Ernst Federn und Rudolf Ekstein, Wiener Emigranten, Juden, Widerstandskämpfer und enge befreundete Kollegen Bruno Bettelheims, gehörten zu den Pionieren der Freudschen, der Wiener psychoanalytisch-pädagogischen Aufbruchbewegung der 1920er und 1930er Jahre. 1992, kurz nach Bettelheims Selbstmord, entstand das nachfolgende Interview mit Rudolf Ekstein und Ernst Federn, über ihre Erinnerungen an die damalige Wiener psychoanalytisch-pädagigische Bewegung – die sie in einem „Kulturtransfer“ (Bettelheim) in die USA und später wieder zurück nach Europa gebracht haben…
Von Roland Kaufhold
Auf emotionale Weise zur Psychoanalyse
Roland Kaufhold: Bruno Bettelheim hat in seinem letzten Buch, in „Themen meines Lebens“ (Bettelheim, 1990), erstmals beschrieben, welche persönlichen Erlebnisse ihn zu einer so intensiven Beschäftigung mit der Psychoanalyse veranlasst, motiviert haben – seine Eifersucht gegenüber dem älteren Otto Fenichel, der – so berichtet Bettelheim – als Jugendlicher so eindrucksvoll von dieser ominösen Psychoanalye zu berichten wusste, dass er damit ein Mädchen, welches Bettelheim sehr mochte, beeindruckte. Weiterhin hat er in diesem Buch in anrührenden Worten eine Begegnung mit einem psychotischen Jungen während seiner eigenen Analyse bei Richard Sterba geschildert, durch die ihm das eigentliche Wesen der Psychoanalyse deutlicher wurde. Bettelheim schilderte diese sehr privaten Episoden, um deutlich zu machen, dass „die Pioniere der Psychoanalyse auf zwar ganz andere, aber mehr oder weniger doch persönliche und emotional bedingte Weise (zur Psychoanalyse gekommen waren), und unter ihnen blühte sie dann zur Wissenschaft auf (S. 38).
Wenn Sie zurückblicken: Was waren Ihre Motive, sich mit der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik zu beschäftigen?
Ernst Federn: Als Sohn von Paul Federn, der 1903 als fünfter zu Freud kam und von 1924 bis 1938 dessen Stellvertreter war, war die Psychoanalyse für mich eine Selbstverständlichkeit. Mit 13 Jahren wollte ich Erzieher werden wie August Aichhorn, ein Schüler und Freund meines Vaters. Mit 14 Jahren wendete ich mich aber ganz einer sozialistischen Politik zu. Wie mein Vater, der Sozialdemokrat war, interessierte mich die Anwendung der Psychoanalyse auf soziale Fragen. Nachdem ich 1936 von der Universität aus politischen Gründen ausgeschlossen wurde, wurde ich Sekretär meines Vaters. Als solcher las ich alle Druckfahnen des „Psychoanalytischen Volksbuches“. Psychoanalytiker wurde ich aber erst nach meiner Analyse bei Herman Nunberg in den Vereinigten Staaten, nach dem Tode meines Vaters 1950.
Rudolf Ekstein: Als junger Bursch, 13 Jahre alt, hatte ich ein Ohrenleiden, das mich einige Wochen in ein Spital brachte, allgemeines Krankenhaus in Wien. Ich hatte dann Gehörschwierigkeiten. Als ich in die Schule zurückkam, ich glaube, es war die zweite Klasse in der Untermittelschule, konnte ich den Abschluss nicht machen und musste die Klasse wiederholen. Ich war niedergeschlagen, ich war ein rührendes Beispiel für Alfred Adlers Minderwertigkeitsgefühl. Mein Mittelschullehrer hatte ein besonderes Interesse für einen stotternden Schulkameraden, den die ganze Klasse nicht ansprechen konnte. Dann auch für mich, den jungen Burschen, der die Klasse wiederholen musste. Ich entsinne mich noch eines Erlebnisses mit ihm, das mich zu einem neuen Selbstverständnis brachte. Ich sollte einen Aufsatz schreiben: Wir lasen die Nibelungensage. Ich entschloss mich, über Hagen von Tronjew zu schreiben. Ich hab‘ noch den Aufsatz aus dieser Zeit. Ich beschrieb, wie Hagen von Tronjew gegen die Hunnen kämpfte, den König retten konnte, sein Auge am Wasgenstein verlor. Ich identifizierte mich mit Hagen von Tronjew in dieser Geschichte, der, um seinen schwachen Vater zu retten und zu verteidigen, das Gehör verlor. Ich erinnere mich noch, wie mich der Professor lobte und mich bat, diese Arbeit den anderen Kindern vorzulesen. Ich war so stolz und erfolgreich, und von da an war ich der Beste in der deutschen Sprache, der Beste in den deutschen Aufsätzen, und bald fragte er mich, ob ich für diese Kinder ein Hauslehrer sein wolle.
Ich wollte nun ein Lehrer werden, ein Lehrer so wie er, der Kinder versteht, Lehrer und Eltern beschützt, langsam darauf kommt, wie man mit Eltern und Kindern zusammenarbeiten muss, und so fand ich den Weg, erst zu den Büchern von Alfred Adler, „Menschenkenntnis“ und andere; noch heute sind die in meiner Bibliothek. Als ich dann im Sommerheim als Erzieher arbeitete, nach der Matura, ein beginnender Universitätsstudent, diskutierte ich oft mit jungen Leuten psychologische Fragen, diskutierte den Unterschied zwischen Alfred Adler und Freud. Einige dieser Leute waren schon psychoanalytisch orientiert. Ich fand dann durch deren Anregung das psychoanalytische Institut in der Berggasse, wo es Kurse für Pädagogen gab. Ich brauchte nur wenige Minuten zur Berggasse, und ich entdeckte Freud. Schon vorher hatte mir ein Onkel zum Geburtstag die ersten Freud-Bücher geschenkt. Dies bewegte mich, mich zu August Aichhorn und zu Anna Freud zu begeben, und zu gleicher Zeit engagierte ich mich auch in der sozialistischen Jugendbewegung. Mein Vater war sozialdemokratisch orientiert, wurde dann später ein Mitglied der sozialistischen Partei. Das trug sich während einer Zeit zu, in der es Arbeitslosigkeit gab, dann gab es da Hitler, die Massen wandten sich dem Führer zu. Der österreichische Faschismus trieb viele von uns, u. a. auch mich, in die Untergrundbewegung. Zu gleicher Zeit hatte ich mit der psychoanalytischen Ausbildung begonnen in der Absicht, eine Lehranalyse zu machen, um ein analytisch orientierter Erzieher zu werden. Später, als ich nach Amerika kam, wollte ich Psychoanalytiker werden.
Ein belastender Beruf?
Kaufhold: Ich denke, eine psychotherapeutische Tätigkeit insbesondere mit sehr beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen ist ein sehr belastender Beruf. Warum sind Sie Psychoanalytiker, Psychoanalytischer Sozialarbeiter geblieben? Haben sich ihre Motive für diese Beschäftigung im Laufe der Jahre geändert?
Federn: Einmal Psychoanalytiker, immer Psychoanalytiker.
Ekstein: In meinem Leben konnte ich sehen, dass die eigene Analyse einem hilft, die Schwierigkeiten zu überwinden; langsam zu lernen, dass ein Unterschied besteht zwischen Agieren und wirklicher Aktion. Damals, in den 1930er Jahren, wurde mir klar, dass ich das Ziel, ein Analytiker zu werden, nie aufgeben würde. Es gelang mir dann, die unterbrochene Analyse – unterbrochen durch die Okkupation der Hitlerbanden – in Amerika fortzusetzen. In der anderen Kultur aber gab es damals keinen Platz für die Psychoanalytische Pädagogik. Ich wandte mich der Sozialarbeit, der Psychotherapie und der Psychoanalyse zu. Es war mir dann klar, wie Ernst Federn es ausdrückte: einmal Psychoanalytiker – immer Psychoanalytiker.
Das Wesen der Psychoanalytischen Pädagogik
Kaufhold: Sie haben – ähnlich wie Bettelheim – jahrzehntelang mit psychotischen, verhaltensauffälligen bzw. delinquenten Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Wie hat sich Ihr Denken über das Wesen der Psychoanalyse sowie der Psychoanalytischen Pädagogik (vgl. Kaufhold, 2001) im Laufe der Jahre verändert?
Federn: Mein Beruf ist schwer, aber sehr abwechslungsreich. Als Socialworker, auf deutsch Sozialtherapeut, konnte ich in der Praxis studieren, was mich immer theoretisch interessiert hat (vgl. Federn, 1999). Ich habe über die Psychoanalyse heute dieselben Ansichten wie vor 50 Jahren.
Ekstein: Meine Ansichten über die Psychoanalyse haben sich nicht wirklich verändert, hoffentlich vertieft. Ich habe die Analyse nie wirklich als isolierte Idee gesehen, sondern als eine Bewegung, die sich fortwährend ändert, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern.
Die Entwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik
Kaufhold: Die Psychoanalytische Pädagogik erlebte in den 1920er und 30er Jahren ihre Blütezeit. Engagierte Pädagogen und Psychoanalytiker entdeckten neue Aufgabenfelder, entwickelten auf analytischer Basis angemessenere Umgangs- und Behandlungsformen für beeinträchtigte Kinder. Auch im publizistischen Bereich waren die Leistungen bemerkenswert: So erschien von 1926 bis 1937 die Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik. Diese hoffnungsvolle Phase wurde durch den Nationalsozialismus zerstört, die meisten Psychoanalytiker und Psychoanalytischen Pädagogen mussten emigrieren. Erst in den 1960er Jahren wurden hierzulande vereinzelt wieder einige der Texte der damaligen Zeit neu aufgelegt. Nun, seit einigen Jahren, scheint die Psychoanalytische Pädagogik im deutschsprachigen Raum wieder an Bedeutung zu gewinnen. Sie haben diese Entwicklung als Zeitzeuge bewusst miterlebt, z. T. mitgestaltet. Glauben Sie, dass die Psychoanalytische Pädagogik eine vergleichbare Bedeutung wiedererlangen kann wie in ihren Anfangszeiten? Oder haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu sehr geändert?
Federn: Die Psychoanalytische Pädagogik wird wieder eine Bedeutung bekommen. Welche Formen sie nehmen wird, ist schwer vorauszusehen. In jedem Land andere. Sie kann sich nur in einer freien Gesellschaftsordnung entwickeln.
Ekstein: Ich finde, dass in Amerika die Fürsorge, social work, einen Teil dieser Aufgaben übernommen hat. Manche der psychoanalytischen Institute, viel zu wenige, arbeiten mit Erziehern. Ich habe einige Möglichkeiten gehabt, an dieser Arbeit mitzuwirken. Ich stimme mit Ernst Federn überein, dass die Psychoanalytische Pädagogik nur in einer freien Gesellschaftsordnung möglich ist.
Optimismus oder Skepsis?
Kaufhold: Auch in Bezug auf die Möglichkeiten, die unmittelbare Wirksamkeit einer psychoanalytischen Arbeit mit Kindern, hat es in den letzten 80 Jahren unterschiedliche Standpunkte gegeben. Anfangs war man voller Optimismus. Sigmund Freud, der gegenüber der Ausweitung der psychoanalytischen Technik auf weitere Störungsbilder wohl eher zurückhaltend war, hat in seinem 1913 verfassten Vorwort zu Die Psychoanalytische Methode des Pfarrers und Psychoanalytikers Oskar Pfister geradezu euphorisch ausgerufen: „Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Erziehung bald die Hoffnung erfüllen, die Erzieher und Ärzte an sie knüpfen dürfen!“ (GW X, S. 450). Können Sie noch den Optimismus der Anfangszeit teilen? Oder sind Sie in ihrer Erwartung eher skeptischer geworden?
Federn: Die Grundideen der psychoanalytischen Erziehungslehre sind richtig, wie sie von den Gesellschaften aufgenommen werden, kann man nicht vorauswissen.
Ekstein: Inzwischen bin ich wohl auch skeptisch geworden, auch wenn ich die alte Hoffnung nie aufgegeben habe, in verschiedenen Schulen gearbeitet habe. Manchmal sehe ich die Entwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik im dialektischen Sinne. Ich glaube, dass man damit rechnen muss, dass der Kampf zwischen Erneuerung und Reaktion hin- und hergeht.
Bedeutsame Aufgaben
Kaufhold: An diese Überlegungen schließt sich die Frage an, was heute als die wichtigsten Aufgabengebiete einer Psychoanalytischen Pädagogik gesehen werden könnten: Prävention, Kulturkritik und Aufklärung, psychotherapeutische Behandlung, Selbstreflexion, Beratung professioneller Berufe, Paar-, Gruppen- und Familientherapie, wie sie u.a. H. E. Richter entwickelt hat. Worin sehen Sie die bedeutsamsten Aufgaben einer Psychoanalytischen Pädagogik in der heutigen Zeit?
Federn: Die Psychoanalytische Pädagogik bedeutet eine vollkommen neue Einsicht in das Leben unserer Kinder. Durch ihre Beschreibung des Unbewussten wissen wir heute viel mehr als vor 70 Jahren. Wie lange es dauern wird, bis sich diese Erkenntnisse in den Gesellschaften durchsetzen, kann man nicht sagen, ich denke etwa 100 Jahre.
Ekstein: So, wie ich Amerika kenne, gibt es starke Inseln der Psychoanalytischen Pädagogik. Manchmal auch eine Tendenz, pädagogisch zu denken, aber immer nur Psychotherapie betreiben zu wollen.
Zwischen den verschiedenen Berufen, den Psychoanalytikern, den Psychiatern, den Fürsorgern, den Lehrern, kommt es manchmal zur
Zusammenarbeit, manchmal zu politischen Kämpfen um die Lizenz, die öffentliche Anerkennung. Ernst Federns Einschätzung ist vielleicht zu pessimistisch: Wenn diejenigen, die wissen, wie es funktioniert, dabei bleiben, entsteht rasch oder langsam ein Fortschritt. Auch wenn sich unsere Arbeitstätigkeiten nur in kleinen menschlichen Inseln abspielen, bin ich dennoch optimistisch.
Die Milieutherapie
Kaufhold: Bruno Bettelheim ist vor allem durch seine Entwicklung der Milieutherapie in der Orthogenic School berühmt geworden. Sein Grundgedanke war, dass die analytische Methode im „klassischen“ Sinne schwer beeinträchtigte Kinder überfordert – deshalb müsse sie modifiziert werden.
Statt das benachteiligte Kind der äußeren Welt anzupassen, gelte es, die unmittelbaren Lebensumstände den Bedürfnissen dieser Kinder anzupassen. Ansonsten sei keine Besserung, keine Heilung möglich.
Sie haben durch eine Verbindung der Psychoanalyse mit der Sozialarbeit wichtige Impulse für die Entwicklung der Milieutherapie gegeben. Was scheinen Ihnen die wesentlichsten theoretischen und praktischen Aspekte der Milieutherapie zu sein? Wo haben Sie sich in Ihrer eigenen Praxis in einer gewissen Differenz zu Bettelheims Pioniertätigkeit befunden?
Federn: Milieutherapie ist die Folge dieser neuen Erkenntnisse über frühe Ichentwicklungen und bei den meisten Ichstörungen die bevorzugte Therapieform. Ich habe aber wenig mit so schweren Störungen zu tun gehabt wie Bettelheim. Ich habe manche solcher Fälle supervidiert.
Ekstein: Wie mein Freund Bettelheim habe ich auch viel mit schwerkranken Kindern zu tun gehabt, mit Psychotikern, den Grenzfällen. Ich habe viel mit Bruno Bettelheim diskutiert. Wir haben es für wichtig angesehen, kleine pädagogische Inseln zu gründen wie die Orthogenic School oder die Menninger Foundation, wo ich 10 Jahre gearbeitet habe. Von großer Bedeutung war die Veränderung der Umgebung, wie dies in der Orthogenic School realisiert wurde. Es waren Beiträge zur Psychotherapie mit solchen Kindern. Ich glaube, wäre Bruno Bettelheim am Leben und könnten wir wieder zusammen sprechen, dann könnten wir heute einen gemeinsamen Weg gehen. Sowohl Milieutherapie als auch individuelle Psychotherapie können eine Beitrag hierzu leisten. Wir müssen eine Brücke zwischen beiden Arbeitsformen finden.
Nachholbedarf der Heilpädagogik
Kaufhold: Ein Gebiet, auf dem die Psychoanalytische Pädagogik quasi ein natürliches Anwendungsgebiet finden könnte, ist der Bereich der Heil-, der Behindertenpädagogik. Bruno Bettelheim hat sich selbst niemals im engen Sinne als „Heilpädagoge“ bezeichnet, obwohl seine Tätigkeit gewiss eine „heilpädagogische“ war. Sie selbst haben – sowohl in Amerika als auch in Europa – mit Grenzfallkindern, mit psychotischen und kriminellen Kindern gearbeitet. In der Bundesrepublik haben vor allem Aloys Leber und sein Schüler Manfred Gerspach den Versuch unternommen, eine eigenständige psychoanalytische Heilpädagogik zu konstituieren. Würden Sie sich selbst als Heilpädagogen sehen? Ist nicht gerade auf dem Gebiet der Heilpädagogik ein erheblicher Nachholbedarf gegenüber den Erkenntnissen der Psychoanalytischen Pädagogik gegeben?
Federn: Ich war zweieinhalb Jahre Supervisor, d. h. leitender Beamter in einem Heim für gestörte Adoleszenten von New York. 14 Jahre war ich als Sozialtherapeut tätig. Ich teile die Ansichten meines Freundes Prof. Leber. Ich bin selbst kein Heilpädagoge, sondern ein Sozialtherapeut, d. h. ich behandele, betreue und berate Individuen mit ihren persönlichen und sozialen Schwierigkeiten. Die Heilpädagogik sollte psychoanalytische Erkenntnisse aufnehmen.
Ekstein: Mein Wunsch, eine Brücke herzustellen zwischen Heilen und Erziehen, sollte unsere Zusammenarbeit stärken. Ich sehe mich als Pädagoge, der heilt, als Psychotherapeut, der erzieht. Heute existiert wieder der politische Kampf, z. B. dass Ärzte das Heilen sozusagen wegnehmen wollen, dass die Erzieher ihren Bereich erweitern wollen. Daher gibt es in Amerika ununterbrochen Diskussionen über die Ausbildung, die Legalität der Ausbildung.
Psychodynamische Sicht
Kaufhold: Wenn Sie zurückblicken: Welchen Einfluss hat Ihre Arbeit – sowie die Arbeit Ihrer Freunde – auf den vorherrschenden Umgang mit solchen Kindern gehabt? Hat sich die Einstellung der Gesellschaft sowie des Erziehungssystems – sowohl in den USA als auch in Europa – zu solchen „Kindern in Schwierigkeiten“ geändert? Ist eine psychodynamische Sicht solcher „Verhaltensauffälligkeiten“ heute von relevanter Bedeutung?
Federn: Wo ich gearbeitet habe und solange ich gearbeitet habe, habe ich Erfolge erzielt. Diese sind schwer zu messen, da sie immer mit anderen gemeinsam erreicht werden. Vieles, was ich lehrte, wurde angenommen und anerkannt.
Ekstein: Ich habe in verschiedenen Organisationen gearbeitet, z. B. der Menninger Foundation und in New York, später, an der Reiss-Davis-Clinic (vgl. Kaufhold, 2001). Ich konnte natürlich Erfolge sehen, manchmal unter dem Druck sozialer und politischer Veränderungen. Wir leben in einer Welt, in der es Fortschritt und Reaktion gibt. Wir müssen bei unserer Aufgabe bleiben.
Schicksal der Psychoanalyse in den USA
Kaufhold: In seinem letzten Gespräch mit Rudolf Ekstein, am 10.1.1990, zwei Monate vor seinem Tod, hat Bruno Bettelheim den Unterschied zwischen der Psychoanalyse in den USA und in Europa hervorgehoben. Er sagte: „Though psychoanalysis has many adherents in America, I don’t know the degree to which it really benefits psychoanalysis as an intellectual discipline. In America, there is a desire to better oneself, to improve oneself, rather than to understand oneself. Understanding might be disappointing, depressing even. But Freud was interested in understanding the inner world of man. Freud feared that psychoanalysis in the USA would be superficially accepted without really being understood. And some of his fears have turned out to be valid. Psychology in the United States is pragmatic and experimental, but not introspective. But Freud was only interested in an introspective psychhology, not in an experimental.“ Sie haben – wie Bettelheim – die Entstehung der Psychoanalyse in Wien miterlebt und mussten wie er in die USA emigrieren. Teilen Sie Bettelheims Ansicht?
Federn: Im großen und ganzen teile ich Bettelheims Ansichten über das Schicksal der Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten. Allerdings in der Psychiatrie und Psychosomatik hat sie große Fortschritte gebracht. Die dynamische Psychiatrie ist eine Folge der Psychoanalyse.
Ekstein: Bettelheim und ich haben natürlich nie vergessen, was Freud über Amerika dachte. Sein Entschluss, niemals nach Amerika auszuwandern. Es ist wahr, dass er eine pragmatische Welt geschildert hat, eine praktische Welt. Viele emigrierte Analytiker aus Europa haben dazu beigetragen, dass in den USA zumindest ein gewisses Verständnis für den introspektiven Charakter der Psychoanalyse entstehen konnte.
Immer, wenn ich nach Österreich zurückkehre und mit meinen Kollegen arbeite, hoffe ich, dass wir etwas zurückbringen, dass unsere wissenschaftlichen Ausarbeitungen anerkannt werden, eben das alte dialektische Hin und Her.
Die Kraft des Todestriebes
Kaufhold: Dieses Gespräch beendet Bettelheim mit einer Bemerkung zu dem ewigen Kampf zwischen Eros und Thanatos. Ganz im Sinne von Freud benannte er als die wichtigste Aufgabe des Menschen: „Ich hoffe, die Menschen werden sehr viel seriöser über die destruktiven Tendenzen im Menschen nachdenken: woher sie kommen; was mit ihnen getan werden kann; wie wir sie meistern können – so dass, um Freud zu zitieren, in dem ewigen Kampf zwischen Eros und Thanatos, Eros schließlich gewinnen wird, zumindest für die Zeit unseres Lebens. Jedoch, zum Schluss gewinnt Thanatos immer. Wenn wir dies verantwortungsvoll annehmen wird das Leben für uns sehr viel bedeutungsvoller werden. Dies glaube ich.“ Die Überzeugung von der existentiellen Bedeutsamkeit des Todestriebes hat Bettelheim sein Leben lang immer wieder hervorgehoben. Man hielt ihm – wie auch Freud – deshalb gelegentlich einen gewissen Pessimismus vor. Teilen Sie Bettelheims – und Freuds – Überzeugung von der Existenz und zerstörerischen Kraft des Todestriebes?
Federn: Ich teile Bettelheims und Freuds Ansichten vom Todestrieb.
Ekstein: Als Freud seine ursprüngliche analytische Theorie veränderte, aus dem Aggressionstrieb langsam der Todestrieb wurde – ich möchte seine Arbeit Jenseits des Lustprinzips hervorheben – war er bereits ein alter, kranker, von Krebs gequälter Mensch. Und der Sieg von Thanatos gegen Eros, die Erfahrungen des 1. Weltkrieges – für Bettelheim später der 2. Weltkrieg – veranlasst mich, über den Pessimismus nachzudenken, die Rudolf Ekstein im Juni 1992 Art, wie alte Menschen über ihr Leben denken. Der menschliche Lebenslauf, mit Hoffnung am Anfang und einer Zukunft und immer mehr ein Spiel mit sogenannten guten alten Tagen, der Kindheit, der Jugend, Sterbensgedanken.
Rudolf Ekstein im Juni 1992, © Psychosozial-Verlag & Roland Kaufhold
Schaden durch den Nationalsozialismus
Kaufhold: Sie haben beide in den 1930er Jahren in Wien im Untergrund gearbeitet. Sie sind aus politischen Gründen inhaftiert worden (vgl. Kaufhold, 1999, 2001). Sie, Herr Ekstein, konnten durch einen glücklichen Umstand noch rechtzeitig emigrieren. Sie, Herr Federn, wurden von den Nationalsozialisten von 1938 bis 1945 in Dachau und Buchenwald inhaftiert. Sie haben dort Bruno Bettelheim kennengelernt.
Vor ca. zehn Jahren hat es eine heftige Auseinandersetzung zur Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus gegeben, die vor allem in der „Psyche“ publiziert wurde. Sie, Herr Federn, haben hierzu gelegentlich Stellung genommen (vgl. Ernst Federns Beitrag „Weitere Bemerkungen zum Problemkreis `Psychoanalyse und Nationalsozialismus´“ (1985), publiziert in diesem haGalil – Themenschwerpunkt). Ohne diese Diskussionen hier zu wiederholen: Glauben Sie, dass die Psychoanalytische Pädagogik durch den Nationalsozialismus einen größeren Schaden erlitten hat als die Psychoanalyse insgesamt?
Federn: Die Psychoanalyse konnte als Heilmethode überleben, die Psychoanalytische Pädagogik wurde in Deutschland von den Nazis vernichtet und entstand erst wieder nach etwa 20 Jahren.
Ekstein: Die Psychoanalytische Pädagogik hat natürlich unglaublichen Schaden erlitten. Nicht mehr als die Psychoanalyse. Ich glaub‘, dass sie sich erholen kann. Es hat wohl länger gedauert, bis es wieder eine Gruppe von hoffnungsvollen Erziehern und Lehrern gab, die an eine Pädagogik hat glauben können, die von Einsicht lebt, von Verständnis für das Kind. Es ist interessant, dass die Psychoanalytische Pädagogik vor 1938 insbesondere bei Kindergärtnerinnen und Volksschullehrern Interesse fand, die an einer unmittelbaren Beziehung zu dem Kind interessiert sind, anders als etwa bei Mittelschullehrern und Hochschullehrern, die mehr für den Gegenstand, der unterrichtet werden soll, ausgebildet wurden.
Psychologie der Extremsituation
Kaufhold: Bruno Bettelheim hat insbesondere in seinem Buch „Erziehung zum Überleben“ (Bettelheim, 1979) Grundzüge einer „Psychologie der Extremsituation“ (vgl. Kaufhold, 1999) entwickelt. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen in Dachau und Buchenwald hat er zumindest zeitweise erhebliche Zweifel daran gehabt, ob eine psychoanalytische Ausbildung einen Beitrag zum Überleben, zur Bewältigung extremer traumatischer Erfahrungen zu leisten vermag. Inwieweit, glauben Sie, kann die Psychoanalyse zur Bewältigung solcher extremer Erlebnisse hilfreich sein?
Federn: Mir haben die psychoanalytischen Erkenntnisse im Lager das Leben gerettet, ob das für andere gelten kann, ist nicht zu sagen.
Ekstein: Ich weiß nicht, ob eine längere Inhaftierung mir den Glauben an die Psychoanalyse genommen hätte. Ich weiß nur, dass mir in meiner eigenen Lebensgeschichte – die Auswanderung, das Neu-Beginnen, die neue Sprache – die psychoanalytischen Einsichten immer geholfen haben, dass ich der persönlichen Analyse unglaublich viel zu verdanken habe.
Der Beitrag der Erziehung
Kaufhold: Sie, Herr Federn, haben einmal sehr schön geschildert, wie Sie Ihre eigene Kindheit als besonders günstig empfunden haben, um extreme Belastungen im Leben zu meistern (Federn, 1999). Sie haben beschrieben, wie Sie Ihren Vater, den Psychoanalytiker und engen Freud-Mitarbeiter Paul Federn, als überaus gütig und beschützend erlebt haben. Seine pädagogische Überzeugung war, dass Eltern ihre Kinder nicht erziehen, sondern dass sie ihnen vor allem Schutz und Unterstützung zukommen lassen sollten. Die Erziehung werde dann durch die Lebensumstände schon von alleine hinzukommen. Ihnen selbst habe dies auf jeden Fall sehr dabei geholfen, sich „im Leben immer irgendwie durchzumogeln“. Ist dies der wichtigste Beitrag, den die Erziehung zur Bewältigung von schwierigen Erfahrungen zu leisten vermag? Was könnte von Seiten der Erziehung sonst noch getan werden?
Federn: Ob eine psychoanalytische Erziehung bessere Resultate erzielt als eine nicht – analytische ist nicht feststellbar. Es gibt dabei zu viele Variablen.
Ekstein: Obwohl ich in einer nicht sehr freundlichen Welt aufgewachsen bin, hatte ich eine Familie, die an mich geglaubt, die mich beschützt hat.
Siegfried Bernfeld
Kaufhold: Am Anfang der Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik hat es eine bedeutende Persönlichkeit gegeben, die nachdrücklich den Zusammenhang zwischen pädagogischen Möglichkeiten und gesellschaftlich bedingten Grenzen in den eigenen psychoanalytisch-pädagogischen Arbeitsfeldern markiert hat: Siegfried Bernfeld. Bernfeld (vgl. Kaufhold, 2008) war sowohl ein Vorreiter der Jugendbewegung, der Psychoanalytischen Pädagogik als auch einer sozialpolitischen, einer marxistischen Tradition. Für Sie selbst war diese gesellschaftskritische Dimension der psychoanalytischen Pädagogik in Wien von großer Bedeutung: Sie wurden u.a. wegen Ihrer politischen Betätigung im Untergrund verfolgt und wurden in Konzentrationslager eingesperrt. Sie sind danach in die USA emigriert, mussten unter völlig veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neu anfangen.
Siegfried Bernfeld, © Psychosozial-Verlag & Roland Kaufhold
Sie haben Siegfried Bernfeld persönlich gekannt. Welche Bedeutung messen Sie der kritischen Tradition zu, die Siegfried Bernfeld auch heute noch repräsentiert? Wie erklären Sie sich, dass es heute innerhalb der Psychoanalytischen Pädagogik nicht mehr so eindrucksvolle, auch in der Öffentlichkeit wahrgenommene Persönlichkeiten zu geben scheint? Welchen Rang messen Sie heute der „Bernfeld’sehen Tradition“ zu?
Federn: Bernfeld war ein hervorragender Denker und Mensch. Er zeigte die Grenzen der Psychoanalytischen Pädagogik auf. Seine Auffassung vom „sozialen Ort“ ist grundlegend. Ob es heute auch solche Menschen gibt, kann ich nicht sagen.
Ekstein: Siegfried Bernfeld hat einen großen Einfluss auf mich gehabt. Ich lernte ihn an der Universität kennen, nachdem ich vorher sein Buch „Sysiphus oder die Grenzen der Erziehung“ gelesen hatte. Dieses Buch bildete für mich einen Übergang zu soziologischen Theorien, zum Marxismus, zur Psychoanalyse. Für mich hat Bernfeld viel bedeutet. Als ich ihn dann in Amerika, im Exil wiedertraf, war sein Optimismus der revolutionären Wiener Jahre verschwunden. Er erschien mir als ein pessimistischer, wenn auch scharfdenkender Mensch.
Laienanalyse
Kaufhold: Die Frage der Laienanalyse hat in der Geschichte der Psychoanalyse immer eine große Bedeutung gehabt. Freud selbst hat die Laienanalyse immer verteidigt. Insbesondere in den, USA wurde sie jedoch heftig bekämpft. Freud dachte deshalb sogar daran, die amerikanische Sektion aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung auszuschließen.
Die Frage der Laienanalyse hat für die Psychoanalytische Pädagogik eine noch größere Bedeutung gehabt, kamen doch die meisten Kinderanalytiker aus nicht-medizinischen Berufen. Bruno Bettelheim war ein Laienanalytiker, Sie beide ebenfalls. Nach Ihrer Emigration in die USA war dieses Thema für Sie von unmittelbarer Bedeutsamkeit – da Sie nicht Medizin studiert hatten, hat man Sie anfangs nicht psychotherapeutisch arbeiten lassen.
Welche Bedeutung messen Sie heute dieser Fragestellung zu? Wird die Frage der Laienanalyse heute nicht bevorzugt in der Weise „gelöst“, dass man z.B. psychoanalytisch ausgebildeten Pädagogen die – um es deutlich auszudrücken -ein wenig belächelte Arbeit mit Kinder konzediert – um sie so indirekt aus anderen Tätigkeitsfeldern herauszudrängen?
Federn: Das Problem „Laienanalyse“ ist ein historisches. Bei Ärzten entstanden, alle sechs ersten Analytiker waren Ärzte, entwickelte sich die Psychoanalyse zu einer Humanwissenschaft. Sie hat heute mit der Medizin nur in der Psychiatrie und der Psychosomatik gemeinsame Aufgaben. Lebensprobleme und Fehlverhalten gehören nicht in das Gebiet der Medizin.
Ekstein: Die Frage der Laienanalyse war für mich natürlich besonders wichtig, und ich entsinne mich, wie schwierig es war, die analytische Ausbildung hier in Amerika fortzusetzen. Langsam änderte sich auch mein Ziel, nur pädagogisch zu arbeiten, und ich wollte dann ein Analytiker werden, nicht nur ein psychoanalytisch ausgebildeter Pädagoge. Dafür schien kein Platz in Amerika. Den Kampf zwischen den sog. Laienanalytikern und medizinischen Analytikern habe ich dann miterlebt. Dieser Kampf geht weiter. Man hat mehr und mehr Ausnahmen gemacht, so dass jene Psychologen, Fürsorger oder Soziologen angenommen wurden, die besonders begabt waren. Das hat es auch schon in Wien gegeben, dass z. B. ein Kris angenommen wurde, weil er besonders begabt war. Es war sozusagen eine Regel des Genies.
Entwicklung zur Professionalisierung
Kaufhold: Bei der Diskussion der Laienanalyse wird darauf verwiesen, dass im Kontext der Professionalisierung und Institutionalisierung, der Kommerzialisierung der Psychoanalyse eine intellektuelle Verflachung, eine Nivellierung stattgefunden hat. Dies wird häufig als ein tragischer Verlust empfunden. Anna Freud hat dies in „Der Analytiker und seine Umwelt“ betont. Sie schrieb:
„Die Anhängerschaft von damals bestand aus Personen, die irgendwie aus dem Rahmen des Gewöhnlichen herausfielen. Sie waren die Unkonventionellen, die Zweifler, die Unzufriedenen im eigenen Beruf, die Wissensdurstigen, denen die offizielle Wissenschaft nicht genug zu bieten hatte. Unter ihnen waren auch Sonderlinge, Träumer, Sensitive, die das neurotische Elend an der eigenen Person erfahren hatten. Was sie in der Literatur hinterlassen haben, zeugt von ihrer Eignung für die analytische Arbeit.“ (…) „Trotzdem würde nur eine Minderzahl unter ihnen heute Aufnahme in unsere analytischen Lehrinstitute suchen und finden. (…) Der Typus, den die heutigen Lehrinstitute bevorzugen, ist den Analytikerpersönlichkeiten der „heroischen“ Vorzeit geradezu entgegengesetzt…“ (Die Schriften der Anna Freud, Bd. IV, S. 2489).
Sie haben die „Anhängerschaft von damals“ zumeist persönlich gekannt, gehörten – wie auch Bruno Bettelheim – wohl eher zu der erstgenannten Gruppe der „Querdenker“. Wie schätzen Sie diese Entwicklung hin zur „Professionalisierung“ ein? Empfinden Sie sie eher als einen Verlust oder können Sie ihr auch positive Aspekte abgewinnen?
Federn: Psychoanalytische Lehrinstitute haben die Aufgabe, Psychoanalysen durchzuführen. Was damit gemacht wird, ist eine andere Frage. Natürlich sind heutige Psychoanalytiker nicht mit denen der Pioniergenerationen gleichzusetzen. Anna Freud hat sicher recht mit dem, was sie schreibt.
Ekstein: Psychoanalyse ist für viele Leute hier in Amerika ein Geschäft, eine Art, etwas zu verdienen. Die Zeit der Pioniere ist vorbei. Viele Psychoanalyse mit marxistischem Gedankengut verbinden. Nach Ihrer Emigration in die USA war es verständlicherweise sehr schwierig, an diesem Thema – zumindest öffentlich – weiter zu arbeiten.
Psychoanalytiker heute möchten nur eine private Praxis haben; die Lehre und die Forschung interessiert sie nicht. Ich denke jedoch, dass dies auch für andere Betätigungen gilt. Es gibt in Amerika dennoch immer wieder Menschen, die sich der Wissenschaft zuwenden. Der Verdienst ist dann zwar geringer, aber man hat ein besseres Leben, nicht ökonomisch, aber geistig und seelisch.
Psychoanalyse und Marxismus
Kaufhold: Sie selbst haben die Psychoanalyse vor allem in Ihrer Jugend – ähnlich wie Siegfried Bernfeld – im Kontext Ihres politischen Engagements betrachtet. Sie waren beide Sozialisten, revolutionäre Sozialisten. Sie wollten die an der 1. Mai-Demonstration teilzunehmen. Nun hat sich die Welt radikal geändert, der Ostblock hat sich innerhalb weniger Jahre scheinbar in ein Nichts aufgelöst, marxistisches Gedankengut wird eher belächelt. Welche Bedeutung hat diese Thematik, diese Interpretation der Welt, in Ihrem Leben gehabt? Welche Bedeutung schreiben Sie Ihr heute noch zu?
Federn: Der Marxismus ist eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung (vgl. Federn, 1976). Das Versagen der Misswirtschaften haften in Russland und den Oststaaten hat mit ihm nichts zu tun. Der Kapitalismus hat als soziale Organisation zuerst großes geleistet, versagt aber heute wirtschaftlich wie in den Vereinigten Staaten und sozial überall. Wie man die Wirtschaft in Ordnung lenken kann, wissen wir heute nicht, vielleicht bringt das nächste Jahrhundert eine Antwort.
Ekstein: Der Marxismus von ehemals, dieses „Lasst die roten Fahnen wehen!“, hat sich verändert. Die roten Fahnen von damals sind nun rosarot geworden. Dennoch erinnere ich mich lebhaft an die frühen 1. Mai-Demonstrationen im Wien der 30er Jahre, wo wir gegen den Stacheldraht der Polizei, der faschistischen Polizei, laufen mussten, demonstriert haben. Es ist sozusagen ein Frühlingsfest geworden. Die marxistischen Auffassungen haben damals Veränderungen gebracht, Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, und wir sehen in Europa und Amerika mehr Fortschritt als in Russland. Die wirtschaftliche Situation ist jedoch immer noch ein Problem, ob im Westen oder im Osten. In unserer Jugend gab es angesichts des immer mächtiger werdenden Faschismus klare Ideologien und feste Überzeugungen. Die tiefen Überzeugungen von damals, romantisch, wie sie auch waren, sollten mit hoffentlich schöpferischen Zweifeln vermischt werden.
Psychoanalyse ein westliches Kulturprodukt?
Kaufhold: Paul Parin ist vor allem auch durch seine ethnopsychoanalytischen Studien bekannt geworden. Mit diesem Forschungsansatz verbunden ist die kulturkritische Frage, ob die Psychoanalyse ein universelles Instrument des Menschen oder ein westliches Kulturprodukt ist. Welche Position nehmen Sie hierzu ein?
Federn: Ich neige dazu, die Psychoanalyse als ein universelles Instrument zu betrachten, das in der westlichen Kultur entstanden ist.
Ekstein: Die Psychoanalyse ist ein westliches Kulturprodukt. Wir leben heute in einer Welt, in der es immer mehr Brücken zwischen Amerika und Russland gibt, auch Brücken zwischen Amerika, China und Japan. Die Psychoanalyse vermag vielleicht ein universelles Instrument der Einsicht zu werden.
Zu wenig Kritik an der Gesellschaft?
Kaufhold: Im deutschsprachigen Raum verkörpert heute vor allem Paul Parin, aber auch Dir gemeinsamer Freund Johannes Reichmayr, die „kritische“ Tradition in der Psychoanalyse. Parin kritisiert, dass Psychoanalytiker zu wenig „zu brennenden gesellschaftlichen Fragen Stellung nehmen“. Einen seiner letzten Aufsätze, „Der Nationalen Schande zu begegnen. Ein Vergleich der deutschen und italienischen Kultur „, beendet er mit den Worten: „Die Vergangenheit versinkt, und Geschichtslosigkeit droht sich einzustellen, wo immer es Herrschaft und Beherrschte gibt. Ohne eine Kultur, die ihre Kritik gegen die Machtverhältnisse richtet, ist kein Fortschritt möglich“ ((in: Paul Parin: Noch ein Leben, Gießen 2003 (Psychosozial Verlag), S. 153; vgl. auch die Rezension dieses Buches in psychosozial Nr. 49/50.)) (S. 153). Was empfinden Sie bei diesen Worten?
Federn: Ich stimme mit Parin überein.
Ekstein: Ich fühle mich identifiziert mit Reichmayr und mit Parin und auch ich glaube, dass eine Gesellschaftsordnung nur dann die innere Fähigkeit hat, sich anzupassen, sich zu verändern, wenn Kritik gegen die herrschenden Verhältnisse möglich ist.
Bruno Bettelheim
Kaufhold: Ich möchte mit zwei persönlichen Fragen enden: Gegen Ihren Freund und Kollegen Bruno Bettelheim sind nach dessen Freitod in der Öffentlichkeit heftige Vorwürfe erhoben worden. Was empfinden Sie persönlich angesichts dieser Vorwürfe gegen einen so produktiven, so engagierten Menschen wie Bruno Bettelheim? Glauben Sie, dass diese Vorwürfe der Psychoanalytischen Pädagogik sowie der Psychoanalyse in den USA und in Europa einen schweren Schaden zugefügt haben?
Federn: Die Vorwürfe gegen Bettelheim sind unbegründet und, meiner Meinung nach, bedeutungslos.
Ekstein: Ich glaube nicht, dass diese Angriffe gegen den toten Bettelheim der Psychoanalytische Pädagogik hier oder in Europa Schaden zufügen werden. Ich habe früher solche Angriffe erlebt: Sigmund und Anna Freud, August Aichhorn und wir jüngeren Analytiker haben niemals in einer Welt gelebt, die es uns leicht gemacht hat. Wir geben nicht nach.
Rudolf und Ruth Ekstein mit Bruno Bettelheim im Januar 1990, © Psychosozial-Verlag & Roland Kaufhold
Der Freitod
Kaufhold: Ihr Freund Bruno Bettelheim hat sich im Alter von 86 Jahren nach langer Krankheit das Leben genommen. Er zog den Tod einem fortschreitenden Verfall bei Verlust seiner körperlich-geistigen Fähigkeiten vor. Wenn ich seinen letzten Entschluss, das Sterben zu wählen, auch als einen letzten Akt von Selbstbehauptung, von Würde empfinde, so drängt sich dennoch die Frage auf, ob einem die psychoanalytische Selbstaufklärung bei dem Umgang mit dem eigenen Tod letztendlich hilfreich sein kann.
Bruno Bettelheim war in seinen letzten Jahren, nach dem Tode seiner Frau, häufig sehr verzweifelt. Er hat seine geistige und seelische Kraft dafür eingesetzt, seine Produktivität so weit und so lange wie möglich zu erhalten. Als es nicht mehr ging, wählte er den Tod.
In einem Radiointerview hat er in sehr schönen Worten über den Tod gesprochen. Obwohl diese Passage bereits einmal in psychosozial (Heft Nr. 47,1991, S. 108) veröffentlicht worden ist, möchte ich sie in gekürzter Form noch einmal wiederholen. Bruno Bettelheim sagte damals:
„Ja also, in meinem Alter und in meinem Leben sieht man dem Tod ziemlich gleichmütig entgegen, nicht wahr, wenn man so alt ist wie ich, hat er eher eine freundliche Figur. Warum, weil ich fühle, dass ich eben so viel angefangen hab‘ als ich anfangen konnte. Warnicht sehr viel, richtig, aber es war eben so viel als ich konnte. Damit muss man wohl zufrieden sein. Ich bin überzeugt davon, dass das menschliche Leben ohne die Idee des Todes überhaupt keinen Sinn hat. Die Idee, dass man für ewig leben könnte, ist ein Alptraum für mich, dass es kein Ende hat.
(…) Ich glaube, ich war eigentlich sehr glücklich, ich war glücklich, dass ich das Konzentrationslager überlebt habe, ich war glücklich, dass ich in der Emigration erfolgreich war, ich war besonders glücklich in der Auswahl meiner Gattin, und ich war sehr glücklich in der Auswahl meiner Kinder. Na, mehr gibt’s nicht.“
Sie haben ein langes, schwieriges und bewegtes, ein sehr produktives Leben geführt, haben vielen Menschen aus tiefer Not geholfen. Sie, Herr Federn, sind 78 Jahre alt, Rudi Ekstein feierte kürz lieh in Wien seinen 80. Geburtstag. Auch in Ihrem Alter nehmen Sie weiterhin an der Entwicklung der Psychoanalyse, am öffentlichen Leben teil, schreiben weiterhin, z.B. in diesem Heft. Was empfinden Sie dem Tod gegenüber?
Federn: Ich hoffe, ohne böse Krankheit friedlich sterben zu dürfen. Was ich machen werde, wenn das nicht eintritt, weiß ich heute nicht.
Ekstein: Federn und ich wissen, dass wir älter werden, und können nur hoffen, dass langsam das aktive Leben eingeschränkt werden muss und dass vielleicht unsere Lebenserfahrung uns die Weisheit gibt, dem Altwerden Anerkennung geben zu können und es zu bewältigen. Ich denke an den österreichischen Schauspieler Giradi und an das Lied, das er auf der Bühne gesungen hat, das mir oft durch den Kopf geht. Es geht ungefähr so (auf dem Tonband singend):
„Und zupft der Tod, einst mit Verlaub, und sagt ma‘: Brüderl komm“; dann stell ich mich im Anfang taub, und dreh mi goa nit um. Doch dann sagt er: Lieber Valentin, moch keine Umstand, geh‘, und dann leg I meinen Hobel hin, und sag‘ der Welt: „Adieu“.
Wenn man „Adieu“ sagen will, will man ein Werk hinterlassen, an das sich die, die nach uns kommen, erinnern, und es fällt mir ein Wort von Goethe ein, der sagt: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“. Wir sollten solche Therapeuten, solche Lehrer, solche Eltern sein, dass die, die nach uns kommen, das Erbe erben werden, die Tradition weiter leben lassen..
Wie froh bin ich, dass Bruno Bettelheim mein Freund war, dass er für immer mein Freund bleiben wird, obwohl es nun nur noch Erinnerungen an Gespräche sind, die mir bleiben. Dies ist die Art, wie ich ihn erinnere. So will ich auch im Kopf meiner Nachkommen bleiben, wenn das Ende des Lebens kommt. Das ist eine Art von Unsterblichkeit.
Literatur
Aichhorn, A. (1925/1977): Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Bern, Stuttgart, Wien.
Bernfeld, S. (1925/1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/M.
Bettelheim, B. (1960; dt. 1964): Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M.
Bettelheim, B. (1967; dt. 1977): Die Geburt des Selbst. The Empty Fortress. Frankfurt/M.
Bettelheim, B. (1976; dt. 1977/1980): Kinder brauchen Märchen. Stuttgart.
Bettelheim, B. (1979; dt. 1980): Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. München.
Bettelheim, B. (1987; dt. 1987): Ein Leben für Kinder. Erziehung in unserer Zeit. Stuttgart.
Bettelheim, B. (1990; dt. 1990): Themen meines Lebens. Essays über Psychoanalyse, Kindererziehung und das Schicksal der Juden. Stuttgart.
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Ekstein, R. (1939): Demokratische und faschistische Erziehung aus der Sicht eines Lehrers und Flüchtlings – Oktober 1939. In: Wiesse, J. (Hg.) (1994): S. 138–151.
Ekstein, R. (1973): Grenzfallkinder. München.
Ekstein, R. (1987): Die Vertreibung der Vernunft und ihre Rückkehr. In: Stadler, F. (Hg.) (1987): Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–40. München-Wien, S. 472–477.
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Ekstein, R. (1994a): Mein Freund Bruno (1903–1990). Wie ich mich an ihn erinnere. In: Kaufhold (Hg.) (1994): S. 87–94 (nur noch beim Autor für 12 Euro erhältlich: roland.kaufhold (at) netcologne.de).
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Reich, K. (1994): Bettelheims Psychologie der Extremsituation. In: Kaufhold (Hg.) (1994), S.134–155 (nur noch beim Autor für 12 Euro erhältlich: roland.kaufhold (at) netcologne.de).
Richter, H. – E. (1995): Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik. Hamburg.
Dieser Beitrag Roland Kaufholds wurde 1993 in der Zeitschrift psychosozial Heft I/1993 (Nr. 53): Kaufhold (Hg.): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bettelheim, Ekstein, Federn und Bernfeld publiziert; er wurde von R. Kaufhold für diesen haGalil –Themenschwerpunkt durchgeschaut. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie des Psychosozial-Verlages, Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth.
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