Die Zemmour-Affäre

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Ultraprominenter konservativer Journalist streitet für Diskriminierungsfreiheit. Ein Teil der extremen Rechten verteidigt ihn vehement – während ein anderer Teil gegen ihn als „Juden“ mobil macht…

Von Bernard Schmid, Paris

Wie weit darf freie Meinungsäußerung gehen? Und was fällt darunter? Diese Fragen treiben derzeit Frankreich und seine Medien um. Die Freiheit der Meinungsäußerung wird von der einen Seite her allenthalben bemüht. Willkommener Anlass, um das schon seit längerem bekannte Lied von der „Diktatur der Politischen Korrektheit“, der antirassistischen „Meinungspolizei“ und den „Tugendwächtern im öffentlichen Diskurs“ anzustimmen. Anderswo bemüht sich man darum, Unterschiede – je nach Standpunkt – etwa zwischen dem „Rassenhetzer“ einerseits und dem bissigen Satiriker andererseits zu unterstreichen.

Den Konfliktgegenstand lieferte Eric Zemmour, einer der wohl bekanntesten Journalisten in Frankreich, der zwar aus der Printpresse (Le Quotidien de Paris, Le Figaro) kommt, doch in den letzten zwei bis drei Jahren auf den Fernsehbildschirmen fast unvermeidbar geworden ist – im öffentlich-rechtlichen Sender France 2 ebenso wie beim Privatsender RTL. Als Talkshow-Dauergast an jedem Samstag Abend, der die wechselnden Gäste provozieren soll, oder als politischer Kommentator im Frühstücksfernsehen wurde „Z wie Zemmour“ – wie er sich unter Anlehnung an Zorro in jüngster Zeit nennen lässt – zur Quasi-Institution.

Zemmour ist ein französischer Nationalist von der EU-kritischen bis -feindlichen Sorte, der sich in bonapartistischer Tradition sieht, wie er in seinem Anfang März publizierten Buch Mélancolie française ausführlich darlegt. Darin schildert er den Aufstieg und – aktuell von ihm diagnostizierten – Niedergang des französischen Nationalstaats als den eines „neuen Römischen Imperiums“. Frankreichs historisches Schicksal sei es, so führte Zemmour auch in der ersten Aprilwoche 2010 bei einem seiner Fernsehauftritte aus, eine „beherrschende Stellung“ in einem geographischen Raum von Köln und dem Rheinland über Paris bis nach Norditalien einzunehmen. Ganz in diesem Sinne sprach Zemmour sich in derselben Woche für eine Spaltung Belgiens, das als Staat längst nur noch eine künstliche Realität sei, und eine Annäherung von dessen französischsprachiger Südhälfte an Frankreich aus – ein Auftritt, der in Brüssel zu Zeitungsberichten Anlass gab. Zemmour, der unter anderem Feminismus und Gewerkschaften hasst, interpretiert die aktuelle Situation Frankreichs gerne durch die Schablone historischer Konstellationen, gerne aus der Zeit der Monarchie oder der Napoleon-Ära. So erklärte er Anfang April 10, die französischen Protestanten hätten im 16. Jahrhundert einen eigenen Staat im Staat bilden wollen und seien durch die Monarchie deswegen niedergeschlagen worden. Heute drohe dasselbe mit den Moslems im – von hohem Einwandererteil und Armut geprägten – Pariser Trabantenstadtbezirk Seine-Saint-Denis. Aus diesem Grund drohe längerfristig „ein Bürgerkrieg“ und „Blutvergießen“, wie Zemmour unter Anlehnung an das Schicksal der Hugenotten ausführte.

„Diskriminierung ist das Leben“

Am o6. März dieses Jahres war er gleich doppelt präsent, am Vormittag im Fernsehsender ‚France O’, der sich vor allem an Karibik- und „Überseefranzosen“ richtet, und am Abend in einer der Talkshows, die er ständig beglückt; beide Sendungen waren vorher aufgezeichnet worden. Eric Zemmour ist ein Vielredner, dessen Äußerungen normalerweise, wie so vieles im Fernsehen, an den Leuten vorbeirauschen. Dieses Mal gerieten sie aber nicht so schnell in Vergessenheit, sondern riefen eine Welle der Empörung hervor. Am Vormittag auf ‚France O’ äußerte Zemmour sich zum Thema Diskriminierung – einem seiner Lieblingsthemen in letzter Zeit, denn er ist der Auffassung, Diskriminierungsbekämpfung sei Unfug und belästige nur die Unternehmen. An jenem 6. März erklärte er dazu: „Diskriminierung ist das Leben, man wählt eben aus.“ Er führte dies nicht näher im Detail aus. Aber der Sinn, der hinter seinen Auslassungen steckt, kommt jener Begründung nahe, die Jean-Marie Le Pen in den neunziger Jahren bekannt machte: Wenn jemand heirate und sich für einen Partner – und damit gegen zahllose andere mögliche Partner – entscheide, dann könne sich auch niemand wegen Diskriminierung beschweren. Und was „das Leben“ und die familiären Beziehungen ausmache, so erklärte Le Pen damals, sei auch auf die Gesellschaft im Großen übertragbar.

Am Abend dann fielen jene berühmt gewordenen Aussprüche, mit denen Zemmour das ‚ethnic profiling’ bei Polizeikontrollen zur normalsten Sache der Welt erklärte: „Franzosen migrantischer Herkunft werden einfach mehr kontrolliert, weil ein Großteil der Rauschgifthändler Araber oder Schwarze sind.“ Seine Erklärung war die Antwort auf den Theaterregisseur Bernard Murat, der ihm zuvor erwidert hatte: „Wenn Dich die Polizei 17 mal am Tag kontrollieren würde, würde sich das auch auf Deinen Charakter auswirken.“ Die beiden Männer duzen sich, da sie vor langer Zeit einmal zusammen die Schulbank drückten, sind jedoch in gesellschaftlichen Dingen alles andere als einverstanden.

Ab dem darauffolgenden Montag standen dann die Telefone bei den verschiedenen Antirassismusvereinigungen nicht mehr still. Drei unterschiedliche Antirassismusverbände – der MRAP, SOS Racisme und die LICRA – kündigten jeweils Strafanzeigen gegen Eric Zemmour an. Die eher bürgerlich-liberale LICRA (Internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus) zog ihre Anzeige jedoch nach einem „Entschuldigungsbrief“ von Zemmour inzwischen zurück. Statt sich zu entschuldigen, hat der Journalist sich darin freilich eher zu rechtfertigen versucht. So führt er in dem Schreiben explizit aus, Diskriminierungsbekämpfung sei ein „gefährliches Konzept“, das zu „Denunzierung“ und zu „Verantwortungslosigkeit“ im Erwerbsleben führe. Die LICRA hat ihm Anfang April ein inhaltlich deutliches Erwiderungsschreiben als Offenen Brief geschickt. Ende Juni wird nun vor Gericht über die Strafanträge der beiden anderen antirassistischen NGOs entschieden werden. Der MRAP (Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft) hat zudem am o2. April 10 – dem Karfreitag, in Frankreich kein gesetzlicher Feiertag – zusammen mit dem Verband schwarzer Franzosen CRAN vor einem Fernsehstudio, in dem eine Talkshow mit Eric Zemmour aufgezeichnet wurde, demonstriert. Die Kundgebung stand unter dem Motto: „Meinungsfreiheit ja, Hetze nein.“

Sarkozys Umgebung interveniert: Rettungsoperation „Z“

Bei der konservativen Tageszeitung ‚Le Figaro’ drohte Zemmour zur selben Zeit die Kündigung, wie ihr Chefredakteur Etienne Mougeotte öffentlich ankündigte. In Wirklichkeit steckte dahinter jedoch noch etwas Anderes als der Unmut über Zemmours umstrittene Sprüche: Mougeotte, der eine wirtschaftsliberale und pro-EU-orientierte Rechte vertritt – während Zemmour für eine bonapartistische und von vergangener nationaler Größe träumende Linie steht, die schon immer auch zum Traditionsbestand der bürgerlichen Rechte in Frankreich zählte -, konnte Zemmour aufgrund dieser ideologischen Differenz schon seit längerem nicht ausstehen. Noch bevor das Kündigungsgespräch stattfand, wurde es jedoch durch die Redaktion annulliert. Gewöhnlich gut unterrichtete Quellen sehen dafür zwei Ursachen. Zum Einen geben viele Beobachter an, eine größere Anzahl von Lesern hätten protestiert und mit einer Kündigung ihres Abonnements gedroht. Die meist gut informierte rechtsextreme Wochenzeitung ‚Minute’ behauptet ferner, Berater von Nicolas Sarkozy hätten bei Mougeotte mit den Worten interveniert: „Bist Du verrückt?“ Zemmour vertritt demnach in den Augen Präsident Sarkozys eine Komponente der französischen konservativen Rechten, die es nicht zu verlieren gelte.

Das linksnationalistische Wochenmagazin ,Marianne’ – das sich wie üblich für schwer antikonformistisch hält, wenn es den übelsten Quark verbreitet – stufte Eric Zemmour als Opfer einer Quasi-Hexenjagd ein. Und sein Chefredakteur Jean-François Kahn ritt einmal mehr sein Steckenpferd: den Einsatz für die „Nonkonformisten“ und „Verfemten“.

Als assoziierter Blogger, der seinen Meinungsblog auf der Webpage von ‚Marianne’ unterhält, meldete sich der Pariser Oberstaatsanwalt Philippe Bilger zu Wort. Auch er brach der Meinungsäußerungsfreiheit, der in Frankreich so schrecklich mitgespielt werden, eine Lanze. Bilger ist dabei keineswegs nur als Jurist, und recht nicht als unvoreingenommener Betrachter unterwegs. Der Mann ist vielmehr ein knallharter politischer Aktivist, der in den letzten Monaten bei wichtigen Auseinandersetzungen systematisch für die jeweils reaktionärste Position Partei ergriffen hatte.

Auf Rassisten antworten Antisemiten

Es fehlte noch eine letzte Runde, um die Debatte vollends irre werden zu lassen. Nun hatte nur noch gefehlt, dass sich die extreme Rechte zu Wort meldete und auf die „kommunitäre Dimension“, auf die jeweilige Herkunft oder Abstammung der an den Diskussion Beteiligten hinweise. Es sollte auch so kommen.

Eric Zemmour ist ein Franzose nordafrikanisch-jüdischer Abstammung. Das Verhältnis der extremen Rechten – der er historisch nicht zugehört, die ihn jedoch zur Zeit in ihrer Mehrheit vehement verteidigt – zu ihm ist gespalten. Einzelne Webseiten des FN sowie eine Presseerklärung der rechtsextremen Splitterpartei MNR (früher die Partei Bruno Mégrets, jetzt unter Annick Martin) riefen zu einer, von Rechtskatholiken veranstalteten, Solidaritätskundgebung für Zemmour vor dem Redaktionsgebäude des ,Figaro’ am Abend des 25. März mit auf. Auch Eric Zemmour selbst hatte – aus seiner Sicht, als Angehöriger des konservativen Lagers – wiederholt ein ausgesprochen offenes Ohr auch in Richtung extreme Rechte. So spottete er Anfang Juli 2009, als Marine Le Pen in einer Rathauswahl in Hénin-Beaumont mit 48 % der Stimmen in der Stichwahl nur knapp unterlag, in einem Artikel über die Urheber jenes „Meinungsterrors“, der die unentschiedenen Wähler schlussendlich doch noch von der Wahl der Liste der Le Pen-Tochter abgehalten habe. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/lefigaromagazine/2009/07/11/01006-20090711ARTFIG00125–henin-beaumont-ultimes-questions-.php  ; der Artikel wurde auf mehreren rechtsextremen Webseiten wie ,Nations presse info’ und ‚F de Souche’ übernommen. ) Und im ,Figaro-Magazine’ – Wochenendbeilage des ,Figaro’, Ausgabe vom 17./18. April 10 – führt Zemmour nun aus, unter der künftigen Führung durch Marine Le Pen ändere sich der FN: Nunmehr müsse die Regierungsrechte Präsident Sarkozys „entweder diese Kleine-Leute-Wählerschaft der Rechten (die für den FN stimmt) zurück gewinnen“, oder „sich die Bündnisfrage gegenüber dem FN neu stellen“. Vgl. http://www.lefigaro.fr/lefigaromagazine/2010/04/17/01006-20100417ARTMAG00022–si-le-fn-change-.php

Doch Zemmours Herkunft lässt das Orientierungspendel innerhalb der extremen Rechten in unterschiedlichen Richtungen ausschlagen.

Einerseits ist diese Abstammung für einen Gutteil der extremen Rechten, vor allem ihre kolonial geprägten Fraktionen, eine positive Referenz: Im durch Frankreich kolonisierten Nordafrika war den einheimischen Juden Algeriens im Jahr 1870, im Gegensatz zur Mehrheitsbevölkerung aus moslemischen Arabern und Berbern, die französische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Dies beruhte neben anderen Faktoren auf dem Versuch, die altansässigen Einwohner des Landes zu spalten. Neben den Christen wurden die Juden als Teil der Elite in der Kolonialgesellschaft betrachtet, beide sollten gegen die – vor der Unabhängigkeit von 1962 besonders unterdrückte – moslemische Bevölkerungsmehrheit zusammen stehen. Im Sinne des postkolonialen Gedächtnisses auf der Rechten sind nordafrikanische Juden deshalb eine besonders mit dem Empire, dem früheren Kolonialreich verbundene Bevölkerungsgruppe. (Die kolonialnostalgischen Teile der extremen Rechten in Frankreich sind, vor diesem Hintergrund, auch im Allgemeinen philosemitisch und ausgesprochen pro-israelisch: Juden und Israelis sind in ihrer Augen zuvörderst historische „Waffenbrüder“, gegen die Araber.)

Anders als die vorwiegend kolonial-abendländischen Fraktionen rücken andere, etwa „nationalrevolutionäre“ Strömungen innerhalb der extremen Rechten hingegen vor allem den Antisemitismus in den Vordergrund. Zu ihnen zählt der „rot-braune“ Intellektuelle und Schriftsteller Alain Soral. Er nahm in den letzten Jahren ein komplexes Verhältnis gegenüber Eric Zemmour ein. Als der Journalist Ende 2008 im Fernsehen von der „Existenz von Rassen“ – er präzisierte damals: einer „weißen“ und einer „schwarzen“ menschlichen Rasse – gesprochen hatte, begrüßte Soral dies lautstark, ähnlich wie die gesamte extreme Rechte, die Eric Zemmour damals ihre Unterstützung erklärte. Allerdings präzisierte Soral damals, im Unterschied zu anderen ihrer Protagonisten, auch: „Zemmour zählt zu einer Bevölkerungsgruppe, die sich gut beschützt und die es sich deswegen leisten kann, so etwas zu sagen. Ich bin also froh, wenn er die (Anm.: ideologische) Arbeit an unserer Stelle verrichtet/erledigt.“

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=4bZZHvDXmE8[/youtube]

Inzwischen haben die Soralianer (Soral-Anhänger) ferner vor kurzem ein zwanzigminütiges Video ins Internet gestellt, auf dem versucht wird nachzuweisen, dass – im Hinblick auf die so genannt non-konformistischen Äußerungen – „Eric Zemmour die Kopie, und Alain Soral das Original“ sei.

Bei den jüngsten öffentlichen Diskussionen hingegen setzte Soral, der sich mitunter – den Antisemitismus in den Vordergrund und den Rassismus gegen Migranten hintan rückend – auch an den Rändern der Einwanderungsbevölkerung um Einfluss bemüht, auf eine andere Karte. Sein Kumpan, der schwarze französische Antisemit Dieudonné M’bala M’bala, hatte auf Eric Zemmours Auslassungen über die „ethnische“ Dimension von Kriminalität – Zemmour sah sie bei Schwarzen und Arabern angelegt – bereits reagiert, indem er einem Fernsehjournalisten die Replik zu Protokoll gab: „Die großen Straftäter sind eher Juden, wie etwa (der US-Milliardenbetrüger) Bernard Madoff“, unter Hinweis auf Finanzdelikte.

Anfang April 2010, während die Zemmour-Affäre einmal mehr hochkochte, wurde zeitgleich bekannt, dass der Sicherheitsmann eines Geschäfts in der Pariser Vorstadt Bobigny infolge eines ausgearteten Streits mit cholerischen Kunden getötet und seine Leiche im nahe gelegenen Kanal aufgefunden worden war. Ein Verbrechen wie viele andere auch. Die Besonderheit: Der Ermordete war marokkanischer Abstammung, und die fünf durch die Polizei festgenommenen Täter waren junge Juden – wegen kleinerer Gewaltdelikte bekannte Rowdys. Der Totschlag hatte keine politische Dimension. Manche allerdings projizierten eine solche politische Dimension darauf; auch in der örtlichen moslemischen Gemeinde sprachen einige Sprecher wahlweise von einem „rassistischen“ oder einem „zionistischen“ Mord, bevor sie sich in der Mehrzahl der Fälle schnell korrigierten und dies zurücknahmen.

Ein gefundenes Fressen jedoch für einen kalkulierenden antisemitischen Intellektuellen wie Alain Soral. Dieser zog eine Verbindung zur Zemmour-Affäre, und auf dem Blog seiner volksgemeinschaftlich ausgerichteten Gruppe ‚Egalité & Réconciliation’ (Gleichheit und Aussöhnung) wurde am 1. April ein Eintrag unter dem Titel: „Mord in Bobigny: Der Zemmour-Effekt“ publiziert. In dem Artikel wurden vor allem Videos aus den Fernsehnachrichten übernommen, die subtile ideologische Botschaft schien jedoch zu lauten: Nun meinen die Juden in Frankreich, ihnen sei alles erlaubt. Überhaupt nicht subtil, sondern in brutaler Klarheit verbreitete diese Botschaft jedenfalls unterdessen die von einem pathologisch-besessenen Antisemitismus geprägte Webseite ,Anti-protocoles’, die ihren Namen unter Anspielung auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ trägt und durch die beiden leicht verrückten Individuen Hervé Ryssen und Boris Le Lay betrieben wird. Auf ihr steht ein Eintrag vom o3. April unter dem Titel: „Bobigny: Die Juden töten in aller Ungestraftheit.“

In der breiten Öffentlichkeit kam diese Botschaft, die eher in marginalisierten Kreisen verbreitet wurde, so sicherlich nicht an. Aber sowohl bei der Kundgebung gegen die rassistischen Äußerungen Eric Zemmours am Abend des o2. April als auch bei der Pariser Trauerkundgebung für den totgeschlagenen Wachmann – Saïd Bourarach – am Montag, o5. April fiel eine kleinere Gruppe von sehr energischen Frauen migrantischer Herkunft auf, die eine gerade Verbindungslinie zwischen beiden Affären zogen und ungehemmt antisemitische Botschaft verbreiteten. Eine von ihnen trug ferner eine Broschüre von Hervé Ryssen, eines als pathologisch einzustufenden antisemitischen Hetzers, bei sich. Auch Dieudonné tauchte am Rande der Kundgebung am o5. April kurzzeitig auf.

Es wäre also an der Zeit, sämtliche dieser überbordenden Debatten über „ethnische“ Zugehörigkeit und soziale Phänomene im Zusammenhang mit „Abstammung“ so schnell wie möglich herunterzukochen, bevor noch Schlimmeres passiert.

5 Kommentare

  1. Lieber Herr Schlickewitz,

    Ich möchte gerne versuchen, auf Ihre Fragen zu antworten.

    Gläubige und praktizierende Katholiken in Frankreich sind heute schätzungsweise 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung. (Nominell gehören rund 90 Prozent der Einwohner dem katholischen Glauben an, denn die Protestanten bilden eine kleine Minderheit. Rund fünf bis sieben Prozent oder etwa 3,5 Millionen Einwohner sind Moslems, rund ein Prozent oder 600.000 bis 700.000 Menschen sind jüdisch. Aber zu der nominell überwältigend starken katholischen Mehrheit zählen wiederum mehrheitlich Menschen, die nur auf dem Papier Katholiken sind.)

    Rechtskatholiken, die eine Verbindungslinie zwischen ihrem religiösen Glauben und der Politik ziehen, sind wiederum nur ein Teil davon. Ihr promintester politischer Vertreter ist – oder was jedenfalls lange Jahre hindurch – der Graf Philippe de Villiers. Politisch stünde er, würde er in Deutschland leben, ungefähr auf dem rechten Flügel der CSU. Also kein Nazi oder Faschist (aber seine kleine Partei, der Mouvement pour la France – MPF, ,Bewegung für Frankreich‘ – übernahm während ihrer letzten Aufschwungsjahre 2005 und 2006 rund 3.000 frühere Mitglieder des rechtsextremen Front National), wohl aber ein ausgemachter Reaktionär.

    Seine Wahlergebnisse in der Vergangenheit pendelten zwischen einem Höchstwert von 12 bis 13 Prozent, bei den Europaparlamentswahlen 1994 und 1999, und zuletzt 2,2 Prozent (als Präsidentschaftskandidat bei der Präsidentschaftwahl im April 2007). Heute hat Philippe de Villiers seine politische Unabhängigkeit verloren, seitdem er im August 2009 ein formelles enges Bündnis mit Nicolas Sarkozys Regierungspartei UMP schloss. Inzwischen kann man Ph. de Villiers als rechtes Beiboot Sarkozys bezeichnen. (Ein prominenter Rechtsradikaler, der bis vor kurzem Mitglied von Ph. de Villiers Kleinpartei war – Jacques Bompard, Bürgermeister von Orange, von 1972 bis 2005 beim Front National und danach bei Ph. de Villiers – hat diese deswegen im Januar 2010 verlassen.)

    Neben der Kleinpartei Philippe de Villiers gibt es auch Rechtskatholiken im offen rechtsradikalen, neofaschistischen Spektrum. Etwa innerhalb oder am Rande des Front National. Beispielsweise in Gestalt der ,Comités Chrétienté-Solidarité‘ unter Bernard Antony, der sich 1983/84 der rechtsextremen Partei anschloss, aber – enttäuscht von manchen Entwicklungen beim FN – seit 2006 keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlt. Andere rechte Katholiken bleiben beim FN. Oder sie haben eigene, radikale Splittergruppen gegründet. Wie beispielsweise ,Dies Irae‘ (,Tag des Zorns‘, auf Latein) in Bordeaux, eine militante katholisch-faschistische Splittergruppe in Bordeaux. Auf sie wurde die Öffentlichkeit soeben durch eine Reportage der Fernsehsendung ,Les Infiltrés‘ aufmerksam, die vor acht Tagen ausgestrahlt wurde. Seitdem wurden mehrere Strafanzeigen gegen die Gruppen wegen rassistischer und antisemitischer Äusserungen, die in der Sendung zu hören waren, erstattet. Allerdings laufen seit dem letzten Wochenende auch Strafanzeigen gegen Antifaschisten, die angeblich im Gegenzug eine rechtsradikale Buchhandlung in Bordeaux demoliert haben.

    Der Rechtskatholizismus in Frankreich ist ein besonderer politischer Faktor (der kaum Seinesgleichen in Deutschland findet), u.a. deswegen, weil die Revolution von 1789 einen relativ scharfen Einschnitt in der französischen Geschichte darstellte. Damals bildete sich, als Gegenbewegung zur Französischen Revolution, eine monarchistische und katholische konterrevolutionäre Bewegung heraus. Der spätere Rechtskatholizismus ist – mit abgestuften ,Radikalitätsgraden‘ – ein Erbe dieses damaligen Lagers, mit Umwegen über Vichy für einen Teil davon. Eine Hochburg der katholisch-royalistischen Bewegung gegen die Revolution war 1793/94 übrigens die westfranzösische Landschaft La Vendée. Heute ist Philippe de Villiers der Bezirkspräsident just in der Vendée – und das ist kein Zufall.

    Undd was ihr Verhältnis zu den Juden betrifft: Das ist unterschiedlich. Historisch fällt/fiel es eher rein negativ aus. Aber der Antisemitismus ist historisch relativ diskreditiert, auch in eher konservativen Kreisen jedenfalls – nicht unter den ziemlich klar faschistischen Strömungen. Phillippe de Villiers gibt sich in den letzten Jahren eher philosemitisch, und ruft zum gemeinsamen Bündnis von Christen und Juden gegen den gemeinsamen Hauptfeind (die bösen Moslems) auf. Dagegen sind die offen rechtsradikalen Gruppen mit katholischer Tradition auch ziemlich ungeschminkt antisemitisch.

  2. Herzlichen Dank M. Schmid für diesen interessanten Beitrag. Vor allem die von Ihnen vermittelten Hintergrundinformationen erachte ich als sehr wichtig.

    Sie erwähnen u.a. die „Rechtskatholiken“. Wie hoch muss man deren Einfluss in unserem Nachbarland einstufen?
    Wie bedeutend ist für die anderen Parteien die katholische Wählerklientel?
    Welche Macht hat der Katholizismus in Frankreich heute noch?
    Was kann man generell über das Verhältnis der französischen Katholiken (auch der Kirche) zu Juden sagen?

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