Voller Ideen: Die jüdische Gemeinde in Lörrach blickt in die Zukunft

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Zumindest eines hat der Vorstand der jüdischen Gemeinde in Lörrach mit dem Repräsentantenhauses US-Kongresses gemeinsam: Die Wahlen für beide Gremien finden alle zwei Jahre statt. Der personellen Kontinuität muss das keinen Abbruch tun – auch nicht in Lörrach…

Von Irina Leytus

Bereits seit zehn Jahren bekleidet Hanna Scheinker das Amt der Gemeindevorsitzenden in der Stadt am südwestlichen Zipfel der Bundesrepublik. Zweiter Vorsitzender ist – dies seit fünf Jahren – Wolfgang Fuhl, der gleichzeitig das Amt des Vorsitzenden des Oberrates der Israeliten Badens innehat. Das Vorstandsmitglied Anna Schneider ist vor allem für soziale Belange zuständig.

Die aus dem litauischen Schaulai stammende Lehrerin Hanna Scheinker wanderte im Jahre 1978 mit ihrem Ehemann, Arkadi, nach Israel aus, nachdem sie acht Jahre lang um die Ausreisegenehmigung gekämpft hatte. Bald jedoch beschloss die Familie, nach Deutschland umzusiedeln: Dem 1921 in Riga geborenen und im deutschsprachigen Kulturraum aufgewachsenen Arkadi fehlte in Israel seine Muttersprache. Während Arkadi in seinem alten Beruf als Musiklehrer arbeiten konnte, musste Hanna in Deutschland auf eine neue Tätigkeit ausweichen und wurde staatlich anerkannte Altenpflegerin. Bis zum Übergang in den Ruhestand im Jahre 1995 hatte die sportlich-elegante Frau im Altersheim Weil am Rhein gearbeitet.

Freilich: Auch im Ruhestand blieb Ausruhen für Hanna ein Fremdwort. Zusammen mit der Familie Fuhl, sowie mit Dr. Georg Weinberg und anderen Mitstreitern gründete sie im Jahre 1995 die jüdische Gemeinde in Lörrach. Bis dahin war Lörrach Teil der Gemeinde in Freiburg. In der Nachkriegszeit hatte es in der Stadt an der kritischen Masse für eine eigene Gemeindegründung gefehlt: 1960 waren in Lörrach gerade 20 Juden zu Hause. Durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hat sich das geändert.

Dabei blickten die Juden in Lörrach, auch wenn sie niemals eine besonders große Gruppe waren, auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Die ersten Juden kamen in die Stadt während des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648). Eine Mikwe bestand seit dem 17. Jahrhundert. Eine etablierte Gemeinde entstand mit Ankunft von Flüchtlingen aus der Schweiz während des 18. Jahrhunderts, die erste Synagoge wurde 1808 eingeweiht. Ihren höchsten Mitgliederstand erreichte die Gemeinde im Jahre 1875 mit 248 Personen.1933 gehörten der Gemeinde 162 Juden an.

Trotzt der Zerstörung des jüdischen Lebens in der Nazizeit ist die jüdische Gemeinde mit mehr als 400 Mitgliedern heute zweieinhalb Mal so groß wie vor der Machtergreifung durch die Nazis. Eine neue Synagoge wurde 2008 eingeweiht. Außer dem Gebetsraum beherbergt das Gebäude der Gemeinde auch einen Veranstaltungsraum für einhundert Menschen mit einem Flügel für musikalische Darbietungen sowie einem Gästezimmer. „Wir haben oft Besuch, und die Gastfreundlichkeit verpflichtet uns dazu, den Gästen eine schöne Unterkunft anzubieten“, sagt Hanna Scheinker und schmunzelt. „Wir sind Enthusiasten, wir finden neue Ideen und setzten sie um.“

So etwa gibt es in der Gemeinde Lörrach statt eines Kindertages den „Kinder-Eltern-Tag“, an dem der Nachwuchs, die Eltern und Großeltern im Spiel zusammenkommen. Die Organisatorin Lili Slavutska kommentiert: „Wir, die Erwachsenen, haben uns trotz eines vollen Arbeitstages die Zeit dafür genommen und die Kinder können erleben, dass auch ihre Eltern witzig und geschickt sein können“. Jung und Alt bietet die Gemeinde in Lörrach Hebräischkurse, PC-Kurse, Schachturniere und literarische Abende. So ist man für die Zukunft gewappnet.

Zukunft, 10. Jahrgang Nr. 10 / 29. Oktober 2010 – 21. Heshvan 5771

2 Kommentare

  1. Die ersten jüdischen Familien liessen sich in Lörrach nach Ende des Dreißigjährigen Krieges nieder.
    Um 1700 lebten keine Juden mehr in der Stadt und im badischen Oberland.
    Erst danach wieder Zuzug in geringer Zahl, die über das gesamte 18. Jh. konstant blieb.
    Die erste Synagoge von 1808 entstand in der Lörracher Teichgasse. Im Synagogengebäude war eine Mikwe untergebracht und gleich neben der Synagoge stand das jüdische Gemeindehaus, darin befand sich u.a. die Schule.
     
    Als Friedhof diente den Lörracher Juden zunächst, ab etwa 1670, ein Flurstück am Schäckelberg. Auch aus Fischingen, Kirchen und Tumringen stammende Juden bestatteten dort ihre Toten. Ende des 19. Jh.s Anlage des neuen Friedhofs an der Brombacherstrasse, neben dem christlichen Friedhof. Erhalten blieben dort bis heute etwa 150 Grabsteine.
     
    1716 lebten vier jüd. Familien in Lörrach, 1801 waren es 97 Juden, 1864 – 191, 1875 – 248, 1900 – 204, 1925 – 151, 1933 – 162, 1940 – etwa sechzig und 1942 nur noch zwei.
     
    Die Lörracher Juden lebten zunächst u.a. vom Viehhandel, ab dem 19. Jh. auch vom Einzelhandel (Läden, Geschäfte) und von diversen kleineren Unternehmen. Es wird berichtet, dass die Lörracher Juden in ihrer kleinstädtschen Umgebung als integriert galten, dass sie in Vereinen Mitglieder waren und am kommunalen Leben teilnahmen – auch noch einige Zeit nach Beginn der NS-Herrschaft. Angeblich beteiligte sich die Mehrheit der Lörracher Nichtjuden nicht an der antisemitischen NS-Hetze.
    Am 1. April 1933 kam es zu Boykotts jüdischer Läden in der Stadt.
    Später nahm auch in Lörrach der Druck auf die Ladeninhaber zu und zwang einen Teil von ihnen zur Aufgabe ihrer Geschäfte. Schließlich Liquidierung bzw. „Arisierung“ aller jüdischer Geschäfte.
    10. Nov. 1938, Lörracher SA-Angehörige zerstören die Inneneinrichtung der Synagoge, schänden den Friedhof, verhaften jüdische Männer, die für mehrere Wochen in das KZ Dachau eingeliefert und dort misshandelt werden.
    1939, Lörracher Christen reißen die Synagoge ab. (Ja, Christen, denn ebenfalls im Jahre 1939 stellt eine Zählung im Reich fest, dass nur 5 % der Deutschen nicht entweder Katholiken oder Protestanten sind!)
    Bis 1940 schaffen es etwa zwei Drittel der Lörracher Juden zu emigrieren.
    Im Oktober 1940 werden an die 50 Lörracher Juden in das Lager Gurs deportiert; über ihr Schicksal liegen keine Angaben vor; allem Anschein nach fielen sie der „Endlösung der Judenfrage“ zum Opfer.
    Eine einzige, in Mischehe verheiratete Jüdin bleibt in Lörrach zurück.
    1945, nach Kriegsende werden lediglich drei zurückkehrende Lörracher Juden gezählt.
    1976 bringt man an dem Wohn- und Geschäftshaus, das am Platz der ehem. Lörracher Synagoge errichtet worden war, eine Gedenktafel an.
    Ihre Inschrift ist, wie in BRDeutschland bedauerlicherweise zur schlechten Gewohnheit geworden, nichtssagend und unpersönlich, somit wirkungslos. Nicht von christlichen Tätern, nicht von deutschen, badensischen, oder gar Lörracher Tätern ist auf ihr die Rede, nein, vielmehr sei die Synagoge „unter der Herrschaft der Gewalt und des Unrechts zerstört“ worden. Kein christlicher Bewohner der Stadt, kein Sohn, Enkel oder Neffe eines unmittelbaren Täters, eigentlich doch gar keiner muss sich in irgendeiner Weise betroffen fühlen, wenn er solch floskelhaften Wortgebilde vor sich sieht!
     
    Seit 1995 hat Lörrach wieder eine jüdische Gemeinde.
    2006 zählt die jüdische Gemeinde ca. 350 Mitglieder, die meisten von ihnen stammen aus der ehem. Sowjet Union.
     
    (LEXIKON DER JÜDISCHEN GEMEINDEN IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM; Gütersloh 2008 sowie andere Unterlagen)

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