Der konventionellen zionistischen Geschichtsschreibung entsprechend, machte sich Herzl wenig Gedanken um Araber, was er aber über sie zu sagen hatte, zeigte sich in freundlichem und fortschrittlichem, obgleich paternalistischem Ton. Kritiker des Zionismus behaupten dagegen, dass dem Mangel an Äußerungen Herzls zu Arabern eine Verschwörung zum Stillschweigen zugrunde liegt, da er angeblich bereits 1895 die Vertreibung der Palästinenser plante, auch wenn er diesen dunklen Plan nur seinem Tagebuch anvertraute. Dieses Essay wirft neues Licht auf Herzls Haltung gegenüber den Arabern Palästinas. Dabei wird eine Vielzahl historiografischer Fragen analysiert, die durch die Kluft aufgeworfen wurden, die jene Forscher trennt, die über dieses Thema geschrieben haben, und die Lesart von Historikern in Bezug auf Herzls Tagebuch kritisiert, die dieses über seine anderen Schriften gestellt haben.
Von Derek J. Penslar
The Journal of Israeli History, 24/1, 2005
Mögen sich die Historiker des arabisch-israelischen Konfliktes noch so erbittert streiten, es besteht ein stillschweigendes Übereinkommen darüber, welche Fragen für die Gründung des jüdischen Staates und die Begründung der palästinensischen Staatenlosigkeit zentrale Bedeutung haben. Innerhalb der den arabisch-israelischen Konflikt widerspiegelnden Geschichtsschreibung haben sich Regeln wissenschaftlichen Engagements herausgebildet, die darüber bestimmen, wo und über welche Punkte die Auseinandersetzungen geführt werden. Pro-zionistische und pro-palästinensische Wissenschaftler liefern radikal unterschiedliche Interpretationen zu Themen wie der Balfour-Erklärung, dem Teilungsvorschlag der Peel-Kommission oder der zionistischen Militärstrategie im Frühjahr 1948, stimmen jedoch alle in deren Bedeutung überein. In Bezug auf Theodor Herzl herrscht jedoch eine faszinierende und ungewöhnliche Trennung zwischen pro- und anti-zionistischem Lager der Geschichtsschreibung.
Alle Historiker des Zionismus, unabhängig von ihrem Standpunkt, stimmen selbstverständlich in der Bedeutung Herzls als politischer Führer innerhalb der jüdischen Welt und als Vertreter jüdischer Interessen gegenüber den europäischen Kolonialmächten überein. Seine Gedanken zu den Arabern Palästinas jedoch – über ihre aktuelle Situation und ihre zukünftige Stellung in einem jüdischen Staat – sind nicht nur Gegenstand von lediglich unterschiedlichen Interpretationen von pro- und antizionistischen Wissenschaftlern, sondern auch von vollkommen verschiedenen Formen der Beurteilung. Herzls Ansichten bezüglich der Araber sind ein peripheres Thema in der zionistischen Historiografie, dagegen jedoch zentral bei ihrem antizionistischen Gegenpart.
Der konventionellen zionistischen Geschichtsschreibung entsprechend, dachte Herzl wenig über die Araber nach, was er jedoch über sie zu sagen hatte, reflektierte eine freundliche und progressive, wenn auch paternalistische, liberale Stimmung. Herzl war, wie die meisten Zionisten vor dem 1. Weltkrieg, davon überzeugt, dass der Schlüssel zum Erfolg des zionistischen Unternehmens in der Zustimmung des Osmanischen Reiches lag. Die Araber vor Ort stellten nur wenig mehr dar als eine Erweiterung der Landschaft Palästinas und deren Feindlichkeit gegenüber den Zionisten, wie Malaria, sumpfiger Boden und steinige Felder, die dann alle zu gegebener Zeit durch die passende Kombination von Technologie und menschlicher Anstrengung ausgeräumt werden würden. Auf der anderen Seite nehmen palästinensische Wissenschaftler und jene, die mit der arabischen Sache sympathisieren, Anstoß an Herzls Vergesslichkeit bezüglich der Araber Palästinas und sind von dem gering schätzenden Ton der wenigen Bemerkungen, die er über sie machte, verletzt. Bedeutender für Kritiker des Zionismus, den Mangel an Bemerkungen Herzls über Araber zugrunde legend, war eine Verschwörung des Schweigens, denn bereits 1895, zu einer Zeit als er gerade erst seine Vision eines zukünftigen Judenstaates skizzierte, plante er angeblich die Vertreibung der Palästinenser, auch wenn er diesen dunklen Plan nur seinem Tagebuch anvertraute, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Dieses Essay wirft neues Licht auf Herzls Haltung gegenüber Arabern und Palästinensern im Speziellen. Ich möchte dabei auch eine Vielzahl historiografischer Fragen untersuchen, die durch die Kluft aufgeworfen wurden, die jene Forscher trennt, die über dieses Thema geschrieben haben. Ich möchte die Entstehung von politisierenden historischen Argumenten zu ihren Ursprüngen verfolgen – nicht das historische Thema selbst, sondern vielmehr jene Wissenschaftler, deren Schriften einen kanonisierten Status unter gleich gesinnten Lesern bekommen haben. Darüber hinaus werde ich, nachdem sich dieser Artikel auf Herzls Tagebuch konzentriert, die Neigung von Historikern kritisieren, frühe Quellen über spätere zu stellen (ursprüngliche Ideen über deren Entwicklung und Ausbau), die unvermittelte über die vermittelte Quelle, das Tagebuch über den Roman, das archivische Dokument über den veröffentlichten Bericht. Im Besonderen werde ich danach fragen, ob Herzls Tagebucheinträge, vor allem jene, die während seines berühmten manischen Anfalls im Juni 1895 geschrieben wurden, tatsächlich mehr von Herzls zionistischen Vorstellungen und Programm widerspiegelten als seine späteren öffentlichen Aussagen und publizierten Schriften.
Ich beginne mit einem Überblick der zionistischen Standardhistoriografie zu diesem Thema. Der überwiegende Konsens ist, dass innerhalb der internationalen zionistischen Organisation Diskussionen über Araber in Palästina während der Herzl Ära (1897-1904) und unmittelbar danach nur sehr vereinzelt stattfanden und üblicherweise als wenig relevant betrachtet wurden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Zionisten nicht von der einheimischen Bevölkerung wussten. Unter anderem Eliezer Beeri widerlegte den Mythos, dass Herzl Palästina „als ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ sah (Beeri schreibt diese bekannte Phrase Israel Zangwill zu). (1) Darüber hinaus gab es einige Gelegenheiten, bei denen zionistische Führer die arabische Frage direkt ansprachen, so etwa Leo Motzkins Rede auf dem Zweiten Zionistenkongress 1898, in der er von einer palästinensischen Bevölkerung von etwa 650.000 sprach, die Palästinas fruchtbarstes Land belege, oder Max Nordaus Ansprache auf dem Kongress von 1905, in der er eine zionistische Allianz mit dem Osmanischen Reich gegen einen, wie er es sah, destabilisierenden arabischen Nationalismus vorschlug. Im großen und ganzen leugneten jedoch die meisten Zionisten die arabische Präsenz oder lehnten es ab, sie ernsthaft in Betracht zu ziehen, während eine kleine Minderheit nervös die jüdisch-arabischen Zusammenstöße beobachtete und künftige, gravierendere Konfrontationen vorhersagte. (2)
Herzl selbst schenkte Arabern während seines Besuchs in Palästina 1898 wenig Beachtung, wurde jedoch 1899 durch einen Briefwechsel mit Youssuf Zia al-Khalidi, einem ehemaligen Bürgermeister Jerusalems und altgedientem hohen osmanischen Bürokraten, aufmerksam auf das Schreckgespenst der arabischen und osmanischen Opposition gegenüber dem Zionismus. Khalidi hielt die zionistische Sache für gerecht, warnte jedoch, dass die Massenansiedlung von Juden in Palästina gewalttätigen und unaufhörlichen Widerstand der einheimischen Bevölkerung hervorrufen würde. In seiner Antwort versicherte Herzl al-Khalidi, dass die Zionisten der einheimischen Bevölkerung nur Vorteile bringen würden und dass die Ablehnung dahin schmelzen würde, sobald die wohlwollenden Intentionen der Zionisten nur ganz spürbar seien. Eine ähnlich friedvolle Perspektive überzieht Herzls utopischen Roman Altneuland, in dem eine einzelne arabische Figur, der deutsch gebildete Reschid Bey, begeistert von den unermesslichen materiellen und technologischen Fortschritten spricht, die die Juden dem Land brachten. Der Konsens unter pro-zionistischen Historikern ist, dass Herzl, durch Bey sprechend, eine echte arabische Präsenz im zukünftigen jüdischen Staat wollte, die sowohl Araber als Gleichberechtigte in der zivilen Gesellschaft beinhaltet als auch deren religiöse Kultur respektiert. (3)
Interessanterweise haben sich nur sehr wenige Historiker, die aus der zionistischen Perspektive schreiben, mit Herzls Tagebucheintrag vom 12. Juni 1895 befasst, in dem er schreibt:
„Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte enteignen. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen. Die Immobilienbesitzer sollen glauben, uns zu prellen, uns über dem Wert zu verkaufen. Aber zurückverkauft wird ihnen nichts.“ (4)
Dieser Text ist, wie wir sehen werden, für die anti-zionistische Propaganda und selbst für angesehene jüngste Forschung, die Zionismus aus kritischer Perspektive untersucht, zentral. Aber er wird in keiner der Standardbiografien zu Herzl (5) angesprochen, ebenso wie in den meisten Werken israelischer Forscher zum Verhältnis des frühen Zionismus zu Arabern. Shabtai Teveth erwähnt ihn nicht in seinem Pamphlet von 1989 über die Idee des Transfers von Palästinensern aus dem jüdischen Staat. (Er widmet sich dagegen anderen Persönlichkeiten vor 1914, darunter Israel Zangwill, Nachman Syrkin, Leo Motzkin und Aaron Aaronsohn.) (6) Unter den angesehenen Historikern zeichnet sich Anita Shapira dadurch aus, Herzls Tagebucheintrag in ihr Buch „Land and Power“ aufgenommen zu haben, obwohl sie vielleicht zu nachsichtig ist, wenn sie den Absatz dahingehend interpretiert, dass „die bedürftigen Segmente der einheimischen Bevölkerung überzeugt werden würden zu gehen“ (7), indem für sie anderenorts Arbeit gefunden wird.
Die einzigen Arbeiten zionistischer Historiografie, die Herzls Tagebucheintrag ernst nehmen, sind jene, die von einem den Transfer favorisierenden oder revisionistischen Standpunkt aus geschrieben wurden. Diese Arbeiten möchten Legitimität für ihr eigenes maximalistisches Programm von Herzl, dem Vater des politischen Zionismus, ableiten. Die meisten dieser Schriften sind exaltiert und propagandistisch, so wie beispielsweise die Online-Monografie von Chaim Simons, ein Bewohner von Kijat Arba, der behauptet, dass Unterstützung für einen Transfer seit Herzl bis in die 40er Jahre in der Zionistischen Bewegung weit verbreitet war, das Thema jedoch bewusst von öffentlichen Foren fern gehalten wurde (8). Eine seriösere Studie stammt aus der Feder des revisionistischen Aktivisten Joseph Nedava, der 1972 einen kurzen Artikel über „Herzl und das arabische Problem“ veröffentlichte. Anders als die zionistische Mainstream-Geschichtsschreibung behauptet Nedava, dass sich Herzl über die einheimische Bevölkerung Palästinas und ihren Widerstand gegenüber einer beträchtlichen jüdischen Präsenz sehr wohl im Klaren war. So erklärt Nedava Herzls Widerspruch gegen die allmähliche Infiltrierung von Siedlern, die nur den Ärger der Einwohner entfachen würde, und sein Bestehen auf einer Charter, ausgestellt vom osmanischen Sultan oder einer europäischen Großmacht, die eine unaufhaltbare Masseneinwanderung einleiten würde. Eine interessante Quelle Nedavas ist Abraham Shalom Ezekiel Yahuda (1877–1951), ein Ägyptologe, der als Jugendlicher Herzl 1896 in London traf und ihn warnte, dass die Zustimmung der einheimischen Bevölkerung für den Erfolg des zionistischen Unternehmens nötig sei. Yahuda behauptet Herzl am Vorabend des Ersten Zionistenkongresses noch einmal getroffen zu haben, wobei er den zionistischen Führer davon unterrichtete, dass die muslimisch-arabische Mehrheit in Palästina für den Zionismus eingenommen werden könne, dass jedoch christliche Araber eine erhebliche Bedrohung darstellten, da sie durch die antisemitische Kirche beeinflusst seien. (Dies war eine verbreitete zionistische Befürchtung zu dieser Zeit: Christliche Araber wurden als Träger des europäischen Antisemitismus gesehen, die ein kaufmännisches Bürgertum bildeten, das die jüdische Konkurrenz fürchtete.) Herzl antwortete Yahuda angeblich, dass die Araber in Palästina ohne Bedeutung seien und dass das Schicksal Palästinas ganz in den Händen des Sultans liege.(9)
Nedava interpretiert Herzls Tagebucheintrag schlicht dahin, dass die Evakuierung der palästinensischen Bevölkerung ohne Landbesitz eine notwendige Strategie sei, um eine ökonomische Katastrophe in dem im Entstehen begriffenen Judenstaat zu vermeiden. Nedava lobt Herzls „anteilnehmenden“ Ansatz, der, wie Herzl in seinem Tagebuch darlegt, Zwangsenteignungen von Landbesitzern untersagt, die sich, sei es aufgrund hohen Alters, Gebrechlichkeit oder hartnäckiger Gewohnheit weigern, sich von ihrem Land zu trennen. Der apologetische und tendenziöse Charakter von Nedavas Behandlung des Themas ist offensichtlich, man fragt sich jedoch, warum wichtige Fragen zu Herzls Sicht und Politik in Bezug auf Araber in der Mainstream Literatur derart marginalisiert und zur Erforschung offensichtlichen Dilettanten und Aktivisten wie Nedava überlassen wurden.
Ein Zeichen des Wandels in dieser Hinsicht ist vielleicht Benny Morris‘ Ergänzung eines Kapitels über „Die Idee des ‚Transfers‘ im zionistischen Denken“ in der kürzlich veröffentlichten überarbeiten Ausgabe seiner klassischen Monografie zu den Ursprüngen des palästinensischen Flüchtlingsproblems. In diesem Kapitel verweist Morris auf Herzls Tagebucheintrag und andere veröffentlichte Überlegungen zur Attraktivität eines Transfers bei beispielsweise Motzkin und Zangwill. Anders als Teveth, der diese Äußerungen als eigenwillig und ohne dauerhafte Bedeutung darstellt, behauptet Morris, dass sich ein subtiler und verborgener Diskurs über Transfer bereits vor dem 1. Weltkrieg innerhalb der Zionistischen Bewegung formte, der jedoch geheim gehalten wurde, um nicht die Beziehungen zwischen dem fragilen Jischuw einerseits und der einheimischen Bevölkerung Palästinas und der Osmanischen Regierung andererseits zu vergiften.(10) Die Einbeziehung dieses Materials bei Morris stellt eine Antwort zur Arbeit von Nur Masalha und anderen antizionistischen Autoren dar, die behaupten, der Plan die palästinensischen Araber zu vertreiben, sei zentral im zionistischen Denken seit Beginn der Bewegung und von niemand anderem als dem Vater des politischen Zionismus, Theodor Herzl, formuliert worden. (11)
Sympathisanten und Kritiker des Zionismus stimmen darüber ein, dass Herzl nur wenig über Araber schrieb und sie auf seiner Reise kaum wahrnahm, wobei die letzteren diese Missachtung wesentlich verhängnisvoller interpretieren als die ersteren. So nimmt beispielsweise Walid Khalidi, der Doyen der palästinensischen Historiker, in einem Artikel über Herzls kolonialistisches Programm Anstoß an Herzls verstreuten Anmerkungen über die Araber Palästinas als uneinheitliche Menge von Bettlern oder als potentielle Arbeiter, um Sümpfe für jüdische Siedler trocken zu legen. Darüber hinaus liefert der Kontrast zwischen Herzls öffentlichen Schmeicheleien für den Osmanischen Sultan Abdul Hamid und der bösen Karikatur des Sultans in Herzls privatem Tagebuch für Khalidi den Beweis für Herzls heuchlerisches Wesen, denn der Sultan, behauptet Khalidi, habe Herzl mit höchster Gefälligkeit und Zuvorkommenheit behandelt. (12) Zachary Lockman, Autor einer bedeutenden Studie zu jüdisch-arabischen Arbeitsverhältnissen in der späten osmanischen Zeit und in Mandats-Palästina, beginnt sein Buch mit der Anschuldigung, Herzl habe die Araber Palästinas absichtlich aus seinem Bewusstsein ausgeblendet. Als Beweis führt Lockman die Tatsache an, dass Herzl bei seinem Besuch in Ägypten 1902 in seinem Tagebuch über die Begegnung mit jungen gebildeten Ägyptern schrieb und über deren möglichen Widerstand gegenüber britischer Herrschaft nachdachte. Lockman bemängelt, dass Herzl die gleiche Beobachtung nicht auch über die die Palästinenser machte, wenngleich er nicht auseinandersetzt, ob es vergleichbare palästinensische Intellektuelle zu dieser Zeit gab. (13)
Anders als die pro-zionistische Lesart von Altneuland geht ein kürzlich erschienener Artikel von Muhammad Ali Khalidi auf Herzls Geringschätzung gegenüber der Bevölkerung Palästinas von 1901, als der Roman beginnt, und seine auch im Tagebuch erwähnte Vorstellung von der Vertreibung der Bevölkerung aus der Altstadt von Jerusalem ein. (Khalidi gibt nicht an, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Altstadt zu dieser Zeit jüdisch war und dass Herzls Pläne einer sozialen Organisation die radikale Umstrukturierung der jüdischen nicht weniger als der arabischen Bevölkerung verlangte.) In Bezug auf die futuristische Vision der jüdischen Heimstatt, Altneuland, im Jahr 1923, folgert Khalidi aus der Beschreibung von Altneulands reiner Landschaft, dass „die arabischen Dörfer aus der Landschaft entfernt “ und „die einheimischen Bewohner größtenteils vertrieben wurden.“(14) Pro-zionistische Wissenschaftler betonen Reschid Beys Bedeutung im Roman, seine Bemerkungen über die arabische Dankbarkeit für die technologischen Vorzüge der Zionisten und seinen Hinweis auf den Fortbestand des traditionellen arabischen Familienlebens und der Geschlechterverteilung innerhalb der progressiven Gesellschaft Altneuland. Khalidi bemerkt dagegen, dass Bey der einzige arabische Charakter in einem fast ausschließlich von Juden bevölkerten Roman ist, dass die Beschreibung von arabischen Dörfern im Roman gänzlich indirekt und auf Beys eigene Aussage begrenzt ist, und dass an einem interreligiösen Pessach Seder, der Juden und Christen unterschiedlicher Bekenntnisse zusammenbringt, kein arabischer Kleriker, muslimisch oder christlich, anwesend ist. Khalidi stimmt mit pro-zionistischen Autoren überein, dass Herzls Roman eine ethnisch verschiedenartige Gesellschaft vorsieht, die das Beste des multinationalen Erbes des Habsburger Reiches verkörpern sollte, indem sie den ethnischen Hass überwinden würde, der seinen Zusammernhalt zerrüttete und das Leben für seine Juden besonders gefährlich machte. So auch die extrem negative Beschreibung des Charakters Geyer, ein demagogischer Politiker, der ein Wahlverbot für Altneulands Nicht-Juden anstrebt. Khalidi beobachtet jedoch scharfsinnig, dass eine multikulturelle Gesellschaft etwas völlig anderes als eine binationale ist; Herzl schildert Araber als eine von vielen tolerierten Minderheiten in einem jüdischen Gemeinwesen im Gegensatz zu einem einheimischen Volk mit eigenen nationalen Rechten.
Für Kritiker des Zionismus verblasst Herzls Geringschätzung oder Verachtung der Bewohner des Nahen Osten im Vergleich zu seiner vermeintlichen Urheberschaft des Konzepts zur Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat. Das Internet listet hunderte Seiten mit Verweisen auf den Tagebucheintrag vom 12. Juni 1895 auf, die das Zitat als Beginn einer organisierten Verschwörung zur Enteignung der Palästinenser bestimmen. Diese Seiten sind größtenteils Quellen antisemitischer und pro-arabischer Propaganda, aber der Tagebucheintrag steht auch im Zentrum etwas gelehrteren Polemiken des israelisch anti-zionistischen Autors Uri Davis und, wesentlich wichtiger, des kürzlich verstorbenen Edward Said, für den Herzls Vision eines araberreinen Palästinas eine herausragende Rolle in seinem bahnbrechenden Essay „Zionismus vom Standpunkt seiner Opfer“ von 1979 spielt. (15) Die Verbindung von Herzl und Transfer ist nicht auf Polemiken beschränkt, sondern hat sich in jüngster Zeit auch in die Arbeiten seriöser Historiker wie Lockman eingeschlichen, der behauptet, Herzls Tagebucheintrag würde speziell „Enteignung und Verdrängung der arabischen Landbevölkerung Palästinas“ ausmalen, obwohl Herzl tatsächlich zu dieser Zeit den Ort des Judenstaates noch nicht festgelegt hatte.(16)
Saids Referenz ist nicht Herzls Tagebuch, sondern Desmond Stewarts stark kritisierte Biografie Herzls von 1974. Es macht Sinn, dass Stewarts Buch für Said viel Bedeutung birgt, denn während konventionelle Biografien Herzls, sei es hagiografische wie von Bein oder ironische wie von Elon, die arabische Frage nur periphere behandeln, stellt Stewart sie ins Zentrum seiner scharfen und feindseligen Demontierung des zionistischen Führers. (Stewart behauptet, dass sich 20 Seiten des Tagebucheintrags vom 12. Juni um die Enteignung der einheimischen Bevölkerung drehen, obwohl der ganze Eintrag nur etwa 20 Seiten einnimmt, von denen nur drei den Grundbesitz-Angelegenheiten gewidmet sind.) Stewart räumt ein, dass Herzl zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Passagen unsicher war, wo der Judenstaat gegründet werden sollte und glaubt, dass er eher Lateinamerika zugeneigt war, weit weg von dem, was Herzl „militarisiertes und heruntergekommenes Europa“ nannte. Anstatt den utopischen Aspekt dieses Szenarios zu betonen, in dem ein Judenstaat sich ohne europäisches Eingreifen und schädliche Einflüsse entwickeln würde, konzentriert sich Stewart auf Herzls Tagebucheinträge, die die Gründung einer riesigen jüdischen Armee fordern, die in ihrer Stärke wachsen müsse bis sie derer der übrigen lateinamerikanischen Republiken zusammen gewachsen sei. Nur dann würde die Sicherheit garantiert sein. In der Zwischenzeit würden jene Einheimischen, die noch nicht vertrieben wurden, damit beschäftigt werden, wilde Tiere, wie große Schlangen, auszumerzen und für deren Häute bezahlt werden. Auch wenn Herzl über den Atlantik blickte, schreibt Stewart, sein Herz war in Südafrika. Stewart misst Herzls Brief an den deutschen Kaiser größte Bedeutung bei, in dem er erklärte, dass seine Idee einer jüdischen Chartered Company nach dem Vorbild der Britischen Chartered Company für Südafrika geformt war. Form und Inhalt verwechselnd, nimmt Stewart an, dass Herzl allen brutalen Strategien des empire-building, die durch Cecil Rhodes zum Einsatz kamen, nacheiferte, und dass „Herzls Schablone zur Erlangung eines Gebietes und die Säuberung dessen für Ansiedlung nach dem rhodesischen Modell geschaffen wurde“. (17) Anders als Rhodes hatte Herzl keine Diamanten, um das zionistischen Kolonialprojekt zu stärken, war jedoch davon überzeugt, dass das Vermögen der Rothschilds und der Hirsch’ens demselben Zweck dienen würden. Stewart stellt Herzls angebliche kolonialistische Fantasien in den Rahmen eines diktatorischen und undurchsichtigen politischen Regimes. Der Judenstaat, wie er in Herzls Tagebucheinträgen erscheint, wird mit einer geheimen Verwaltungspolizei ausgestattet sein und politische Agitation gegen den Staat wird mit Verbannung oder sogar Tod bestraft. Der Staat wird eine aristokratische Republik sein, von einem Dogen geführt, der die Richtlinien einführen wird, die ihm durch Herzl übermittelt wurden, diese aber geheim halten: „Wenn dieses Buch veröffentlicht ist, werden die Verordnungen für die Organisation der Regierung ausgelassen werden. Das Volk muss nach ihm unbekannten Prinzipien zum Guten geleitet werden.“ (18) Ähnlich seien, Stewart zufolge, Herzls Überlegungen zur Enteignung und zum Transfer der Einheimischen niemals für die Veröffentlichung beabsichtigt gewesen. So entsprächendie geheimen Praktiken des Judenstaates den verborgenen Reflexionen in Herzls Tagebuch, in dem man die Essenz von Herzls Psyche und Programm lokalisieren könne.
Stewarts kruder Straussianischer Ansatz zu Herzls Gedanken schreit nach einer vielschichtigeren Lesart von Herzls Schriften, sowohl der privaten wie auch der öffentlichen. Die zugrunde liegende Annahme bei Herzls Kritikern ist, dass die Tagebucheinträge kohärent, klar, programmatisch und wesentlich signifikanter sind als seine späteren versöhnlichen Äußerungen über Araber in öffentlichen Reden oder seine rosige Vision der jüdisch-arabischen Beziehungen in Altneuland. Aber sollte einer unveröffentlichten Quelle immer Vorzug gegenüber einer veröffentlichten gegeben werden als Verweis auf den Seelenzustand oder die Absicht eines Autors? Beinhaltet Vermittlung immer Verfälschung oder Unterschlagung?
Wir wollen die mise-en-scène für den berüchtigten Tagebucheintrag vom 12. Juni 1895 berücksichtigen. Zwischen dem 5. und dem 15. Juni durchlebte Herzl einen manischen Anfall, während dem er andauernd schrieb und 83 Seiten gedruckten Text entsprechend der deutschen Ausgabe der Tagebücher von 1922 produzierte. Ein Teil dieses Textes beinhaltet die „Rede an die Rothschilds“, die Grundlage des Pamphlets „Der Judenstaat“. Der Rest enthält zusammen gewürfelte Notizen, auf einzelne Blätter gekritzelt, über eine Unmenge von Themen, die meisten, aber nicht alle, in Zusammenhang mit seiner noch unvollständigen zionistischen Vision. Während diesem Sturm der Inspiration fürchtete Herzl, seinen Verstand zu verlieren; und tatsächlich weisen die Einträge die sprichwörtliche Klarheit des Verrückten auf. Er produzierte detaillierte Beschreibungen von jedem Aspekt des Judenstaates – die Kleidung der jüdischen Hohepriester und Militäroffiziere; Staatsmonopole auf Branntwein und Tabak; Verordnungen für Versicherungswesens und Börse; die gesellschaftliche Ächtung des Selbstmords; die Notwendigkeit von Duellen, um Ehre und Kultiviertheit zu erhalten. In diesem großen Ausbruch von Logorrhö erging sich Herzl in einer Orgie narzisstischer Fantasien über Macht, Kontrolle und Herrschaft. Vor dem Eintrag vom 12. Juni drückt er seine Sehnsucht aus, sich mit den antisemitischen Agitatoren Georg von Schoenerer oder Karl Lueger zu duellieren. Falls er erschossen werden würde, würde er als Märtyrer für den Kampf gegen Antisemitismus sterben; wenn er aber seinen Gegner töten würde, würde er das Gericht mit einer fesselnden Rede über die Judenfrage einnehmen und frei gelassen werden. In seinen Überlegungen zum Judenstaat sah er sich persönlich Ortsbesichtigungen in Betrieben durchführen, um Korruption aufzuspüren, festzulegen, wann Arbeiter zu arbeiten und zu ruhen haben und in ihre Auseinandersetzungen eingreifen.
Inmitten der Vielzahl von Seiten wunscherfüllter Fantasien und entfesseltem Zorn aus dem Inneren seiner Seele, kritzelte Herzl die berüchtigte Passage über die Enteignung der Einheimischen nieder. Dem Absatz folgt unmittelbar ein weiterer, der die Freiheits- und Eigentumsrecht von Andersgläubigen garantiert. Dieser offensichtliche Gegensatz wird im nächsten Abschnitt gelöst, in dem klar wird, dass die Freiheiten, die Herzl im Sinn hat, Besuchern, und nicht den Einwohnern des Judenstaates zugesprochen werden sollten: „Anfangs wird man uns übrigens meiden. Wir stehen in schlechtem Geruch. Bis der Umschwung in der Welt zu unsern Gunsten sich vollzogen haben wird, werden wir schon fest in unserem Lande sitzen, Zuzüge Fremder nicht mehr fürchten und unsere Gäste mit edlem Wohlwollen, mit stolzer Liebenswürdigkeit aufnehmen.“(19) Herzl fährt fort darzustellen, wie der Landkauf vor sich gehen muss – schnell und gleichzeitig, damit die Preise nicht ins Unermessliche steigen. Nachdem er seine Überlegungen zu diesem Thema zu Ende geführt hat, die alles in allem weniger als drei gedruckte Seiten einnehmen, geht Herzl ruhelos zu anderen Angelegenheiten über, wie Details über die Flagge des Judenstaates und Ideen für einen neuen Roman über jüdische Ehre.
Herzls Tagebücher lassen sicherlich tief blicken und liefern Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker, wie erst kürzlich Daniel Boyarin, der in Herzls pathetischen Fantasien über männliche Ehre die Quelle für seine kolonialen Ambitionen ausmacht (was Boyarin als „prancing in ‚colonial drag'“ schildert), die einen Judenstaat in Südamerika oder Afrika favorisieren, da dies „die priviligierten Orte für kolonialistische Vorführungen von Männlichkeit“ waren.(20) Aber solche ad hominem Kommentare helfen uns wenig dabei, Herzls Tagebucheinträge mit den humanitären (wenn auch eurozentrischen, herablassenden und paternalistischen) Verweisen auf Araber im zukünftigen Judenstaat, die seine zionistischen Reden und Essays, den Brief an al-Khalidi und Altneuland zieren, in Einklang zu bringen.
Man könnte argumentieren, dass fieberhafte Gedanken, die einem privaten Tagebuch anvertraut wurden, innerste Sehnsüchte ausdrücken und zukünftige Taten verheißen lassen; wesentlich wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Kontakt mit realistischer Machtpolitik jeden Möchtegern-Politiker dazu zwingt, alle möglichen Ansichten zu modifizieren, vor allem solche, die unbedeutend für den Beginn waren. Dies war sicherlich bei Herzl der Fall, der nach 1896 die zionistische Politikbühne betrat, die Zionistische Weltorganisation gründete, sich auf Palästina als jüdische Heimstätte festlegte, Verhandlungen mit der Osmanischen Regierung und europäischen Großmächten führte und der eine pragmatische und weitreichende Strategie für die jüdische Präsenz in Palästina formulieren musste. Man bedenke Herzls Begründung für seine Ablehnung eines Antrags der zionistischen Opposition vom Mai 1903, Land im Jezreel Tal zu erwerben, das durch die Familie Sursuk zum Verkauf angeboten wurde, und so sofortige Siedlungsaktivitäten zu favorisieren. Er zeigte nicht nur grundsätzlichen Widerstand zu „Infiltration“, sondern, nach seinem ersten Biografen Adolf Böhm, auch die Überzeugung, dass „arme arabische Bauern nicht von ihrem Land vertrieben werden dürfen.“(21) Zwei Monate zuvor, nach dem Besuch der Pyramiden nahe von Kairo, notierte Herzl in sein Tagebuch, „das Elend der Fellachen am Wege [ist] unbeschreiblich. Ich nehme mir vor, auch an die Fellachen zu denken, wenn ich einmal die Macht habe.“ (22) Diese Aussage kann leicht als eine weitere kindische Fantasie von Macht und Kontrolle abgetan werden, doch wenn man die Tagebücher in einer elementar skeptischen Art und Weise liest, sollte der gleiche Ansatz unabhängig von der Ausrichtung des fraglichen Eintrags gewahrt werden.
Wieviel von dem im Tagebuch Niedergekritzelten war ein Erguss des Es oder der Libido, verbal ausgelöst nur um in konstruktives politisches Handeln sublimiert zu werden? Herzl hat die Zionistische Organisation schließlich nicht in der diktatorischen und heimlichtuerischen Art und Weise geführt wie er es in seinem Tagebuch ausmalte. (Seine Kritiker innerhalb der ZO machten oft entsprechende Anschuldigungen, doch die Tatsache, dass sie aus den eigenen demokratisch gewählten Organen der ZO kamen und dass Herzl keine andere Wahl hatte, als alternative und konkurrierende Ansätze anzuerkennen, widerspricht solche Anschuldigungen.) Auch wenn Herzl die Zionistenkongresse mit großer Sorgfalt inszenierte, die Delegierten trugen Abendgarderobe und keine Opernkostüme, und auch wenn es ein Ehrengericht der ZO gab, es wurden keine Säbelduelle in den Korridoren des Baseler Casinos ausgetragen. Psychobiografische Beobachtungen, auch wenn sie auf Tatsachen beruhen, klären keine Fragen zur Ausgestaltung und Umsetzung von Politik. Und natürlich wurde die große Mehrheit der Elemente von Herzls Tagebucheintragungen vom Juni 1895 niemals umgesetzt.
War der Plan, die Einheimischen des zukünftigen Judenstaates zu enteignen, dann nichts weiter als ein Flimmern in Herzls Fiebervision von 1895? Bevor diese Frage endgültig beantwortet werden kann, muss ein letztes Beweisstück in Betracht gezogen werden: der Entwurf einer Charter, 1901 von Herzl und dem ungarisch-jüdischen Orientalisten Arminius Vámbéry geplant. Die Charter fordert die Gründung einer jüdisch-osmanischen Land Company, die vom osmanischen Sultan dazu ermächtigt ist, in Palästina und Syrien Land zu kaufen und zu erschließen. Anders als Herzls Ruf nach kompletter Trennung des jüdischen Gemeinwesens von den Nachbarstaaten in den Tagebucheinträgen von 1895, werden die Juden in diesem Dokument zu Osmanischen Untertanen und leisten Militärdienst für das Reich in einer syrisch-palästinensischen Armee-Einheit. In einer Sprache, in der der Tagebucheintrag vom 12. Juni 1895 widerhallt, wenn auch in weit gemäßigteren Tönen, überträgt Artikel 3 der JOLC:
„das Recht, ökonomische Enclaven ihres Gebietes auszutauschen, mit Ausnahme von Heiligen Stätten , wovon jedoch heilige oder Orten, die bereits zur Religionsausübung bestimmt sind. Die Eigentümer erhalten Grundstücke von gleicher Größedem Gottesdienste schon vorher geweihte Stätten ausgenommen sein sollen, dagegen einzutauschen, dass sie den Eigenthümern gleich große und gleich gute von ihr anzuschaffende Bodentheile in anderen Provinzen und Ländern des ottomanischen Reiches üebergiebt und diesen Eigenthümern nicht nur die Kosten der Übersiedlung aus Eigenem ersetzt, sondern auch zur Herstellung der nothwendingen Wohnungen und Anschaffung der nothwendigen Geräthe mäßige Vorschüsse gegen Abzahlung in mehrjährigen gleichen Theilzahlungen und vorläufige Versicherung auf die übertauchten Grundstücke darleihenweise gewährt.“ (23)
In einem Charter-Entwurf, der sechs Jahre später von Herzls Partner und Nachfolger David Wolffsohn entwickelt wurde, taucht dieser Absatz nicht auf, obwohl viele von Herzls ursprünglichen Formulierungen enthalten sind, was darauf hindeutet, dass Herzl eine bestimmte Empfänglichkeit für die Idee des Transfers entwickelte, wenn auch auf einer sehr beschränkten Ebene und unter den humansten Bedingungen. (24)
Herzls Hoffnungen, eine Jüdische-Osmanische Land-Compagnie zu gründen, sind in seinen Tagebucheinträgen vom Juni 1901 und Februar 1902 dargelegt, und auch seine Verhandlungen, um diesen Vertrag zu erlangen, sind gut aufgezeichnet. (25) Der Charter-Entwurf jedoch wurde von der zionistischen Historiografie vernachlässigt. Er war lange Zeit in Form eines Appendix zum ersten Band von Adolf Böhms umfangreicher Geschichte des Zionismus, Die Zionistische Bewegung, zugänglich. Er wird in einigen anderen Arbeiten erwähnt, darunter Ben Halperns Klassiker The Birth of the Jewish State.(26) (Halpern listet die Hauptpunkte des Charter-Entwurfs auf und fasst den Inhalt verschiedener Artikel zusammen, darunter auch jenen über die Enteignung.) Ansonsten wird sie ignoriert. Die Charter erhielt auch wenig Aufmerksamkeit in pro-palästinensischer Literatur bis sie in englischer Übersetzung 1993 von Walid Khalidi publiziert wurde.(27) Das Dokument ist nicht nur wesentlich weniger einsehbar als Herzls Tagebücher, es hat auch nicht deren dramatischen Flair und Schwung. Auch seine historische Bedeutung kann in Frage gestellt werden, da es niemals zur Wirkung kam oder auch nur in irgendeinem öffentlichen zionistischen Forum debattiert wurde, aber andererseits gilt dies auch für Herzls Tagebucheinträge, die mit voyeuristischer Begeisterung durchgesehen wurden.
Ich würde das Verhältnis zwischen dem Charter-Entwurf und Herzls Tagebucheintrag vom 12. Juni 1895 damit vergleichen, dass von den Delegierten des Ersten Zionistenkongresses gefordert wurde, in Abendgarderobe auf der Eröffnungsveranstaltung zu erscheinen und dass Herzl sich in seinem Tagebuch ausmalte, den Offizieren des Judenstaates silberne Brustpanzer umzugürten. Ersteres war das Ergebnis politischer Erwägung und eine realistische Einschätzung; das letztere reine Fantasie. 1901 war Herzl zu dem Schluss gekommen, dass im Interesse der Staatsgründung einige einheimische Landbesitzer dazu überredet werden mussten, ihr Eigentum abzutreten und wegzuziehen. Aber diese Charter, entworfen nach jahrelangen Verhandlungen und politischen Aktivitäten, sowohl innerhalb der zionistischen Bewegung wie auch unter den gekrönten Häuptern Europas, ist weit entfernt von einem Plan zu umfassender Enteignung, wie im Spätfrühjahr 1895 notiert, sogar noch bevor Herzl tatsächlich einen zionistischen Plan formuliert hatte. Der Charter-Entwurf spiegelt Herzls charakteristische Kühnheit wider, war jedoch das Produkt politischer Reife.
Muhammad Ali Khalidi sieht im kolonialistisch-kapitalistischem Rahmen der Charter von 1901 den Beweis dafür, dass Herzl nicht ernsthaft beabsichtigte, die soziale Utopie von Altneuland, das ein Jahr später veröffentlicht wurde, entstehen zu lassen. (28) Herzl war tatsächlich solider mit einem kolonialistisch ökonomischen Entwurf verbunden als manche seiner Verteidiger wahrhaben möchten, aber es gibt keinen notwendigen Widerspruch zwischen der Auffassung, dass das zionistische Projekt als kolonialistisches Unternehmen beginnen muss und den Bemühungen, es zu einem Modell europäisch sozialer Progressivität reifen zu lassen. Der Entwurf einer sozialen Utopie wie in Altneuland dargelegt mag als weiteres verrücktes Vorhaben wie jene, die die Tagebücher durchziehen, abgetan werden, ein weiteres peinliches Beispiel Herzlscher Selbstüberschätzung. Aber dieser war öffentlich, nicht geheim, er war umsichtig, nüchtern und sorgfältig und für die Öffentlichkeit ausgearbeitet, und ist daher von weit größerer Bedeutung für unser Verständnis dessen, wovon Herzl dachte, dass es in der jüdischen Öffentlichkeit und der internationalen Gemeinschaft Resonanz finden könnte, als dunkle Fantasien, einem privaten Tagebuch anvertraut und darauf beschränkt . Somit bleibt die anhaltende Notwendigkeit bestehen, sich ernsthaft mit der Darstellung von Arabern in Altneuland auseinanderzusetzen, einer mit wohlwollender Herablassung beschrieben Darstellung, die von Zweideutigkeiten und Mängeln geprägt ist.
Der Fall von Herzls Sicht der Araber erinnert uns an die Verantwortung aller Historiker des Zionismus‘ und Israels, sich ohne zu Zögern hochsensiblen Themen zu stellen, um das Feld nicht den Propagandisten beider Seiten des Konflikts zu überlassen. Mehr noch, dem Zionismus wohl gesonnene Historiker haben es ihren Sympathien erlaubt, ihr moralisches Urteilsvermögen zu verdrehen und Herzls gering schätzende Einstellung gegenüber Arabern oder seine übrigen Vorurteile als reines Produkt seiner Zeit darzustellen, als die Art von Empfindung, die man unweigerlich von einem bürgerlichen Europäer erwarten würde, der von dem aus, was er als Krone der Zivilisation bezeichnet, auf den umnachteten Nahen Osten blickt. Herzls Ära zeichnete sich durch viele Einzelpersonen aus, die nicht bloß Produkte ihrer Zeit waren, sondern versuchten die Zwänge der Zeit und der Kultur selbst zu überwinden. Der Imperialismus hatte viele Verfechter in Europa, aber auch Gegner. Der Antisemitismus war zur Zeit des fin de siècle nicht dadurch gerechtfertigt, dass er überall vorhanden war; das gleiche gilt für rassistische oder ethnische Vorurteile dieser Zeit. In diesem Sinne verdienen Herzls Ansichten über die Araber gründliche Aufmerksamkeit, auch wenn sie nicht die prophetischen Kräfte hatten, die ihnen von eifrigen Gegnern des Zionismus zugesprochen werden.
Derek J. Penslar ist the Samuel Zacks Professor für Geschichte und Leiter des Jewish Studies Programm der Universität Toronto. 2022 erschien seine Herzl-Biografie im Wallstein Verlag.
Übersetzung: Alexander Hoehnke, Andrea Livnat
Anmerkungen:
[1] Be’eri, Reshit ha-sikhsukh, 34.
[2] Siehe die kurze Erwähnung in Standardwerken wie Elon, Herzl, 261; Shapira, Land and Power, 51; Kolatt, The Zionist Movement and the Arabs, 624; wie auch die etwas erweiterte Analyse in Be’eri, Reshit ha-sikhsukh.
[3] Elon, Herzl, 310–11; Gorny, Zionism and the Arabs, 30–33; Be’eri, Reshit ha-sikhsukh, 89–91. Herzls Antwort auf al-Khalidi wurde übersetzt und veröffentlicht in: W. Khalidi, From Haven to Conquest, 92. Zitate, die Gornys Argumentation unterstützen: Herzl, Complete Diaries, 68, 120, 123.
[4] Herzl, Complete Diaries, 88–9.
[5] Z.B. Bein, Theodor Herzl; Elon, Herzl; Pawel, The Labyrinth of Exile.
[6] Teveth, The Evolution of „Transfer“ in Zionist Thinking, 2–4.
[7] Shapira, Land and Power, 16.
[8] Simons, A Historical Survey; Teveth, The Evolution of Transfer, erwähnt eine ähnliche Studie von Dr. Moshe Yegar vom israelischen Außenministerium, ein altgedienter Revisionist, über Dr. Avraham Sharon, ein früher Verfechter des Transfers, und seinen angeblichen Einfluss auf viele seiner Zeitgenossen, darunter den friedliebenden Arthur Ruppin.
[9] Nedava, Herzl and the Arab Problem, 64–72.
[10] Morris, The Origins, 41.
[11] Masalha, Expulsion of the Palestinians. Siehe auch die Kritik von Masalha zur Studie von Morris über die Ursprünge des palästinensischen Flüchtlingsproblems, in: The Journal of Palestine Studies 21, no. 1 (1991): 90–97, und in Pappé, Hrsg., The Israel/Palestine Question, 211–20.
[12] Khalidi, The Jewish-Ottoman Land Company,“ 40.
[13] Lockman, Comrades and Enemies, 32–33. Das Originalzitat besagt: „Was mich am meisten interessierte, war die auffallend große Zahl intelligent blickender junger Ägypter, welche den Saal gedrängt füllten. Das sind die kommenden Herren. Es ist wunderbar, daß die Engländer das nicht sehen. Sie glauben, sie werden es ewig mit Fellachen zu tun haben. (…) Die Funktion der Engländer ist grandios. Sie säubern den Orient, bringen Licht und Luft in die Schmutzwinkel, brechen alte Tyrannien und zerstören Mißbräuche. Aber mit der Freiheit und dem Fortschritt lehren sie die Fellachen auch die Auflehnung.“ Herzl, Complete Diaries, Eintrag vom 26. März 1903, 1449.
[14] M. Khalidi, Utopian Zionism or Zionist Proselytism? 58.
[15] Said, Zionism from the Standpoint of Its Victims, 15–38, esp. 25.
[16] Lockman, Comrades and Enemies, 32–3, 380–81 (quote on 381).
[17] Stewart, Theodor Herzl, 190.
[18] Zitiert in ibid., 185.
[19] Herzl, Complete Diaries, 89.
[20] Boyarin, Unheroic Conduct, 302.
[21] Friedmann, Das Leben Theodor Herzls, 20.
[22] Herzl, Complete Diaries, Eintrag vom 29.März 1903, 1454.
[23] W. Khalidi, The Jewish-Ottoman Land Company, 44–5. Das originale „Übereinkommen über die Privilegien, Rechte, Schuldigkeiten u. Pflichten der Jüdisch-Ottomanischen Land-Compagnie (J.O.L.C.) zur Besiedelung von Palästina und Syrien“ befindet sich im Zionistischen Zentralarchiv Jerusalem (CZA), H VI A 2.
[24] Wolffsohns Charter-Entwurf, CZA W10, blieb unveröffentlicht.
[25] Herzl, Complete Diaries, Einträge vom 17. Juni 1901 und 15.–19. Februar 1902; Vital, Zionism, 106–28.
[26] Boehm, Die Zionistische Bewegung, 1:705–7; Alsberg, Mediniyut ha-hanhalah ha-tsiyonit, 24; Be’eri, Reshit, 100; Halpern, The Idea of the Jewish State, 263.
[27] W. Khalidi, The Jewish-Ottoman Land Company.
[28] M. Khalidi, Utopian Zionism or Zionist Proselytism? 59, 64–65.
Literatur:
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Be’eri, Eliezer. Reshit ha-sikhsukh Yisrael-Arav 1882–1911 (The beginning of the Israel–Arab conflict, 1882–1911), Tel Aviv: Sifriyat Po’alim, 1985.
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