27. Januar: Die Banalität der Erinnerung

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Ein starker Geruch von Kohle lag gestern über Auschwitz. Die effektiven polnischen Organisatoren hatten einfache Kohleöfen aufgestellt, an denen sich die Besucher immer wieder aufwärmten…

In M’ariw berichtet Nadav Eyal von der polnischen Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz

Die polnischen Gastgeber waren sehr aufgeregt. Lange Monate der Vorbereitungen waren dem Ereignis vorausgegangen. Die Worte von Donald Tusk, dem MP, und Jerzi Buzak, dem neuen Vorsitzenden des europäischen Parlaments, zeigten, wie sehr das neue Polen der Holocausterinnerung verpflichtet ist. Sie erinnerten daran, dass fast die Hälfte der jüdischen Holocaustopfer polnische Staatsbürger waren, und sprachen mit aufrichtigem Bedauern von der polnisch-jüdischen Zivilisation, die es nicht mehr gibt.

Die Rede Netanjahus war gleichermaßen wohlwollend. Er erinnerte daran, dass ein Drittel der Gerechten der Nationen Polen sind. Während seiner Rede marschierten polnische Schüler mit Blumensträußen in der Hand durch die Wege des Lagers. Die Reden der Überlebenden waren ergreifender, die Reden der Politiker wichtiger, aber die Ernsthaftigkeit dieser Schüler, die weder Juden noch Israelis waren, waren meiner Meinung nach gestern das Positivste in der verschneiten Landschaft von Auschwitz. Weniger positiv war die Banalität der Erinnerung, der Weg, auf dem man versucht, den Holocaust trivial, vergleichbar und zu einem dramatischen Argument für Diskussionen zu machen. Auch das gab es gestern in Auschwitz, und 65 Jahre nach der Befreiung des Lagers werden diese Erscheinungen immer stärker.

Gestern fand eine Konferenz unter dem Titel „Let my people live“ statt, unter der Schirmherrschaft des jüdisch-europäischen Kongresses. Die Polen stellten die Lokalität zur Verfügung, das Opernhaus von Krakau, das wahrscheinlich auch für die Eröffnungsdarbietung verantwortlich war. Im Publikum saßen unter anderem der Präsident des europäischen Parlaments, Rabbiner Israel Lau, der Vorsitzende von Yad Vashem Avner Shalev und der Vorsitzende des jüdisch-europäischen Kongresses Mosche Kantor.

Gemeinsam mit Hunderten Gästen sahen sie einem einfach unglaublichen Schauspiel zu. Nach einem kurzen Dokumentarfilm, in dem die Reden Hitlers auf Schnelllauf abgespielt wurden, damit sie sich seltsam anhören (Sie verstehen schon- „Kunst“), kam der erste Teil, bei dem den Zuschauern vor Staunen der Mund offen blieb. Ein polnischer Opernsänger stürmte auf die Bühne, und gemeinsam mit anderen Sängern sang er mit immer lauter werdender Stimme, bis hin zu einem überzeugenden Crescendo, „Arbeit macht frei.

Gleich danach trat ein anderer Sänger auf die Bühne, der ein Lied über die Wannsee- Konferenz anstimmte und darüber, was man alles mit den Juden machen wird. Im Hintergrund wurden Originalfilme mit Bildern vom Holocaust gezeigt, mit echten Opfern. Es war eine ganze Oper, mit einem Chor, Solisten und einem Orchester, geführt von einem hyperaktiven Dirigenten. Eine andere Sängerin trällerte: „Wir sahen, wie unsere Träume in Rauch aufgehen. Heute trauere ich, morgen bin ich glücklich“. Und hinter ihr wurde immer wieder ein kurzer Film von einer jüdischen Frau im Ghetto gezeigt (einer echten, ja, einer echten), die ein totes Baby in den Armen hält. Und es erklang der tiefe Bass des Solisten: „Mein Vater, warum hast du mich verlassen?“. Und der Chor erwiderte: „Sie wurden zu Asche“, woraufhin die Sängerin Asche über der Bühne verstreute. Und zum Nachtisch sangen alle zusammen im Stil eines Kirchenchors das Totengebet „Kaddisch“.

„Das war das Seltsamste, das ich je gesehen habe“, sagte später einer der israelischen Zuschauer. Es war aber nicht nur seltsam, sondern vor allem ein Klischee. Eine absolute Banalisierung des Holocaust. Natürlich hatten es die Verfasser und die Künstler gut gemeint, aber warum gab es niemanden, der ihnen erklärte, dass aus dem Holocaust keine Operette gemacht werden sollte, und dass Vernichtung nicht unbedingt Material für Choreographie liefert? Zum Glück trat danach jemand auf, der das Publikum wirklich rührte: Rabbiner Israel Lau erzählte in einfachen Worten, wie seine Mutter ihn, ein fünfjähriges Kind, in die Arme seiner Brüder stieß, um ihn vor der Vernichtung zu retten.

Die Banalisierung, die Shoa-Show, ist nur ein Symptom für eine gefährlichere Erscheinung. Die Konferenz war vor allem auch deshalb interessant, da sie den Kampf zwischen den polnischen Rednern enthüllte, die die Verbrechen des Holocaust mit den Verbrechen des kommunistischen Regimes und des Stalinismus in Verbindung bringen wollen, und den jüdischen Rednern, die entschlossen waren, die Rote Armee für ihren Kampf gegen die Nazis zu würdigen.

…Später, bei der Gedenkfeier im Lager, sprach Premierminister Benyamin Netanjahu vom neuen „Erzfeind“, den Iranern.

Der Holocaust wurde zu einem Argument. Die Osteuropäer und ein Teil der Völker der ehemaligen UdSSR vergleichen ihn mit den Opfern des sowjetischen Totalitarismus. Die ultra-liberale und marxistische Linke setzt den Holocaust ein, um Israel anzugreifen und sagt, die Opfer seien nun zu Tätern geworden. MP Netanjahu vergleicht immer wieder zwischen den Iranern und den Nazis und warnt vor einem neuen Holocaust. Ihm muss zugute gehalten werden, dass er zumindest einen großen Teil der Familien der Opfer und des Volkes vertritt, die unter dem Holocaust gelitten haben.

Das Ergebnis ist dasselbe. 65 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wurde in London ein Holocaust-Musical aufgeführt und gestern, in Krakau, eine Operette über die Vernichtung. Der Holocaust wird immer mehr zu einem nützlichen Argument in jeder Diskussion. Holocaustleugnung ist vielleicht die größte Gefahr, aber eine andere, ebenso große Gefahr, ist die Banalisierung der Erinnerung. Wenn man den Stacheldraht in Auschwitz sieht, beginnt man zu verstehen, wie groß die Entfernung zwischen diesen politischen Diskussionen und dem ist, was der Schriftsteller K. Zetnik seinerzeit „den anderen Planeten“ genannt hat.

1 Kommentar

  1. Dieser Bericht von der Veranstaltung im Krakauer Opernhaus ist ja erschütternd. Kaum zu glauben, daß die Polen, die ja selber Opfer waren, ein solches operettenhaftes Gedenken nicht nur zugelassen, sondern sogar selbst inszeniert haben! Vielleicht sollten unsere polnischen Nachbarn sich zu eigen machen, was Elie Wiesel einmal den Deutschen ins Stammbuch geschrieben hat: „Vor dem Grauen ist nur schweigend und stumm der Kopf zu neigen“.

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