien besessen und sich als Präsidentin der zionistischen Frauengemeinschaft Österreichs große Verdienste erworben hatte. Nachfolgerin war 1928 ihre Freundin Sophie Löwenherz gewesen, eine mutige Frau, die 1934 auch noch Präsidentin des jüdischen Frauennotdienstes geworden war. Mignon Langnas liebte sie, weil sie sich bis zum letzten Augenblick um sie und die jüdischen Kinder und Senioren in Wien gekümmert hatte – dabei hätte auch sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können.

***

Einschub: Sophie Löwenherz  geborene Schönfeld (1891 bis 1981) war die Ehefrau von Dr. Josef Löwenherz (1884 bis 1960), Jurist und Amtsdirektor der Jüdischen Kultusgemeinden. 1938 hatte er eine ebenso schmerzhafte wie demütigende erste Begegnung mit Adolf Eichmann  in Wien: Der Verbrecher ohrfeigte Dr. Löwenherz, der in seiner von den Nazis bestimmten amtlichen Eigenschaft der Verbindungsmann zwischen Nazis und Juden wurde, sich aber unendliche Mühe gab, mehr Auswanderer in Sicherheit bringen zu lassen, Menschenleben zu retten – bei einer offiziellen Untersuchung seiner Rolle gleich nach dem Krieg in London wurde er als „positiver Kollaborateur“ von allen Anschuldigungen und Verdächtigungen freigesprochen. Sein Stellvertreter war  Bibliothekar und Rabbiner Benjamin Murmelstein (1905 bis 1989) gewesen, seine Vertraute aber Ehefrau Sophie Löwenherz. Mit Herz und Verstand und mit dem Mut einer Löwin reiste die nach Prag, wo die Sowjets ihren Mann Josef nach dem Ende des Krieges in Haft genommen hatten und als Handlanger der NSDAP anklagten. Dabei hatte Dr. Löwenherz ebenso wie seine Frau Sophie gleich  nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches damit begonnen, die Überlebenden in Sicherheit zu bringen. Sophie Löwenherz erreichte die Freilassung ihres Mannes – und kümmerte sich wieder um ihre Schützlinge.

***

Dass über Erna Patak in Wien, den zwischen der Schweiz, England, den USA, Österreich  und Deutschland pendelnden Eheleuten Löwenherz und der Züricher Cousine Hala postalische Kontakte hergestellt werden konnten, freute Mignon Langnas außerordentlich:  Jetzt erfuhr sie Neuigkeiten über ihren Mann und die Kinder, fürchtete, die Kinder würden sie gar nicht mehr erkennen, flippte aus, als endlich auch Fotos zugeschickt wurden. „… ich weiß noch nicht, wie das Leben zu ertragen sein wird. Arglos heiter  – wird man wohl nie mehr sein können, aber in mir ist jetzt – so der liebe Gott mir das Leben wieder gegeben hat – ein solches Wollen, ein solches Hoffen, das es  wird gehen müssen!

8. November 1945, Camp Deggendorf: „Bekam soeben einen geliebten Brief von Leo + den Kindern! Hurra! Hurra!!! Bitte versuche über Paris zu schreiben.“

20. November 1945, Camp Deggendorf (an Cousine – je nach Stimmungslage Hala, Halinka, Halus,  Haluslenka, Haluschka genannt – in Zürich): „Von Dir bin ich seit Wochen ohne Post. Bitte, schreibe, oft + viel.“

10. Februar 1946, Camp Deggendorf, an Halinka: „Ein Morgenrock wurde mir von einer Dame aus Wiesbaden avisiert, – den ihr ein Herr Neuburger für mich gegeben hat. Für alles: Tausend Dank. Ich bitte Dich, schreib mir oft + viel (…) Von meinen Lieben habe ich gottlob jede Woche Post.“

Deggendorf und die von ihr und anderen Insassen des DP-Camps 7 Deggendorf  als besonders reizvoll empfundene Donau-  und die Bayerwaldlandschaft waren  ihr mittlerweile so ans Herz gewachsen, dass sie sich zu Wanderungen aufraffte: Um die Stadt herum, die sich über mehrere Hügel ausgedehnt hat, denn „nur in der Natur finde ich Ruhe. Heute war ich mit Frau Goldberg  (Anm.: Unter zehn Goldberg in Deggendorf waren drei Frauen: Eli, Else und Ernestine. Eli, * 1923,  Jakob I., * 1919, und Sigmund, * 1921,  stammten aus Oswiecim,  Abraham, * 1913, und Ruben, * 1910,  aus Lodz, Else, * 1893, und Harry, * 1931 aus Wien, Ernestine, * 1878 aus Breslau,  Jakob II. * 1906 aus Klobukow , Leon, * 1929, aus Warschau, Olga Goldberg, * 1875, aus Köln) am Ulrichsberg. Unvorstellbar schön ist diese Landschaft hier.“  Sie wanderte auch in den Grenzdörfern zur Tschechoslowakei: Zwiesel, Eisenstein, sehnte sich nach Wien und den Gräbern der Eltern und ihres ersten Kindes Erika, wagte aber diese Reise nicht. „Ich habe mir den Frieden so anders vorgestellt – Grenzen, überall Grenzen .“

Schließlich wurde sie mit 15 anderen Frauen für zwei Wochen im fränkischen Hilpoltstein einquartiert, in schönen Wohnungen, bestens versorgt. Und die Frauen erholten sich hier in einer ebenfalls wunderschönen Landschaft im Hinterland Nürnbergs  und vor dem Aufstieg nach Ingolstadt  mit Fachwerkhäusern, sehr vielen Mühlen, Burgruinen. Es war, als wäre die Zeit angehalten worden. Der Krieg fern, keine Zerstörungen, Städtchen in einem baulichen Zustand wie im späten Mittelalter, streng evangelisch ausgerichtet – eine nur scheinbare Idylle.

Denn gerade hier in Franken, gar nicht so fern dem „deutschen Jerusalem“ Fürth, hatten die Nazis große Erfolge erzielt, waren mehr jüdische Kultusgemeinden und Synagogen als in den anderen bayerischen Regionen vernichtet, unschätzbare Kultus- und andere Werte im Eigentum erfolgreicher Juden geraubt oder gar zerstört worden. Nirgendwo sonst blieben so viele jüdische Deutsche vermisst, waren so viele ermordet worden. Mignon am 12. November 1945 aus Hilpoltstein bei Nürnberg: „Halinka! Es ist so schön hier! 14 Tage dauert diese Herrlichkeit nur – aber ich erhole mich hier zusehends. Halinka: ich habe ein warmes Zimmer  für mich allein, Zentralheizung, Bad.  Fabelhaftes Essen, Schlagobers, gute Kuchen, + echter Caffeé, – schöne Autotouren + Ausflüge + den großen, großen Trost im Herzen : Euch.“

Ganz zum Schluss, Tage vor ihrer Abreise nach Amerika, besuchten Mignon Langnas und ihre vielen Freunde das Deggendorfer Volksfest. Sie waren glücklich, genossen Ringelspiel, Dünnbier, Autoscooter, „waren ausgelassen wie Kinder“. Doch Gedanken an ihre Zukunft verbanden sie damit nicht, ebenso wenig wie mit Wien (M. Langnas), mit dem Siegerland (Louis Rosenberg), mit Berlin (Friedländer, Dr. Treitel) oder mit Bochum (Freimark). Der endgültige Bruch dürfte innerlich vollzogen worden sein, als die Gruppe der Frauen sich in Hilpoltstein erholte. Ein Jahr noch in Deutschland zu verbringen falle nicht nur ihr, sondern allen schwer, die auf die Auswanderung, meist auf die dadurch mögliche Wiedervereinigung mit der Familie oder lieben Angehörigen und Freunden warteten. Schwer auch darum:  „Nicht nur das Warten + die Sehnsucht, – unser Leben hier ist total zerklüftet. Uns fehlt die Arglosigkeit der Bevölkerung gegenüber + man lebt doch mit ihnen +  will ihnen den Weg zur Einkehr nicht versperren. Aber sie sind so hellhörig – so misstrauisch, dass die anderen wahre Engel sein müssten, um uns zu genügen. Und sie sind nicht einmal Menschen … Der Bevölkerung fehlt jedes Maß an Demut.“

Dennoch gab es Juden, die dorthin zurückkehrten, wo sie Bitteres erlitten hatten. So war eine Frau Hahn nach ihrer Befreiung sofort nach England gereist. Sie fand in Hartford ihren Sohn Arthur, der mit einem Jugendtransport rechtzeitig aus Deutschland in Sicherheit gebracht worden war. Mutter und Sohn kehrten nach Betzdorf im Siegerland zurück. Dort hatte der katholische, aus erster Ehe mit einem Katholiken stammende und darum nicht verfolgte Sohn Hans Hahn  im sogenannten Gerolsteinschen Warenhaus  bereits ein Haushaltwarengeschäft eröffnet. Das Geschäft in einem kurz vor 1900 errichteten Prachtgebäude hatte bis 1939 dem Kaufmann Hugo Herrmann und seiner Frau gehört. Obwohl sich deren katholische Angestellte Franziska Fritz geborene Muhl energisch für ihre jüdischen Arbeitgeber eingesetzt und dem Boykott des Geschäfts  durch SA-Leute widersprochen sowie Schmierereien auf den Schaufenstern verurteilt hatte, mussten die Herrmanns ihr Geschäft 1939 an Anton Metschel verkaufen. 1941 waren die Eheleute Herrmann durch Einnahme von Veronaltabletten aus dem Leben geschieden:  „Unseren Schritt, freiwillig aus dem Leben zu gehen, werden Sie nach allem, was wir seit 1933 erlebt haben, verstehen.“

Hans Hahn war Hausdiener  gewesen. Sein Bruder Arthur baute ein Unternehmen für Heizanlagenbauten auf, in das er auch seinen katholischen Schwager einstellte. Dessen Frau, die Hahntochter  Ilse, hatte mit ihrem Mann zwei Kinder.   Von dieser jüdisch-katholischen Familie lebt niemand mehr in Betzdorf.  Einen vermutlich mit den Hans verwandter Lebensmittelhändler Hahn, vermutlich katholisch konvertierter Jude, verurteilten die Nazis mit untergeschobenen Beweisen als Milchpanscher zu einem Jahr Zuchthaus. In neue Gefahr harter Bestrafung geriet die überlebende Hahn-Mutter dadurch, dass der bekannte Schauspieler und Sänger Kurt Großkurth (1909 bis 1975) als „Hausfreund“ bei ihr einzig. Obwohl zahlreiche Kriegerwitwen   unbehelligt in solchen eheähnlichen Verhältnissen lebten, wollten Denunzianten der Jüdin an den Karren fahren. Vermutlich die Prominenz des Freundes, der in Hamburg, Berlin und bei Gustav Gründgens in Düsseldorf gespielt, in mehr als 50 Filmen unter anderem von  Visconti und Hollywood-Regisseur  Edward Dymytryk mitgewirkt und in großen musikalischen Produktionen gesungen hatte, bewahrte sie vor einer Anklage. Spätestens da muss ihr klar geworden sein, dass die Rückkehr ins Siegerland keine willkommene Heimkehr gewesen war.

Eine reuelose, habgierige  Gesellschaft – mit Ausnahmen

Mignon Langnas hatte sich, als das böhmische KZ sich langsam leerte, von Wien nach Theresienstadt und von dort zurück  nach Wien durchgeschlagen – und  zur Kenntnis genommen, dass ihre Wohnung belegt, ihr Familieneigentum geraubt war und ihr Erscheinen heftige Abwehr  auslöste. Viele jener Überlebenden, die ihre Heimat aufsuchten, erlebten dort, dass angebliche Freunde, die sich als Treuhänder ihrer beweglichen Habe angeboten hatten, nichts mehr herausrückten. Bei Margot Kreuzer-Kleinberger war es eine Fischhändlerin in Hannover: Eine Truhe mit der kostbaren Aussteuer der beiden Kreuzer-Töchter behielt  sie mit der schändlichen Bemerkung: „Hätte ich geahnt, dass Sie überleben, hätte ich die Sachen gar nicht angenommen!“  Hingegen rückte eine Bäuerin nach anfänglicher Verweigerung plötzlich das kostbare Schlafzimmer der Kreuzer-Eltern heraus: Sie hatte im Traum die Angst ihres Mannes gehört, erst aus der Gefangenschaft entlassen zu werden, wenn sie die Möbel zurückgegeben habe. Übrigens kam der Mann wirklich Tage später heim! Dieselben Menschen beteuerten aber unentwegt, von Judenmorden nichts geahnt, von KZ nichts gewusst zu haben! Auch andere wertvolle Gegenstände ihres Haushaltes wurden von vorgeblichen Freunden der einst so gut situierten Familie Kreuzer-Kleinberger nicht mehr zurückgegeben. Oft mit der augenscheinlichen Lüge begründet, selbst alles verloren zu haben.

Anders bei Freimarks. Deren Helfer in Bochum suchten zusammen, was sich aus den Trümmern des eigenen Hauses und der Fabrik eines gemeinsamen Freundes bergen und gebrauchen ließ. Es war freilich wenig. Simon Freimark, der ebenso wie seine Frau fleißig Englisch lernte und innerlich längst auf die Auswanderung  eingestellt war, nahm auch das gleichmütig:  „Alles lässt sich ersetzen, allerdings die Erinnerungen nicht!“

Studienrätin a. D. Käthe Breslauer (* 1874) stand ebenfalls vor den Trümmern ihrer Wohnung im Obergeschoss eines Berliner Hauses. Aber ihren Hausrat hatte der Vermieter zum amtlichen Schätzpreis erworben und sich überhaupt anständig gegenüber den Breslauer-Schwestern verhalten. So auch noch, als diese 1942 in seinem Haus festgenommen wurden. Ohne Scheu war dieser Vater von drei Kindern den Häschern entgegengetreten, eine seltene Ausnahme.

Die Rosenbergs schwankten zwischen blankem Entsetzen und rasender Wut, die sie mit Anzeigen abreagierten, und unerwarteter Freude ob der Treue alter Freunde. Da war der mutige Sozialdemokrat Ernst Nies aus Weidenau, der seinen jüdischen Schulfreunden und Nachbarn stetig offen beistand. Bei einem alliierten Angriff wurde seine Wohnung zerstört, er selbst entkam mit knapper Not. Seine Schwester Marta Nies backte unter Granatenbeschuss Brot und besorgte Mehl für die Familie, für Freunde und für die teils seit Jahren betreuten Armen ihrer Umgebung. Sie schrieb Louis Rosenberg:  „Im April 1946 war er so enttäuscht, dass den Nazis nichts passierte, im Gegenteil feierten die Engländer mit denen Geburtstag, er wollte mit niemand mehr etwas zu tun haben. Er hat sich erschossen. (…) Ich muss ihm recht geben. Denn wenn man sich das Leben hier betrachtet, geht es den größten Halunken am besten.“

Selbst bei dem gutmütigen, hilfsbereiten Sally Rosenberg brach blanker Hass durch,

  • als sich im März 1946 abzeichnete, dass die wieder selbstveranwortlichen deutschen Lokalbehörden  sich bei Vermögens-Rückgabeforderungen restriktiv verhielten;
  • als Louis Rosenberg im Frühjahr 1946 berichtete, dass die Juden in seinem letzten Zufluchtsort Siegen vor ihrer Deportation grauenhaft behandelt worden waren;
  • als Jugendfreund Felix Haubrich (?) sich aus dem Siegerland meldete, ein fanatischer Nazigegner: „Die Hitler-Halunken, die mich früher als Judenknecht und Judenfreund bezeichneten, sitzen hinter Schloss und Riegel oder sind zur Hölle abgewandert, unter anderem auch Zartmann (Anm.: ein von auswärts zugewanderter Nazibonze schlimmster Art, der vor seinem Prozess in Haft starb!), er war doch einer der ersten, der öffentlich aus der Kirche austrat um Hitler zu gefallen…“  Felix aber, früher Mitarbeiter bei den Rosenberg, hatte sich „von einem Nazi-Bonzen einen großen Parteikraftwagen `besorgt´ und bewältigte damit seinen Überlandhandel.
  • Hassgefühle brachen sich bei Sally Rosenberg auch Bahn, als er erfuhr, dass sein ermordeter Bruder Julius vor der Deportation aus Siegen noch grauenvoll gequält worden war – noch verschwieg Louis den Namen des Täters.
  • Zufrieden notierte Sally die Mitteilungen, dass Zartmann aus Kirchen im Gefängnis gestorben war und der Nazibeamte Otto Kasch im Zuchthaus Diez einsaß. Entsetzt war er, dass bekannte Nazitäter, darunter die Brandstifter in der Synagoge in Hamm an der Sieg,  entweder verschwunden oder noch frei waren. Er freute sich über die Festnahme der Kreisfrauenschafts-Leiterin Alfrida Eubell. Dass SS-Mann Dr. Well sich und seine Familie vergiftete, wertete er als Beweis der Feigheit führender Nazis, sich ihrer Verantwortung zu stellen. inweis auf die Feigheit solcher Menschen, sich ihrer Veranftwortung zu stellen.

Dass er wie die meisten seiner Verwandten und Bekannten in den USA nicht reich geworden war, nahm er gleichmütig hin, „bin ich doch glücklich und zufrieden!“ Aber er, der im Siegerland ein sehr vermögender Mann gewesen war, war schwer krank.  „Ja, der Verbrecher Hitler ist an meinem Herzfehler schuld, die schrecklichen Aufregungen in Kirchen haben mir den Knacks gegeben, dazu die lange Gestapo-Haft und alle übrigen Aufregungen.“

Wütend nahem Sally Rosenberg zur Kenntnis, dass Ein bisschen ratlos nahm Sally Rosenberg  die bald einsetzende Bettelei zahlreicher Menschen aus der einstigen Heimat zur Kenntnis: Es ging den Deutschen zu der Zeit noch schlechter als den DP zum Beispiel im Camp Deggendorf.  „Ich werde bald verrückt und zugedeckt mit lauter Briefen aus der Heimat, unmöglich, alle zu beantworten, aus allen spricht Leid, dass wir nicht mehr da seien, so ändern sich die Zeiten, warum ist man nicht eingeschritten, als die braunen Horden schon 1932 sangen, wenn´s Judenblut vom Messer spritzt ….Ja heute hat man Reue, leider ist alles zu spät.“

Aufgeregt rief er im Mai 1947 nach dem Staatsanwalt. Er zeigte Josef Ley aus Siegen an, der Julius Rosenberg drei Wochen vor dessen Deportation bei der GESTAPO denunziert habe:  Julius habe entweder an seinem Wohnzimmerfenster oder an der Haustüre stehend seinen Judenstern nicht getragen. Nach drei Haftwochen sei Julius Rosenberg aus dem Siegener Gefängnis direkt  nach Auschwitz gebracht worden. Das Verfahren wurde mangels Beweises  eingestellt – Hauptzeuge und Opfer Julius Rosenberg war ja tot! Mit Briefen an die neuen Bürgermeister von Hamm und Betzdorf erreichte er immerhin, dass der geschändete Friedhof wiederhergestellt und die geretteten Grabsteine neuerlich aufgestellt wurden.

Neffe Kurt Pese aus Baltimore bat Onkel Louis Rosenberg im Oktober 1946 um eine Kontaktaufnahme mit der Commerz-  und Privatbank in Siegen. „Ich muss mich doch mal über unseres  lieben seligen Vaters Bankkonto erkundigen. Ob man davon jemals etwas sehen wird – wer weiß, aber versuchen werden wir es. Diesen Schw(einen) darf man doch nichts schenken.“  Im schlimmen Winter 1946/47 hatte Louis Rosenberg seinen Kontakt zu der US-Soldatin Marion Pese verloren, weil Straßen nach Deggendorf im Bayerischen Wald kaum passierbar gewesen waren. Da schrieb Alice Pese im März 1947, die Commerz- und Privatbank Siegen behaupte, der Vater habe sein Konto 1941 selbst gelöscht – eine glatte Lüge: Das Nazi-Reich hatte sich der jüdischen Bar- und Spar- und sonstiger Anlagebeträge bemächtigt.  Die Sparkasse Siegen reagierte ebenso.  Louis Rosenberg, der dort ebenfalls Konten unterhalten und sogar im KZ Theresienstadt  wieder ein Sparbuch angelegt hatte, reiste dennoch nicht ins Siegerland. Jugend- und Familienfreund Felix Haubrich  bot ihm an, bei entsprechender Kostenbeteiligung zwei Wochen bei ihm zu wohnen. Doch Louis brachte die Kraft nicht mehr auf. Zu schrecklich war, was ihm angetan worden war. Und dass Bruder Sally wertvolle, oft Lebens-rettende Pakete sogar an ehemalige Nazis schickte, sobald diese ihm mitteilten, dass Kinder oder Verwandte an den Fronten gefallen, bei Luftkämpfen abgestürzt, in den Kampfgebieten vermisst oder bei den Bombardierungen gestorben seien, hielt er in einigen Fällen für falsch. Sally selbst hatte da oft Zweifel:  „Louis, bitte, was hältst Du davon?“

Louis Rosenbergs Nichte hatte aber auch eine gute Nachricht: Die Uralt-Sozialdemokratin und Leiterin der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Marta Nies, hatte ihr mitgeteilt, dass sie 400 Mark von der Mutter sel. A. in Verwahrung habe. Zwar habe die Mutter gesagt, sie dürfe das Geld behalten, wenn niemand wiederkäme, doch wollte sie es zurückgeben. „Sie erwähnte, dass leider noch alle Nazibonzen in ihren Ämtern seien.“ Louis Rosenberg freute die Treue dieser Frau. Auch ihm hatte sie Geld geschickt, das er ihr anvertraut hatte.

Sally Rosenberg erfuhr im November 1946  „von Frau Lodes Onkel Max aus Rosbach (in einem) ausführlichen Brief, der Lump (Steinmetz) Klüser hat noch 12 Grabsteine von unserem Friedhof in seinem Besitz, darunter auch die Grabsteine unserer seligen Eltern, so ein Verbrecher, wie können Menschen so schlecht und minderwertig werden und sich des blöden Mammons wegen zum Grabschänder und Dieb entwickeln. Zur gleich en Zeit geht ein Bericht an das Bürgermeisteramt Hamm, wir verlangen Sicherstellung der Grabsteine und Verhaftung des Klüser.“ Im Januar 1947 informierte er Louis Rosenberg, dass ein Verwandter sich bei dem Steinmetz und auf dem Friedhof umgesehen habe. Der sei entsetzlich verwüstet, einen größeren Terror habe er noch nie gesehen, „wie die Nazi-Vandalen gehaust haben, die alten Steine mit Brecheisen und Hämmern zertrümmert, die Umfassung niedergerissen, und das waren `deutsche Hände´, es ist unfassbar.“ Der Steinmetz saß mittlerweile „fest“, der Friedhof wurde wiederhergestellt, der Steinmetz war bald wieder frei – ein Wunder? Auch die Justiz hatte ja mit minimalen Ausnahmen Kontinuität genossen, aus der Kaiserzeit über die Weimarer Republik mit einem Hauch von Demokratie, die zwölf Terrorjahre des „Dritten Reiches“ hinein in die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Die Mehrheit aller Richter sprach Recht wie politisch gewünscht und bekam hernach von Ihresgleichen Recht!

Mittlerweile hatte sich im Siegerland die Hilfsbereitschaft Sally Rosenbergs herumgesprochen.  Immer mehr Bettelbriefe erreichten ihn. Die meisten beantwortete er mit Paketen, gewann als Spender zahlreiche Verwandte und Bekannte, kontaktierte auch die CARE-Organisation. Nur wenige Briefe ließ er unbeantwortet – wenn ihm die wahre Einstellung der Bettler aus der bitteren Zeit der Judenverfolgung bekannt war. Einige beantwortete er mit deutlichen Worten des Hasses.  Louis Rosenberg stimmte ihm stets zu – bis zu dem Tage, da ein gewisser Goebel sich meldete.

Louis Rosenberg, im Ersten Weltkrieg ausgezeichneter deutscher Soldat,  war Kaufmann im eigenen Textilgeschäft in der Betzdorfer Viktoriastraße gewesen. Ein Kind war früh gestorben. Als sein 19-jähriger Sohn Willy 1933 einen Zug bestieg, um über Frankreich nach Palästina zu fliehen, flehte der Vater ihn an: „Junge, bleib doch hier! So schlimm wird´s doch nicht!“ Doch der Kaufmann Willy Rosenberg war kurz zuvor während eines harmlosen Ausflugs als angeblicher Kommunist verhaftet und in ein Gefängnis gebracht worden. Kaum wieder frei, flog er aus dem Kaufhaus Tietz – einem jüdischen Unternehmen, das später „arisiert“ wurde. Schon 1935 hieß es auf einem Schild am Bahnhof Betzdorf:  „Juden sind in Betzdorf unerwünscht“.

1938  trennten sich Louis und Sabine Rosenberg: Die Frau (* 1884) zog  über Köln nach Lübeck und ist seither verschollen. Tochter Hertha  (*1907) zog ab 1924 über Marburg, Kleve, Oberhauysen, Hachenburg, Wuppertal, Dortmund und Kassel. Dort verschwand sie spurlos. Louis Rosenberg zog nach Siegen zum Bruder Julius. Und musste erleben, dass der genannte Goebel, seit 45 Jahren ein angeblicher Freund der Familie, von ihr wieder und wieder unterstützt, ihm und Julius das letzte Geld nahm, Darlehen schlicht leugnete und  sich mit grauenvollen Gemeinheiten gegen die Rosenbergs bei den Nazis beliebt  machte. In einem Brief vom Februar 1947 tobte Sally Rosenberg, den Louis endlich über Goebels wahren Charakter  informiert hatte:  „Ich versetze mich in Deine Lage (und die des Bruders Julius!) von damals, wenn ich daran denke, wie Euch zu Mute war, , als gerade Julius bester Freund, den man immer so sehr schätzte, Euch diese Niederträchtigkeiten ins Gesicht schleuderte. Aber den von Julius geschenkten Geldbetrag nahm der feudale arische (verflucht sei dieses Wort) Freund an (…) trotzdem es Judengeld war. Und dieser Bursche winselt jetzt wieder um die Freundschaft und will Lebensmittelpakete. (…) Also Louis, Du kennst Dich dorten aus, soll ich weiter Pakete an die Bettler schicken? Jede Woche bekomme ich 3 bis 4 Briefe, die Kette bricht  gar nicht ab.“

Goebel hatte offensichtlich angenommen, die Rosenbergs seien in  KZ ums Leben gekommen. Louis Rosenberg war am 27. Juli 1942 unter der Transportnummer X/1 708 von Siegen über Dortmund nach Theresienstadt gebracht worden. Als er dort nach 26-stündiger Reise eintraf, beschlagnahmte die GESTAPO das erlaubte Gepäck  zugunsten von Bombengeschädigten  in Deutschland –  die letzten Reste seiner einst beachtlichen Habe. Denn am 29. Juli 1942 hatte der westfälische Regierungspräsident  das „kommunistische und Volks- und staatsfeindliche Vermögen des Reichsfeindes Louis (Israel – der gesetzlich verfügte Namenszusatz aller jüdischen Männer!) eingezogen.

Er wurde am 6. Mai 1945 von Sowjetsoldaten befreit und durfte an 13. August 1947 aus dem DP-Camp 7 Deggendorf zu seinem Sohn Willy, der Schwiegertochter (aus Polen) Nusia und den Enkelkindern Rami und Itzchak in Ajeleth Haschachar in Palästina  ausreisen. Er starb dort am 4. Februar 1953, ohne das ihm nach allem erlittenen Elend verleidete Siegerland wiedergesehen zu haben. Er hatte die bürokratischen Exzesse deutscher Nachkriegsbehörden und der Rentenversicherung  noch mitbekommen, die kein anderes Ziel hatten, als ihn so arm zu halten, wie er durch deutsche Schuld geworden war. Sein Sohn Willy besuchte Betzdorf erst- und letztmals 1968, ein erfolgreicher Kibbuznik nahe dem See Genezareth, wo auf 11.100 Hektar damals schon jährlich 5000 Tonnen Zitrusfrüchte, Äpfel, Honig und Baumwolle geerntet und 450 Kühe gehütet wurden.

Was wahrscheinlich Louis Rosenberg selbst gedichtet hatte, traf so nicht ein:

„Wenn wir erst vom Roten Kreuz übernommen,
dann sind wir frei!, sind nicht mehr Knechte,
dann setzt wieder ein die alten Rechte,
erhobenen Hauptes, mit leuchtendem Blicke,
geht´s in die alte Heimat zurück…“
((Rosenberg, Friedländer, Langnas und Freimark wie oben 3 + 4; Sophie und Dr. Josef Löwenherz, ferner Rabbiner Murmelstein WIKIPEDIA, zuletzt aufgerufen am 20. Mai 2011, ferner E. Patak und Löwenherz  MIGNON wie oben 4, S. 480, 481, über Murmelstein M. Kleinberger  : Transportnummer VIII/ 1 387 hat überlet, Piper Verlag München Zürich 2009.))

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