Die tschechoslowakische Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit: Einfluss der sowjetischen Propaganda

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In der Zwischenkriegszeit galt die Sowjetunion für hunderttausende Europäer, darunter auch viele Tschechen und Slowaken, als Symbol des Fortschritts und als Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Und das, obwohl der erste „sozialistische Staat der Welt“ nicht nur alle Parameter eines totalitären Staates hatte, sondern diese durch die Willkür des stalinschen Regimes weit übertraf. Heutzutage, da man dies weiß, stellt sich die entscheidende Frage: Wie war es möglich, dass die Kommunisten in Moskau und anderswo ein derart glaubwürdiges Bild von der Sowjetunion zu zeichnen vermochten, das der Wirklichkeit diametral gegenüberstand…

Jitka Mládková

Die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die Konzentrations- und Arbeitslager, grenzenlose Repressionen gegen breite Schichten der eigenen Bevölkerung, politische Schauprozesse, Umsiedlung ganzer Völker – das und vieles mehr gehörte zu der Realität des Lebens in der Sowjetunion bald nach ihrer Gründung 1922. Das Land strahlte aber eine aus der heutigen Sicht unverständliche Anziehungskraft für viele Europäer aus. Jan Lomíček vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Prager Karlsuniversität sieht eine ganze Reihe von Ursachen:

„Das war erstens die politische und gesellschaftliche Situation in ganz Europa, die aus dem Ersten Weltkrieg und der anschließenden Weltwirtschaftskrise resultierte. In der Tschechoslowakei kam dazu noch die traditionelle Sympathie für das russischsprachige Land. Eine der Ursachen der Begeisterung ist auch in der ewigen Sehnsucht der Menschen nach einer optimalen Gesellschaft zu suchen. Diese wurde, wie man glaubte, in der Sowjetunion geschaffen. Gemeint war eine klassenfreie Gesellschaft, die das Recht auf Arbeit und Bildung sowie auf ein gesundes Leben und Selbstverwirklichung garantieren kann.“

Die Schönfärberei des gelobten Landes beinhaltete bekanntlich noch viel mehr Details, die aber nur in der virtuellen Realität existierten. In der Tschechoslowakei wurde das Bild der Sowjetunion von vielen links orientierten Intellektuellen unterstützt. Natürlich auch von Journalisten, wie Jan Lomíček bestätigt:

„Es wurden mehrere Periodika über die Sowjetunion herausgegeben. Als einen Höhepunkt kann man die Zeitschrift „Svět Sovětů“ / „Die Welt der Sowjets“ bezeichnen, die in den 1930er Jahren erschien. Es war eigentlich das Presseorgan des Vereins „Freunde der Sowjetunion“. Die Leser konnten auch Anfragen zu Themen aus dem öffentlichen Leben in der Sowjetunion an die Zeitschrift schicken, die dann von der Moskauer Redaktion des tschechischen Rundfunkprogramms bearbeitet und gesendet wurden.“

Doch nicht nur für Intellektuelle, sondern für einen Großteil des links orientierten politischen Spektrums sowie für einen keineswegs geringen Teil der Bevölkerung war die Sowjetunion ein Land, das eine Utopie verwirklichen konnte.

Die sowjetische Propaganda bemühte sich um ein positives Bild auch durch organisierte Reisen in die Sowjetunion. Durch sie wollte man den ausländischen Besuchern persönlichen Kontakt mit der „Mustergesellschaft“ verschaffen. Dabei war alles sorgfältig konzipiert. Zuerst wurden Fahrten für links orientierte Intellektuelle in der Regie der Kommunistischen Internationale, also der Komintern, organisiert. Unter ihnen waren nicht wenige, die in der tschechischen und slowakischen Kultur einen Namen hatten. Jan Lomíček ergänzt:

„Der Beginn des Massentourismus in die Sowjetunion ist mit dem Jahr 1929 verbunden, als das staatliche Reisebüro ´Inturist´ entstand. Im Reiseangebot dieser Agentur, das ein breites Spektrum des sowjetischen Gesellschaftslebens widerspiegeln sollte, waren kürzere und längere Aufenthalte zum Beispiel in Moskau und Leningrad (heute St. Petersburg) oder auch längere Schifffahrten zu den russischen Inseln im Eismeer.“

In den ausgewählten Reisegebieten gab es natürlich keine Spur von den Arbeitslagern – die waren verstreut in Sibirien. Vielmehr wurden die Reisenden zu so genannten Fünfjahresplan-Bauten geführt, zum Beispiel zu den Baustellen großer Talsperren oder Kraftwerke. Dies lieferte so manchem tschechoslowakischen Dichter, Schriftsteller oder Journalisten genug Stoff für huldigende Gedichte, Romane und Zeitungsartikel. Zum guten Image des Landes sollten auch Besuche in ausgewählten Strafanstalten beitragen. Jan Lomíček:

„Auf diese Weise wurde die idealisierte Vorstellung der tschechischen Öffentlichkeit über das Strafverfolgungssystem in der Sowjetunion geprägt. Dort herrschte zwar ein absoluter Mangel an Informationen über das Netz der Arbeitslager, also den Gulag. Aber den ausländischen Besuchern zeigte man gerne zum Beispiel eine vom Innenministerium gegründete Kommune in Bolschewo, wo die Häftlinge von einer Selbstverwaltung geleitet wurden. Dort gab es im Prinzip auch keine körperlichen Strafen. Die Mitglieder der Kommune konnten sich auch im ganzen Gefängnisareal frei bewegen.“

Durch die Besichtigungen derartiger „Mustereinrichtungen“ versuchten die sowjetischen Behörden das Durchsickern von Informationen über den wahren Zustand der Dinge zu verhindern. Da muss man sich aber fragen, ob es hierzulande nicht auch objektive Informationsquellen gab.

„In der Tschechoslowakei ist zwar ein Buch mit dem Titel ´Todeslager der UdSSR´ erschienen, in dem der russische Autor die Situation in den Zwangsarbeits-Einrichtungen auf Nordinseln der Sowjetunion in hohem Maße wahrheitsgetreu schilderte. Das war aber eine Ausnahme in der damaligen Zeit. Mindestens in zehn anderen schilderten tschechoslowakische Autoren ihre durchaus positive Erfahrungen aus der Musterkommune in Bolschewo.“

Die absolute Mehrheit der tschechischen Intellektuellen, die in die Sowjetunion reisten, um das dortige Leben mit eigenen Augen zu sehen, kehrte mit den besten Eindrücken, oft sogar mit Begeisterung zurück. Schriftsteller und Dichter haben ihre Erlebnisse in ihren Werken verwertet und ein Teil davon gehörte nach der Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 Jahrzehnte lang zur Pflichtlektüre der tschechischen Schülerschaft. Einer der wenigen, dem die Klappen nach einem längeren Aufenthalt in der Sowjetunion von den Augen gefallen sind, war Jiří Weil, Schriftsteller, Journalist und langzeitig überzeugter Kommunist. Sein Buch über das kommunistische Land hatte für ihn negative Konsequenzen. Jan Lomíček:

„Eine der größten Kontroversen der Zwischenkriegszeit löste ein Buch von Jiří Weil aus mit dem Titel ´Moskau – die Grenze´. In diesem kritisiert der Autor indirekt die Verhältnisse in der Sowjetunion. Zielscheibe der Kritik waren zwar nicht die politischen Schauprozesse oder das Strafvollzugssystem, trotzdem sah das Bild der sowjetischen Realität höchst negativ aus. Negativ reagierte aber auch das links orientierte Spektrum der tschechoslowakischen Gesellschaft.“

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre begann auch die Auswanderung von Tschechen und Slowaken in die Sowjetunion. 1935 soll dort die Zahl der Tschechoslowaken bei 35.000 gelegen haben. Einer von ihnen war auch Jiří Weil. 1937 wurde er wegen seines Romans „Moskau – die Grenze“ (Moskva – hranice) aus der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ausgeschlossen. Worin sieht Jan Lomíček die Motivation der Tschechen und Slowaken für die Auswanderung in die Sowjetunion?

„Es war eine Kombination von mehreren Faktoren. Das Hauptmotiv war aber der Idealismus, gepaart mit der Sehnsucht, eine neue Gesellschaft zu schaffen. Diese hat für einen Teil der linksorientierten Tschechoslowaken auch eine Art Ersatz-Amerika dargestellt. Ihre Vision eines idealen Staates mit unbegrenzten Möglichkeiten haben sie gerade mit der Sowjetunion verbunden.“

Auch die Eltern des späteren tschechoslowakischen Reformators während des Prager Frühlings 1968, Alexander Dubček, sind in den 1920er Jahren in die Sowjetunion ausgewandert. Er selbst kam dort sogar zur Welt. Viele Tschechoslowaken erhörten damals den Aufruf der sowjetischen Machthaber, sich am Aufbau des jungen Staates zu beteiligen. Dort gründeten sie eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Kommunen. Eine davon hieß „Interhelpo“.

„Dubčeks Eltern gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Interhelpo-Kommune auf dem Gebiet des heutigen Kirgisien.. Als aber der Oberste Sowjet 1937 anordnete, dass die in der Sowjetunion lebenden Ausländer die sowjetische Staatsbürgerschaft annehmen müssen, ist die Familie Dubček in die Tschechoslowakei zurückgekehrt.“

Am 7. Dezember 1943 wurde die Interhelpo-Kommune wie auch die anderen aufgrund einer Entscheidung der sowjetischen Behörden aufgelöst. Ihr Vermögen wurde verstaatlicht. In der Umgebung der Interhelpo-Kommune sollen derzeit noch rund 300 Nachfahren leben. Die meisten sind aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt – sofern sie Krieg, Terror und Hunger überlebt haben.

Quelle: http://www.radio.cz/de/artikel/128166
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