Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik

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Editoral zu „Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld“, psychosozial Heft 53, herausgegeben von Roland Kaufhold…

„A. Aichhorn (…) hatte in amtlicher Stellung als Leiter städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit der Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohle­nen entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser Unglückli­chen und wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn praktisch nichts Neu­es lehren, aber sie brachte ihm die klare theoreti­sche Einsicht in die Berechtigung seines Han­delns und setzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen. (…) Ich schließe noch eine Folge­rung an: (…) Wenn der Erzieher die Analyse durch Erfahrung an der eigenen Person erlernt hat und in die Lage kommen kann, sie bei Grenz- und Misch­fällen zur Unterstützung seiner Arbeit zu verwen­den, so muss man ihm offenbar die Ausübung der Analyse freigeben und darf ihn nicht aus engher­zigen Motiven daran hindern wollen“ (Freud 1925, GW XIV, S. 565-567).

Diese von Sigmund Freud 1925 in seinem Vorwort zu August Aichhorns wegwei­sendem Buch „Verwahrloste Jugend“ formulierten Überlegungen könnten als Leit­motiv über diesem psychosozial-Heft stehen, das den Pionieren der Psychoanalytischen Pädagogik – Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld – gewidmet ist.

Gemeinsam ist diesen psychoanalytischen Persönlichkeiten Vieles: Ihre Jugend in Wien Anfang diesen Jahrhunderts, ihre Erfahrungen als Zeitzeugen der Entstehung der Psychoanaly­tischen Pädagogik, ihre kulturelle Bildung, ihr Erleben und Erleiden der politischen Verfol­gung und Vertreibung als Juden, Sozialisten und Psychoanalytiker, ihre Emigration nach Ameri­ka sowie ihr persönlicher und beruflicher Neu­anfang im Exil. Ernst Federn, Rudolf Ekstein und Bruno Bettelheim waren miteinander be­freundet und standen sowohl in einem persönli­chen als auch in einem fachlichen Gedankenaus­tausch.

Der etwas ältere Siegfried Bernfeld wiederum war in ihrer Studienzeit bereits Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und geistig-politisches Vorbild – eine Prägung, die bei allen dreien lebenslang wirksam bleiben sollte.

Sie repräsentieren in ihrem jeweiligen Le­benslauf das Schicksal der Psychoanalytischen Pädagogik wie auch einzelner Vertreter der „Pionierzeit“: Während – wie es Ernst Federn im Interview in diesem Heft ausdrückt – „die Psy­choanalyse als Heilmethode überleben konnte, wurde die Psychoanalytische Pädagogik in Deutschland von den Nazis vernichtet und ent­stand erst wieder nach etwa 20 Jahren.“

Dies spiegelt sich in ihren Biographien, wie sie in den einleitenden drei Studien dieses Heftes skizziert werden, wider: Ernst Federn und Bruno Bettelheim wurden 1938 von den Na­tionalsozialisten wegen ihrer politischen Akti­vitäten in Dachau und Buchenwald inhaftiert und lernten sich dort auch kennen. Bruno Bettelheim hatte das Glück, nach knapp einem Jahr in die U.S. A. emigrieren zu können, Emst Federn wur­de von den Nationalsozialisten bis 1945 sieben Jahre lang festgehalten. Rudolf Ekstein emi­grierte 1938 gerade noch rechtzeitig – einen Tag später wäre er sehr wahrscheinlich in ein deut­sches Vernichtungslager gebracht worden.

Gemeinsam war allen drei Persönlichkeiten ein weiterer Ausgangspunkt, der für die Ge­schichte und das Selbstverständnis der Psycho­analytischen Pädagogik wie der Psychoanalyse insgesamt von nachhaltiger Bedeutung ist: Sie waren alle drei Laienanalytiker, also Nicht-Ärz­te. Sigmund Freud hatte sich bekanntlich immer entschieden für die Laienanalyse eingesetzt und deshalb sogar erwogen, die amerikanische Psychoanalytische Sektion aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung auszuschließen. Entsprechend schrieb er am 27.3.1926 in ei­nem Brief an Ernst Federns Vater, Paul Federn:

„Der Kampf um die Laienanalyse muss irgendeinmal ausgefochten werden. Besser jetzt, als später. Solange ich lebe, werde ich mich dagegen sträu­ben, dass die Psychoanalyse von der Medizin ver­schluckt wird. Es ist natürlich kein Grund, diese meine Äußerungen vor den Mitgliedern der Ver­einigung geheim zu halten.“

Die historischen Ereignisse verdrängten diese Auseinandersetzung von der Tagesordnung und ließen sie – zum Schaden der Psychoanalyti­schen Pädagogik – unbeantwortet.

Um die spezifischen Umstände, das kulturel­le Milieu bei der Entstehung der Psychoanalyti­schen Pädagogik möglichst authentisch zu eru­ieren, habe ich an Ernst Federn und Rudolf Ekstein als Zeitzeugen dieser „Pionierzeit“ 22 Fra­gen zur Geschichte und Aktualität der Psycho­analytischen Pädagogik gestellt, die sie für die­ses psychosozial- Heft beantwortet haben. In den U.S.A. hat David James Fisher – ein Analysand Rudolf Eksteins – zahlreiche fundierte und engagierte Studien zu Bruno Bettelheim pu­bliziert. In seinem umfangreichen Interview, das er mit dem von langer Krankheit geschwächten Bettelheim knapp zwei Jahre vor dessen Freitod führte, schildert Bettelheim in diesem Heft seine Erinnerungen an die Wiener Zeit sowie an seinen eigenen Werdegang.

Federn, Ekstein und Bettelheim erlebten die Psychoanalyse wie auch die Psychoanalytische Pädagogik zuvörderst als eine psychoanalyti­sche Bewegung. Einer der engagiertesten und produktivsten Vertreter dieser Bewegung war der Psychoanalytiker und Marxist Siegfried Bernfeld. Sowohl Rudolf Ekstein als auch Ernst Federn wurden in ihrer Jugend maßgeblich durch ihre Bekanntschaft mit Bernfeld in ihrem sozialpolitischen Engagement bestärkt. The­resia Erich beschreibt in ihrem Beitrag wesentli­che Bernfeld’sche Wirkungsfelder in Wien, Berlin und San Francisco.

Durch die Vertreibung der (psychoanalyti­schen) Intelligenz kam es zu einem „Kultur­transfer von Österreich nach Amerika“ – so der Titel von Bruno Bettelheims Vortrag auf dem Kongress „Vertriebene Vernunft“ im Jahre 1987 in Österreich. Es gelang den Vertriebenen, ihr Schicksal nicht nur als Verlust und Kränkung zu verarbeiten, sondern gewisse Anteile ihrer Er­fahrungen mit der Psychoanalytischen Pädago­gik auch im amerikanischen Exil weiterleben zu lassen. Die Psychoanalytische Pädagogik war zwar in Deutschland vernichtet worden, aber ei­nige ihrer Spuren konnten im Exil aufbewahrt und viele Jahrzehnte später nach Europa zurück­gebracht werden. In seinem für dieses Heft angefertigten Beitrag „Zur Geschichte der Psycho­analytischen Pädagogik“ differenziert Ernst Fe­dern zwischen drei Phasen in der Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik: Vorgeschichte, Geschichte und Überleben – und der Gegenwart, in der eine fachliche Renaissance zu beobach­ten ist.

Im amerikanischen Exil mussten Federn, Bettelheim, Ekstein und Bernfeld nicht nur das Trauma der Vertreibung verarbeiten, sondern sich darüber hinaus auch noch auf völlig veränderte Lebens­umstände einstellen. Eine Anknüpfung an das progressive politisch-kulturelle Wiener Klima war nicht möglich. Im Kontext der amerikani­schen Ablehnung der Laienanalyse erwies sich die Sozialarbeit als Anknüpfungspunkt an die Tradition. Ernst Federn und Stephan Becker skizzieren in ihren Beiträgen das Trennende und Verbindende in der psychoanalytischen Sozial­arbeit in Amerika und den deutschsprachigen Ländern.

Ekstein, Bettelheim, Bernfeld und Federn haben in zwei verschiedenen Kulturen gelebt: in der eu­ropäischen und der amerikanischen. Zugleich haben sie die verschiedenen psychoanalytischen Schulen und deren jeweilige historisch bedingte Entwicklungsphasen in Europa und Amerika kennengelernt und z. T. mitgestaltet. Als Zeitzeugen der Entstehung der Psychoanalyse wur­den sie zu Historikern der Psychoanalyse. Ernst Federn hat die Protokolle der Wiener „Mittwo­chsgesellschaft“ von seinem Vater, Paul Federn, geerbt und diese in einem jahrzehntelangen Ar­beitsprozess aufgearbeitet. Seine Veröffentlichung der Protokolle trug zu einem neuen Ver­ständnis der Entstehung der Psychoanalyse ­wie auch der Person Sigmund Freuds bei. In dem Bei­trag von Roland Kaufhold zu Ernst Federns späten Schriften werden zwei neue Publikationen von Federn zur Geschichte sowie zu Anwendungsfeldern der Psy­choanalyse porträtiert.

Bruno Bettelheim und Rudolf Ekstein ent­wickelten im amerikanischen Exil ein weiteres, bedeutsames Betätigungsfeld der Psychoanaly­tischen Pädagogik: die Milieutherapie und indi­viduelle Psychotherapie mit autistischen und psychotischen, in ihrer Beziehungsfähigkeit zu­tiefst beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen (vgl. psychosozial Nr. 32, 37 und 39). Sie hatten aus einem zerstörerischen Gesellschafts­system fliehen müssen und bauten, als Antwort hierauf, eine positive „Gegenwelt“ auf – einen Ort, in dem ein freies Leben und Sprechen mög­lich war. Jörg Wiesse und Jacquelyn Sanders – die nach Bettelheims Pensionierung 1973/74 seine Nach­folgerin als Leiterin der Sonia Shankman Orthogenic School wur­de – arbeiten in ihren Studien in diesem Heft we­sentliche Implikationen dieser Arbeit mit schwerstgestörten Kindern und Jugendlichen heraus. Sie verdeutlichen insbesondere das scheinbar „unprofessionelle“, antiquiert erscheinende Prinzip eines Humanismus als pädagogisch-therapeutischer Grundidee, wie sie in dem Werk von Bettelheim, Ekstein und Fe­dern zu finden ist.

Die Psychoanalytische Pädagogik hat seit Anfang der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum sowohl inhaltlich als auch organisato­risch-institutionell eine Renaissance erfahren. Dies spiegelt sich sowohl in der Anzahl der wis­senschaftlichen Publikationen, der Fachkon­gresse und dem Erscheinen des „Jahrbuch(es) für Psychoanalytische Pädagogik“ wider als auch in der Schaffung institutioneller Rahmen­bedingungen. Ich denke hierbei vor allem an den „Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalyti­sche Pädagogik“ und an die „Arbeitsgruppe Pädagogik und Psychoanalyse in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“. Maßgeblich vorangetrieben wurde dieser Pro­zess durch das unermüdliche Engagement von Hans-Georg Trescher. Der Tod von Prof. Trescher, der Ende 1992 im Alter von 42 Jahren unerwartet verstarb, ist für die Psychoanalyti­sche Pädagogik ein schlimmer Verlust.

Parallel zu diesem Heft – zu dessen Erstel­lung Hans-Jürgen Wirth mich ermutigt hat – er­scheinen mehrere Publikationen, in denen der Versuch unternommen wird, das Lebenswerk von Ernst Federn, Bruno Bettelheim und Rudolf Ekstein aufzuarbeiten und sichtbar werden zu lassen. Zu nennen sind die Bücher „Annäherung an Bruno Bettelheim“ – an denen Rudolf Ekstein und Ernst Fe­dern mitgewirkt haben – und „Rudolf Ekstein und die Psychoanalyse“ (Hg. J. Wiesse), sowie der Kinofilm „Überleben im Terror – Emst Federns Geschich­te“ von Wilhelm Rösing. So sehr dieses lebendi­ge Interesse am Leben und Werk dieser Persön­lichkeiten zu begrüßen ist, so erschreckend ist die Tatsache, dass zu eben dieser Zeit im wieder­vereinigten Deutschland eben jene destruktiven Kräfte erneut aufbrechen, die für die Vertrei­bung der Intelligenz und die damit einhergehen­de Zerstörung der Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik die Verantwortung tragen. Das Verbrennen und Vertreiben Andersdenken­der hat in diesem Land solche Ausmaße ange­nommen, dass sich der Filmemacher Ralph Giordano – ganz im Sinne vieler Texte von Bruno Bet­telheim über die Vernichtung der Juden – ge­zwungen sieht, das Recht auf Widerstand als le­gitime Notwehrreaktion öffentlich einzufor­dern. Nachdrücklich richtet Giordano die Warnung an die demokratische Öffentlichkeit: „Nie wieder werden wir Überlebenden des Holocaust unse­ren Todfeinden wehrlos gegenüberstehen, nie­mals!“

Insofern kommt den aus ihren Erfahrungen in den deutschen Vernichtungslagern erwachse­nen Studien von Federn und Bettelheim über die Psychologie der Extremsituation – wie sie Kersten Reich in seinem Beitrag in diesem Heft ver­gleichend betrachtet – eine bestürzende Aktua­lität zu, die zu weiteren entsprechenden Forschungen herausfordert. Die existentiellen Pro­bleme der Menschheit existieren nach wie vor, und es ist uns weiterhin aufgegeben, dem „menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“ (Sigmund Freud 1930, S. 506).

Ich möchte an dieser Stelle Emst Federn und Rudi Ekstein sehr herzlich danken, die mich bei meinen biographischen und theoretischen For­schungen in großzügiger und liebenswerter Weise unterstützt haben. Den skizzierten be­drohlichen Tendenzen zum Trotz möchte ich zum Abschluss gerne an eine Äußerung von Sig­mund Freud erinnern, die Rudolf Ekstein in sei­nen zahlreichen Texten immer wieder aufgreift: „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber unauf­hörlich, bis sie sich ein Gehör verschafft hat“.

Köln, im Januar 1993
Roland Kaufhold

Inhaltsverzeichnis psychosozial Nr. 53 

Roland Kaufhold (Hg.) (1993): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld, psychosozial Nr. 53 (1/1993) 144 S., Psychosozial-Verlag, Gießen

(Dieses psychosozial – Themenheft ist nicht mehr käuflich. Die einzelnen Beiträge können direkt beim Psychosozial Verlag erworben werden.)

Editorial (Roland Kaufhold)

Roland Kaufhold: Zur Geschichte und Aktualität der Psychoanalytischen Pädagogik – Fragen an Rudolf Ekstein und Ernst Federn

Jaqueline Sanders (Chicago): Bruno Bettelheim und sein Vermächtnis.: Die Orthogenic School in den neunziger Jahren

David James Fisher: Ein letztes Gespräch mit Bruno Bettelheim. Publiziert in: Fisher, David James (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim unter Mitarbeit von Roland Kaufhold et. al., Gießen (Psychosozial-Verlag), S. 133-158

Roland Kaufhold: Rudolf Ekstein: “… und meine Arbeit geht weiter”

Jörg Wiesse: Die Bedeutung der Gegenübertragung in der Arbeit mit psychotischen Kindern in der Arbeit von Rudolf Ekstein

Roland Kaufhold: Ernst Federn: Die Bewältigung des Unfassbaren

Ernst Federn: Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik

Roland Kaufhold: Zeitzeuge der Psychoanalyse – Die späten Schriften des Psychoanalytikers Ernst Federn

Kersten Reich: Zur Psychologie extremer Situationen bei Bettelheim und Federn

Theresia Erich: Siegfried Bernfeld: Ein früher Vertreter der Psychoanalytischen Pädagogik

Stephan Becker: Die Weiterentwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik zur Psychoanalytischen Sozialarbeit

Roland Kaufhold: Literatur zu Bettelheim, Ekstein und Federn

Aus Forschung und Praxis: 

Christa Wolf: Ein Weg nach Tabou: Laudatio auf den Wissenschaftler und Erzähler Paul Parin
Paul Parin: Zur Verleihung des Literaturpreises 1992 der Internationalen Erich Fried Gesellschaft

Rezensionen

haGalil – Themenschwerpunkt zu Ernst Federn

Roland Kaufhold: Ernst Federn, Pionier der kollektiv orientierten Psychoanalyse – Einführung zum Themenschwerpunkt