Zwei Gewalten

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Parascha 382. Ansprache für Freitag, den 3. Juni 2011…

Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Der zweite Abschnitt des 4. Buches Mose, der Morgen in der Synagoge vorgelesen wird, heißt „Nasso“, „Erhebe!“ Es ist der längste Wochenabschnitt des ganzen Jahres. Der an Moses gerichtete göttliche Befehl verlangt die Aushebung und Einberufung zum Dienst. Der vorige Wochenabschnitt hatte mit der Musterung der erwachsenen Männer aus den zwölf Stämmen Israels begonnen und mit der Musterung der Priester aus dem Stamm Levi geschlossen.

Dieser Wochenabschnitt fährt mit der Berufung der vier Priestersippen und der Bestimmung ihrer Aufgaben im Heiligtum fort und endet mit der feierlichen Prozession der Gaben der Stammesfürsten für das Heiligtum (Num 7). Obwohl Wehrdienst und Gottesdienst mit dem gleichen Wort: „Zawa“ bezeichnet werden, das im modernen Hebräisch „Armee“ bedeutet, unterscheidet die Bibel die beiden Dienste. Die Priester sind vom Wehrdienst ausdrücklich freigestellt (Num 2,47-49) und widmen sich ausschließlich dem Gottesdienst (Num 3,12-13). Das Gottesvolk braucht zwei Armeen oder, wie man später sagte, zwei „Arme“, einen „weltlichen“, der es nach außen beschützt und einen „geistlichen“, der seine inneren Heiligtümer  behütet (Num 3,7; 34.38). Die gegenseitige Stellung dieser Dienste ist so, dass ein Streit zwischen den beiden Armen, zwischen  „Schwert“ und „Krummstab“, wie er im  Abendland jahrhunderte lang tobte, eigentlich nicht vorkommen sollte. Die Priesterschaft bildet fraglos den Mittelpunkt und die Laien den Umkreis des Gottesvolkes.

In den abschließenden Kapiteln unseres Wochenabschnitts wird uns die Beziehung vorgeführt, die zwischen Zentrum und Peripherie eigentlich erwünscht war. Am Ende des sechsten Kapitels wird der feierliche Spruch angeführt, mit dem die Priester das Volk bis heute segnen: „Es segne dich der Herr und behüte dich. Der Herr lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden“ (Num 6,23-26).

Sodann werden ausführlich die kostbaren Weihegaben aufgezählt, die die zwölf Stammesführer an zwölf aufeinander folgenden Tagen den Priestern für das Heiligtum brachten (Num 7,12-88). Auf diesem Kreislauf von Segen und Geben zwischen den beiden „Armen“ Israels, zwischen dem priesterlichen Zehrstand auf der einen und dem israelitischen Wehr- und Nährstand auf der anderen Seite beruhte der Organismus des Gottesvolkes. Der Historiker und Priester Flavius Josephus nannte diese Ordnung nach dem Untergang im jüdischen Krieg gegen Rom  – „Theokratie“.

Aber auch nach der Zerstörung des Tempels erhielt sich dieses duale Struktur des Gottesvolkes in etwas anderer Form. Nun hatte der Nährstand für die Erhaltung des Lehrstandes zu sorgen. Im Talmud heißt es: „Sämtliche Propheten haben über keinen anderen geweissagt, als über den, der seine Tochter mit einem Schriftgelehrten (Talmid Chacham) vermählt, der für den Schriftgelehrten das Geschäft betreibt und der von seinen Gütern den Schriftgelehrten genießen lässt; was aber die Schriftgelehrten selbst betrifft, so gilt für ihn der Spruch Jesajas: ‚Es hat außer dir, Gott! kein Auge geschaut, was er denen tut, die auf ihn harren‘ (Jes 64,3)“ (bBer 34b). Nach diesem Ausspruch besteht das höchste Glück für den wohlhabenden jüdischen Laien, dem alle weltlichen Güter verheißen sind, in der Unterstützung des Gelehrten, der nur nach himmlischen Gütern strebt.

Für den reichen Juden war es bis in moderne Zeiten eine Ehre, arme Torastudenten an seinem Tisch zu verköstigen, einen Gelehrten zum Schwiegersohn zu bekommen und Stätten des Lernens zu fördern. Der profitorientierte Kaufmann musste das brotlose Toralernen als höheres Lebensziel anerkennen! Aus historischer Perspektive bewahrte das Toralernen das jüdische Volk vor dem Untergang in der Diaspora.

In der Perspektive unseres Wochenabschnitts könnte man auch die theologisch-politischen Konflikte im modernen Staat Israel betrachten. Zwei kämpfende Armeen für den Erhalt des jüdischen Volkes: Eine in grüner Uniform sichert den äußeren Bestand des von Feinden umgebenen jüdischen Staates, und eine in schwarzer Uniform sichert den inneren Bestand des von Assimilation bedrohten Judentums. Ohne die grüne Armee würden den Juden in Palästina und anderswo aller Wahrscheinlichkeit nach wieder physische Verfolgung und Vernichtung drohen; ohne die schwarze Armee würde sich das gelobte Land in ein beliebiges „Konsumparadies“ westlichen Zuschnitts verwandeln und die kulturelle und spirituelle Vernichtung drohen.

In Israel, in der jüdischen Diaspora und in der weiten Welt sieht man diese uralte „Arbeitsteilung“ keineswegs so harmonisch und spricht von „Kulturkampf“. Aus der Sicht des Zionismus ist eine solche Einschätzung auch nicht überraschend, denn der  jüdische Nationalismus war eine ausgesprochen säkularistische, antireligiöse Ideologie. Der erste Ministerpräsident Israels David ben Gurion war zunächst fest entschlossen einen säkularen Staat zu gründen. Doch die Einführung der staatlichen Einheitsschule und der allgemeinen Wehrpflicht scheiterte am Widerstand der „Religiösen“. Sie rangen Ben Gurion einen bis heute geltenden so genannten status quo ab, der unter anderem die Freistellung der Jeschiwa– Studenten vom Militärdienst beinhaltet. Aus der Sicht der säkularen Israelis ist der Nutzen von religiösen Einrichtungen, in denen erwachsene Männer den ganzen Tag weltfremde Studien betreiben, statt das Land zu verteidigen oder auch nur ihre kinderreichen Familien anständig zu ernähren, fragwürdig. In einer Gesellschaft mit einem langen und harten Militärdienst gelten die religiösen Israelis daher schnell als Drückeberger. Natürlich urteilen die religiösen Israelis genauso über die säkularen, die sich vor den harten religiösen Pflichten drücken und stattdessen lieber ein bequemes Leben führen.

Unser Wochenabschnitt lehrt uns, dass im alten, idealen Israel beides – der Gottesdienst und der Wehrdienst, das Heilige und das Profane, in einem organischen Zusammenhang und Gleichgewicht waren und wir hoffen, dass es in Zukunft wieder so sein wird.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr