Sibirien – Eine Kurzgeschichte von Dogan Akhanli aus dem Hochsicherheitsgefängnis

0
43

Der international renommierte deutsch-türkische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Dogan Akhanli wird seit August diesen Jahres in der Türkei in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten – aus politischen Gründen. Der eigentliche Grund seiner Inhaftierung ist sein Buch über den Völkermord an den Armeniern, wie auch sein vieljähriges Engagement gegen Antisemitismus. Ihm droht eine lebenslängliche Gefängnishaft. Am 8. Dezember ist der erste Prozesstag. Im Hochsicherheitsgefängnis hat Dogan Akhanli eine mit „Sibirien“ betitelte Kurzgeschichte verfasst, die sein Anwalt deutschen Freunden übergeben hat…

Von Uri Degania

Am 31.10. fand in Köln eine eindrucksvolle Solidaritätsveranstaltung für Dogan Akhanli statt. Der Kölner Journalist Albrecht Kieser, der die Solidaritätsarbeit für Dogan Akhanli in meisterlicher Weise koordiniert, schrieb über diese Veranstaltung:

„Wenn sich Solidarität und die Gewissheit, füreinander einzustehen, mit Händen greifen lassen, wird auch eine Veranstaltung in kahlen Räumlichkeiten zum eindrucksstarken Erlebnis. So war es am 31. Oktober 2010 im neu eröffneten Rautenstrauch-Joest-Museum in der Kölner Innenstadt. 450 Menschen erlebten in einem bis auf den letzten Platz besetzen Saal ein hochkarätiges 2,5-stündiges Programm, das Mut machte. (…)

Wo es einem Staat an Bereitschaft mangelt, Schutz zu bieten und Gerechtigkeit herzustellen, ergänzte Wallraff, seien ziviler Ungehorsam und widerständige Aktionen gefragt. Sollte sein Freund Doğan Akhanlı im Dezember nicht frei kommen, werde er mit einer spektakulären Aktion die türkischen Behörden daran erinnern, dass Freiheit unteilbar und Menschenrechte universell seien.

In der abschließenden Runde übergaben die jüdische Schriftstellerin Tanya Ury, die Autorin und Schauspielerin Renan Demirkan und der Kabarettist Fatih Çevikkollu ihre „Herzensgrüße” an den inhaftierten Schriftsteller: Tanya Ury brachte ein für diesen Anlass verfasstes Gedicht mit, Renan Demirkan trug mit beeindruckender Mimik und Gestik kurze Texte von Nazım Hikmet bis Kurt Tucholsky vor.

Fatih Çevikkollu hatte mit einer kleinen Geschichte aus dem Kaukasus das Schlusswort: “Ein Mann war an sein Lebensende gelangt und Gott rief ihn zu sich. Doch er zeterte und schrie und wollte nicht. Gott gab schließlich genervt nach und fragte den immer noch Keifenden: „Nun beruhige dich! Sag mir, was du willst und was ich dir gewähren soll. Mit der Hand raffte der Mann eine Handvoll Sand vom Boden, hielt sie Gott vor die Nase und rief: „Gib mir so viele Jahre, wie ich Sandkörner in der Hand halte! Nein, antwortete Gott ihm geduldig, „das ist zu viel, du übertreibst. Such dir etwas anderes. Der Mann blickte hektisch um sich, sah einen Baum und forderte: ‚Gib mir Lebensjahre in der Zahl der Äste dieses Baumes! Wieder schüttelte Gott den Kopf und mahnte den Mann zur Bescheidenheit. `Sag mir´, schlug er ihm vor, `wie viele Freunde du hast. Freunde, verstehst du? Wirkliche Freunde. So viele Jahre will ich dir dann geben. Tot fiel er um, der Mann, in diesem Augenblick.´

Fatih schaute in die Runde und schloss seine Parabel mit den Worten: „Doğans Leben wird sicherlich lange währen. Die Zahl seiner Freunde ist jedenfalls ein sicheres Zeichen – und ein gutes.”

SIBIRIEN

von Doğan Akhanlı

Endlich bin ich in Istanbul, bin aus dem Flieger ausgestiegen und gehe zur Passkontrolle. Ein wenig aufgeregt bin ich auch. Beinahe 20 Jahre ist es her, dass ich zuletzt hier war. Ausgestiegen bin ich als erster, aber ich verlangsame meine Schritte, um nicht als erster an der Kontrolle zu sein.

Ich zeige meinen Pass vor. Mein Personalausweis ist ebenfalls in der Tasche. Vorzeigbereit.

– Doğan Bey, haben Sie auch Ihren türkischen Ausweis dabei?, fragt mich der Beamte, der meinen Pass am Computer überprüft.

– Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger. Aus der türkischen Staatsbürgerschaft hat man mich rausgeworfen.

– Nein, efendim. Man hat Sie sicher nicht rausgeworfen. So etwas gibt es nicht. Man wird nicht aus der Staatsbürgerschaft rausgeworfen.

– Ich schon. Offiziell. Mit dem Urteil des Ministerrats. Vor 12 Jahren.

– Unmöglich. Das nennt man nicht Rauswurf, sondern Verlust, Verlust der Staatsbürgerschaft. Wie Geld. Wirft man Geld raus? Man verliert es. Genauso. Werfen Sie Ihr Geld raus? Nein. Sie verlieren es. Sie werden Ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Sind Sie dann und dann geboren?

– Ja.

– Und Sie stammen von da und da?

– Ja.

– Dann müssen Sie mit uns kommen. Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor.

Mein Freund, der mich vom Flughafen abholen wollte, ruft übers Handy an. Ich sage ihm, dass ich festgenommen wurde. Der Beamte greift nicht ein. Früher hätte er es.

Auf der Polizeistation ist ein Tohuwabohu. Wieder einmal hat eine betrügerische Firma potentielle Pilger nach Strich und Faden betrogen und im Stich gelassen. Jede Menge Pässe fehlen. Die Beamten sind verdrossen. Einer von ihnen macht die Pilger zur Schnecke.

– Menschenskind, hat euch diese Firma nicht schon letztes Jahr im Stich gelassen? Und vorletztes Jahr auch, oder nicht? Warum fallt ihr immer wieder darauf rein? Teyzeciğim, diese Firma existiert offiziell überhaupt nicht! Amcacığım, euch bleibt nichts anderes übrig, als heimzufahren. Dedeciğim, wir können nichts tun.

Früher war es genauso. Die Pilger blieben immer auf der Strecke. Der Beamte, der mich herbrachte, hatte zwar mitgeteilt, dass ein Haftbefehl gegen mich erhoben ist, aber niemand fühlte sich zuständig. Wenn ich mich mit den potentiellen Pilgern davonmachte, würde es niemand bemerken. Eine halbe Stunde später fiel ich schließlich jemandem auf. 2

– Und wieso bist du hier?

– Ich wurde festgenommen.

– Und wieso?

– Keine Ahnung. Hat mir noch keiner gesagt.

– Gibt’s doch nicht, kardeşim. Wirst festgenommen und weißt nicht, warum. So gebildet wie du aussiehst … Was bist du denn von Beruf?

– Schriftsteller.

– Wenn du so einer bist wie Pamuk, mit Auszeichnung, dann hast du es nicht leicht!

Wegen welchen Artikels ich gesucht wurde, ist klar, aber keiner kennt dessen Inhalt. Ich werde in polizeiliches Gewahrsam genommen und eingesperrt, um morgen früh der Abteilung für Terrorbekämpfung übergeben zu werden. Der Boden ist mit Laminat ausgelegt, die Wände ordentlich gestrichen. Früher war es solcherorts schmuddelig und der Gestank nach Blut und Eiter nicht auszuhalten.

Ein Zuständiger in der Abteilung für Terrorbekämpfung informiert mich:

– Doğan Bey, da ist nichts, wonach wir vorgehen könnten. Die Organisation, wegen der Sie gesucht werden, tauchte – Sie werden es besser wissen – Mitte der 80er Jahre auf, warf hier und da ein paar Molotow-Cocktails und verschwand wieder von der Bildfläche. Seit 20-25 Jahren gibt es keine Einträge über sie. Es dürfte sich um etwas Harmloses handeln. Da ist wohl irgendwo eine alte Aussage gegen Sie.

Zwei Beamte geben auf mich Acht, die so alt sind wie mein Sohn. Als sie erfahren, dass ich unter anderem auch Drehbücher schreibe, fragt der eine:

Dayı, also Onkel, ich hab’ auch vor, Drehbücher zu schreiben. Ich werde schreiben, wie uns die Terrorbekämpfung ausbeutet.

– Wäre das nicht gefährlich für euch?

– Ach wo, dayı! Ist doch wahr, oder? Seit gestern Nacht haben wir kein Auge zugedrückt. Das schreib’ ich alles auf. Wort für Wort. Erzähl’ doch mal, dayı, wie’s geht, ich mein’, nur so, zum Zeitvertreib.

– Stell’ dir vor, dass du einem Blinden eine Geschichte erzählst. Ich mach’ jetzt die Augen zu. Und du fängst an, mit jeweils einem Satz zu beschreiben, was sich alles im Raum befindet, welche Personen da sind und was sie tun.

Ich schließe die Augen. Der Beamte beschreibt den Raum. Zwei Tische, auf dem einen steht der Computer, auf dem anderen ein Kanarienkäfig. An der Seitenwand der Waffenschrank. Zwei bewaffnete Beamte. Eine verdächtige Person.

Bis ich dem Richter vorgeführt werde, hat der Polizeibeamte begriffen, worauf es bei einem Drehbuch ankommt. Sein Kollege, der Beamte, der mich distanzierter behandelt, nennt ihn von nun an ’Drehbuchautor’.

Die Tatsache, dass ich ihm zwanzig Jahre später vorgeführt werde, bereitet dem Richter Unbehagen. Er erklärt, dass ich wegen einer Organisation gesucht werde, deren Name aus neun Buchstaben mit zwei Schrägstrichen besteht und den ich zuvor nicht gehört habe und erteilt Haftbefehl. 3

Der Drehbuchautor ist wütend.

Dayı, hab’ ich dir nicht gesagt, dass die uns ausbeuten! Siehst du? Wenn er dich jetzt nicht verhaftet hätte, könnte ich in aller Gemütsruhe nach Hause gehen und mit meinem Drehbuch anfangen! Stattdessen muss ich dich in den Knast bringen. Dayı, kannst du nicht mit dem Taxi hinfahren? Du bist doch Deutschländer. Du hast bestimmt Geld.

Der andere greift ein.

– Hast du einen Knall, oder was? Bist du noch bei Trost? Und wer unterschreibt das Übergabeprotokoll?

Als wir das Gerichtsgebäude verlassen, macht der andere Beamte Anstalten, mir Handschellen anzulegen. Der Drehbuchautor verhindert es. Schriftstellersolidarität.

– Meinem dayı legt keiner Handschellen an, wenn ich dabei bin, Kollege! Du haust doch nicht ab, dayı, oder?

– Nein, ich hau’ nicht ab.

Wir halten vor der Haftanstalt Metris. Kein unbekannter Ort. Wir gehen auf den wachhabenden Soldaten am Tor zu. Der Drehbuchautor erklärt: „Wir bringen einen Verhafteten.“ Der Soldat fragt mich:

– Und wo ist der Verhaftete?

– Das bin ich.

– Ein Verhafteter ohne Handschellen. Wo gibt’s denn so was?

Der Drehbuchautor blafft ihn an.

– Na und? Das ist mein Verhafteter. Ob ich ihm Handschellen anlege oder nicht, ist meine Sache. Mach’ dir mal keinen Kopf. Der dayı ist Deutschländer, der haut nicht ab!

Während der Drehbuchautor und ich vor dem Tor eine Zigarette rauchen, kehrt der andere zurück, der ins Gefängnis gegangen war, um die Übergabeformalitäten zu erledigen.

Dayı, wie hieß noch mal deine Organisation?

– Keine Ahnung, hab’s mir nicht merken können. Was steht da?

Dayı, in den Unterlagen sind drei unterschiedliche Namen. Die da drinnen fragen, welchen sie eintragen sollen.

– Keinen.

Dayı, am besten kommst du mit rein.

Gemeinsam gehen wir rein. Ein Beamter sitzt am Tisch, weitere fünf oder sechs stehen oder laufen in der Gegend herum. Der Beamte am Tisch, der offenbar für meine Aufnahme zuständig ist, fragt mich nach dem Namen meiner Organisation. Ich gehöre keiner Organisation an, sage ich.

– Das geht nicht, sagt er. Hier können wir keinen aufnehmen, der keine Organisation hat.

– Warum nicht? Gibt’s hier etwa keine gewöhnlichen, nicht-politischen Gefangenen? Journalisten, Schriftsteller, was weiß ich?

– Doch, schon, aber in deinen Unterlagen steht „Mitglied einer terroristischen Organisation“. Hier sind drei unterschiedliche Schreibweisen. Welche sollen wir aufschreiben?

– Keine. Lasst es einfach leer.

– Das geht nicht! Irgendwas müssen wir da reinschreiben. So sind die Vorschriften.

Die anderen Beamten versammeln sich um ihn herum. Jeder gibt seinen Senf dazu. Einer sagt: Schreib’ Dev-Sol, das kann man gut behalten.

– Dann schreibt besser Dev-Yol, wirft der Drehbuchautor ein. Macht dem dayı nicht noch mehr Scherereien! 4

Der Empfangsbeamte bleibt stur. Das geht nicht, sagt er. Dev-Yol existiert nicht mehr. In dieser Haftanstalt gibt es Dev-Sol, dann noch die PKK und dann noch… Wie heißen die noch mal, TKPML oder so, das war’s dann.

Der Drehbuchautor erhebt die Stimme.

– Setzt dayı nicht so unter Druck! Das ist doch Folter, was ihr hier treibt! Ist das hier die Hölle, oder was? Regiert hier der Satan?

– Pass auf, was du sagst, kardeşim! Wie redest du im heiligen Monat? Wir fasten doch alle.

Das Projekt kommt mir in den Sinn, an dem ich in Köln mitarbeite. „Mit Konflikten Leben Lernen“. Die Anfangsbuchstaben wecken Assoziationen an den Namen einer radikalen linken Organisation.

– Schreibt MKLL, sage ich.

Der Empfangsbeamte schaut mich dankbar an. Doch die Aufnahmehindernisse sind nicht so einfach ausgeräumt. Als er erfährt, dass ich keinen türkischen Personalausweis habe, lehnt er sich in seinem Stuhl weit zurück. Dich können wir hier nicht aufnehmen, Doğan Bey, sagt er. Wir können hier keine Ausländer aufnehmen.

Dem Drehbuchautor wird’s zu viel.

– Wenn ihr meinen dayı nicht aufnehmt, dann schlag’ ich hier alles kurz und klein! Ich lass’ keinen Stein auf dem anderen! Wohin soll ich denn mit ihm um die Zeit?!

– Das ist dein Problem, kardeşim! Ich habe meine Vorschriften!

– Mach’ mal halblang, brüllt der Drehbuchautor. Ruf’ den Direktor an! Ruf’ den Ministerpräsidenten an! Meinetwegen den Justizminister! Ich schwör’s bei Gott, ich lass’ meinen dayı hier am Eingang frei, dann kann er gehen, wohin er will. Bringt mich nicht in Rage! Betreibt keine Ausländerfeindlichkeit! Mein dayı ist ja nicht mal ein richtiger Deutscher!

Tatsächlich wird hierhin und dorthin telefoniert. Inzwischen kommen der Drehbuchautor und ich einander näher, er fragt, woher ich stamme, ich sage es ihm. Ich frage ihn auch, woher er stammt. Ich bin Kurde, dayı, sagt er. Ich habe einen metallenen Kugelschreiber bei mir. Ich weiß, man wird ihn mir abnehmen. Ich habe meine Erfahrungen. Beim Abschied reiche ich ihn dem Drehbuchautor. Hier, sag ich, schreib’ dein Drehbuch damit.

– Versprochen, dayı, sagt er. Bis du rauskommt, hab ich’s fertig, du hast mein Wort!

Genau 24 Stunden nach Verlassen des Köln-Bonner Flughafens werde ich in den letzten Block gebracht, in dem ich vor 24 Jahren etwa 3 Jahre verbrachte und den wir damals „Sibirien“ nannten. Bevor die eiserne Tür hinter mir zufällt, frage ich den mich begleitenden Wärter, ob man den Block immer noch so nennt.

– Ja, antwortet der Wärter. Der Name hat sich nicht geändert.

Copyright: Dogan Akhanli, Oktober 2010
Übersetzung aus dem Türkischen: Hülya Engin

Der WDR hat eine Hörfunkversion dieser Kurzgeschichte ausgestrahlt