Ein Staat um jeden Preis

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David Ben Gurion von Tom Segev

Tom Segev hat eine eindrucksvolle und unterhaltsam zu lesende Biografie von Israels erstem Premier David Ben Gurion vorgelegt, die so manche Vorstellungen revidieren könnte…

Von Andrea Livnat

Vorab, es ist ein dicker Wälzer! Aber er liest sich wie ein Roman, spannend, gut erzählt und absolut fesselnd. Natürlich gibt es bereits mehrere Biografien von Ben Gurion. Segev schrieb über fünf Jahre daran und allein in diesem Zeitraum seien weitere vier Biografien erschienen, wie er im Vorwort vermerkt. Darin zeige sich „einerseits die Sehnsucht der Israelis nach ehrlicher Führung und andererseits der Wunsch, die Geheimnisse von Ben Gurions dramatischer Lebensgeschichte zu ergründen.“ Und das kann Segev meisterhaft, in einer lebhaften Erzählung, die sowohl persönliche Aspekte betont, wie auch Ben Gurions Lebensstationen in das Zeitgeschehen und die Geschichte des Landes einbettet.

Tom Segev, der zu den sog. Neuen Historikern in Israel zählt, einer Gruppe von Historikern und Soziologen, die sich seit dem Ende der 1980er Jahre daran machte, gängige Geschichtsmythen zu dekonstruieren, hat über die Jahre viele wichtige Grundlagenforschungen zur israelischen Geschichte vorgelegt, vom Umgang des Landes mit dem Erbe des Holocaust, über Palästina während der britischen Mandatszeit bis zum Sechs-Tage-Krieg. Seine Biografie Ben Gurions scheint wie der logische nächste Schritt, denn natürlich hat er sich sowohl als Historiker wie auch in seiner Eigenschaft als Journalist oft mit dem Politiker, der den Staats ausrief, beschäftigt. Von einer persönlichen Begegnung berichtet er gleich zu Beginn.

David wurde 1886 in Płonsk geboren, als eines von sechs Kindern der Familie Grün geboren. Der kleine, schmächtige Junge lernte im Cheder und in der allgemeinen Schule. Als er elf Jahre alt war, starb seine Mutter im Wochenbett, ein tiefer Einschnitt im Leben, der ihn bis ins hohe Alter beschäftigen sollte. Segev zeigt auch, dass Ben Gurion immer wieder Parallelen zwischen Mutterliebe und dem Glauben als Zionist zog. An Chanukka 1900 gründete er mit seinen zwei Jugendfreunden Zemach und Fuchs einen zionistischen Verein in Płonsk, den sie „Esra“ nannten. Hier nahm Ben Gurions ein Leben lang währende zionistische Aktivität ihren Anfang.

Detailliert beschreibt Segev auf den unendlichen Tagebuchaufzeichnungen Ben Gurions und Unmengen weiterer Archivmaterialien beruhend seinen Weg, der keineswegs geradlinig war. Von Warschau, wo er vergeblich versuchte, sich für ein Studium einzuschreiben und eine Poale Zion Ortsgruppe gründete, zu seiner Alija 1906. Seine ersten Jahren im Land, mit dem bitteren Alltag: „Ich fieberte und hungerte mehr als ich arbeitete.“ Von Sedschera, jener legendären Modellfarm in Untergaliläa, auf der Ben Gurion 13 Monate verbrachte und Zeuge eines arabischen Überfalls wurde, bei dem ein jüdischer Siedler ermordet wurde. Ein Vorfall, der ihn stark prägte.

Nach Aufenthalten in Saloniki und Istanbul, wo Ben Gurion Rechtswissenschaft studierte, kam er 1915 nach Amerika. Auf Vortragstour versuchte er junge Juden für die zionistische Sache in Palästina zu rekrutieren. In New York lernte er Paula Munweis kennen, die beiden heirateten im Dezember 1917. Nur ein halbes Jahr später ließ er seine schwangere Frau alleine zurück und meldete sich freiwillig für den Dienst in der Jüdischen Legion der britischen Armee. Nach Ende des Krieges kehrte Ben Gurion alleine zurück nach Palästina, Paula blieb in New York, zunehmend schwermütig. Erst im November 1919 war die Familie wieder zusammen und bezog eine kleine Wohnung in Tel Aviv. Ben Gurion wurde einer der Sekretäre der neu gegründeten Histadrut, der Gewerkschaft, der viele weitere Organisationen angeschlossen waren, wie etwa Solel Boneh, die Krankenkasse und die Bank haPoalim. Im Januar 1930 wurde unter Ben Gurions Führung eine neue Arbeiterpartei gegründet, die MAPAI (Partei der Arbeiter des Landes Israel), und damit sein Politikerleben endgültig festgelegt.

Segev beschreibt detailliert die Auseinandersetzungen innerhalb der Partei, innerhalb der Zionistischen Organisation, mit politischen Gegnern wie Jabotinsky oder Weizmann und seinen weiteren Weg, der schließlich in seiner Position als Israels erster Premier mündete.

Die Ben Gurion Familie, v.l.: David und Paula mit der jüngsten Tochter Renana, Tochter Geula, Vater Avigdor Grün und Sohn Amos, (c) National Photo Collection of Israel, GPO, ID D683-100

Besondere Beachtung verdient Ben Gurions Einstellung zu den Arabern des Landes, auf die Segev immer wieder zurückkommt. Ben Gurion war überzeugt, dass das Land den Juden gehöre und gebühre, auch wenn es von Arabern bevölkert war. Die Behauptung, dass das Land leer sei, war für ihn naiv, und ihm war auch bewusst, dass die Araber ihr Land nicht einfach aufgeben würden. Auch er propagierte schon früh, wie die meisten Zionisten, die Arbeitsplätze der Araber, wie etwa in der Landwirtschaft, mit Juden zu besetzen. Ben Gurion prägte dabei den Begriff der „Fremdarbeit“, der im Hebräischen, „Awoda sara“, auch für Götzendienst steht. Segev betont, dass die „Eroberung der Arbeit“ in diesem Fall für die Eroberung des Landes steht.

Schade, dass Segev im wichtigen Kapitel über einen möglichen Transfer der arabischen Bevölkerung einen Fehler macht. „Die Hoffnung, das Land seiner arabischen Bewohner zu entledigen, begleitete den Zionismus von Anfang an“, schreibt er und führt dazu ausgerechnet eine Stelle aus Theodor Herzls Tagebüchern an. Über diese Stelle wurde bereits einiges geschrieben, mehr noch, das Tagebuch-Zitat ist zentral im antizionistischen Diskurs, ein Umstand, auf den der kanadische Historiker Derek Penslar aufmerksam gemacht hat. Am 12. Juni 1895 notierte Herzl: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“ Daraus zu schließen, Herzl habe eine „arabische Emigration“ oder gar einen „Transfer“ befürwortet, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Herzl arbeitete im Frühjahr 1895 wie besessen an seiner Idee eines Judenstaates. In seinem Hotelzimmer zurückgezogen, fern von Familie und Freunden schrieb er in einem emotionalen Sturm der Inspiration seine Gedanken nieder. In einer als manisch zu bezeichnenden Phase entstand so auch die oben erwähnte Eintragung aus der ersten Juni-Hälfte. Entscheidend ist in Bezug auf die Gedanken einer Vertreibung und Enteignung, dass Herzl zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht konkret von Palästina sprach. Argentinien war für ihn eine gute und in vielen Aspekten zu bevorzugende Option. Daher ist im entsprechenden Zitat auch nicht die Rede von Arabern, sondern allgemein von „Bevölkerung“. Dass Herzl eben nicht notwendiger Anhänger einer Vertreibung war, kann gleich die nächste Eintragung am 12. Juni bestätigen, wo es heißt: „Selbstverständlich werden wir Andersgläubige achtungsvoll dulden, ihr Eigentum, ihre Ehre und Freiheit mit den härtesten Zwangsmitteln schützen. Auch darin werden wir der ganzen alten Welt ein wunderbares Beispiel geben.“ Segev war hier definitiv nicht gründlich genug, schade, denn Derek Penslars Analyse des Umgangs mit diesem Zitat stammt aus dem Jahr 2005, hätte dem Historiker Segev also durchaus bekannt sein dürfen. Offensichtlich hat er sich seinem Kollegen Benny Morris angeschlossen, der ebenfalls zu den „Neuen Historikern“ zählt und in einer Neuauflage seines wegweisenden „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ eben jenen Fehler begangen hat.

Damit ist wohl auch die Schwäche des Buches angesprochen. Die unglaubliche Masse an Quellen – Ben Gurion führte akribisch Tagebuch, korrespondierte mit zahllosen Menschen, notierte alle Beobachtungen im Alltag, auf Sitzungen und Reisen detailgetreu bis zur Anzahl der Socken der Zahal-Truppen – macht es schwierig, den Interpretationsrahmen abzuschätzen, innerhalb dessen sich der Historiker bewegt. 

Ungeachtet dessen schafft es Segev, durch die intensive Auswertung der persönlichen Quellen ein lebhaftes Bild von Ben Gurion zu zeichnen, das viele Seiten zum Vorschein bringt, die so manchem Leser nicht bekannt sein dürften. Ben Gurion litt seit Jugendjahren unter starken Stimmungsschwankungen: „Manchmal hob der Zionismus ihn in euphorische Höhen, aber wenn er in schwarze Löcher stürzte, reicht die Ideologie nicht immer.“ Nicht immer ist das Bild sympathisch. Kann man seinen Hang zum Dramatischen und seine Erschöpfungszustände nachvollziehen, wirft der Umgang mit seiner Familie, im Besonderen mit Paula, die er über die Jahre mehrfach betrog, aber auch mit seinen Kindern, sowie politischen Gegnern nicht immer ein gutes Licht auf ihn.

Aber, und das wird aus Tom Segevs faszinierender Biografie überdeutlich, es hat wohl keiner anderen Persönlichkeit bedurft, um die immensen Anstrengungen zu überwinden, die zum Staat Israel führten. Wer Israel verstehen will, muss dieses Buch lesen!

Tom Segev, David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, Siedler Verlag 2018, 800 S., 35,00 Euro, Bestellen?
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