Ruhe vor dem Sturm

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Die Hisbollah rüstet weiter auf. Israel fühlt sich deshalb zunehmend bedroht. Doch über einen möglichen Krieg im Libanon wird letztendlich in Teheran entschieden…

Von Ralf Balke

Verbal herrscht eigentlich schon lange der Ernstfall. So fand der letzte Schlagabtausch vor wenigen Tagen auf der internationalen Sicherheitskonferenz in München statt. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte dort einen spektakulären Auftritt, als er während seiner Rede demonstrativ das Teil einer kurz zuvor abgeschossenen Drohne iranischer Herkunft in die Luft hielt. „Durch ihre Handlanger, die schiitischen Milizen im Irak, die Houthis im Jemen sowie die Hisbollah im Libanon und die Hamas in Gaza, hat sich der Iran bereits große Teile des Nahen und Mittleren Ostens einverleibt“, erklärte er. Deshalb seine Warnung an die Adresse Teherans: „Testen Sie nicht unsere Entschlossenheit.“ Denn der Iran weitet seinen Einflussbereich vom Irak bis in den Libanon aus. Dieser neue „schiitische Halbmond“ lässt nicht nur in Israel die Alarmglocken schrillen, sondern gleichfalls im sunnitischen Saudi Arabien sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Dabei ist das iranische Expansionsstreben so alt wie die Islamische Republik selbst. Bereits unmittelbar nach der sogenannten Islamischen Revolution im Jahr 1979, wodurch das Regime des Schahs hinwegfegt und eine klerikale Diktatur mit parlamentarischen Anstrich etabliert wurde, begannen die Mullahs ihr Herrschaftsmodell zu exportieren. Erstes Ziel war der Libanon, wo es eine beachtliche schiitische Minderheit gibt. Die von den iranischen Revolutionsgarden Anfang der 1980er Jahre mit ins Leben gerufene Hisbollah, zu deutsch „Partei Gottes“, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem äußerst gefährlichen und brutalen Gegner Israels. Zuletzt hatte ihr Überfall auf eine israelische Patrouille im Grenzgebiet im Sommer 2006 einen blutigen Konflikt ausgelöst, der 33 Tage andauern sollte. Seither herrscht zwar Ruhe an Israels Nordgrenze. Aber die nächste Runde in der Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hisbollah scheint nach Meinung vieler Experten nur eine Frage der Zeit zu sein. Wie diese dann aussehen wird, darüber lässt sich nur spekulieren. „Kein Ziel im Libanon wird dann immun sein“, verkündete Yisrael Katz, Ressortchef für Geheimdienste und Infrastruktur im Kabinett Netanyahu, bereits mehrfach. „Alles was mit der Hisbollah zu tun hat und militärischen Zwecken dient, ist für uns dann ein potenzielles Angriffsziel. Der Libanon würde in seiner Entwicklung um Jahre zurückgeworfen werden. Einige würden sogar sagen, bis zurück in die Steinzeit, andere reden von der Zeit der Höhlenmenschen.“

Auf der internationalen Sicherheitskonferenz in München war ebenfalls der libanesische Verteidigungsminister Yaacoub Sarraf zu hören. Ihm ist nur sehr wohl bewusst, dass im Falle einer Eskalation zwischen Jerusalem, der Hisbollah und womöglich damit auch Teheran sein Land der Kriegsschauplatz sein wird. „Ich lebe mit israelischen Drohnen über meinem Kopf bereits seit 15 Jahren“, so seine Reaktion auf die Rede Netanyahus. „Dabei haben wir keinerlei kriegerische Ambitionen gegen irgendjemanden“, erklärte er. „Unser Land will Frieden. Dennoch können wir nicht jede Bedrohung einfach so hinnehmen und werden keine Aggression akzeptieren.“ Das sind starke Worte – nur haben sie wenig Relevanz. Denn die Regierung in Beirut, angeführt durch Ministerpräsident Saad al-Hariri, hat über zentrale Fragen wie Krieg oder Frieden im Libanon schon lange nicht mehr das Sagen. Eigentlicher Herr im Hause ist die Schiiten-Miliz und die macht in erster Linie das, was ihre Geld- und Waffengeber in Teheran wünschen. Genau diese Tatsache bereitet den israelischen Verantwortlichen gewaltig Kopfzerbrechen.

Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass die Hisbollah mittlerweile über ein Arsenal von mehr als 150.000 Raketen verfügt, die meisten davon „Made in Iran“. Viele haben eine Reichweite, mit der sie so gut wie jede Metropole in Israel treffen können. Sogar Hightech-Drohnen hat die rund 25.000 Mann starke Truppe der Gotteskrieger bereits, deren Zahl jederzeit durch Freiwillige und Ex-Kämpfer aufgestockt werden kann. Zudem versuchen sie alles, um an moderne russische SA-17 und SA-22 Boden-Luftraketen zu gelangen. Ebenso haben sie P-800 Oniks-Seezielflugkörper auf der Wunschliste, um auch israelische Schiffe und Erdgasförderplattformen im Mittelmeer angreifen zu können. Des weiteren erstreckt sich im Süden des Libanons ein ganzes Netz teil unterirdisch gelegener Waffenmanufakturen, die dank der Hilfe des Irans dort entstanden waren. Denn der Transport von Rüstungsgütern von Syrien aus auf dem Landweg ist aufgrund israelischer Angriffe auf die Konvois eine riskante Angelegenheit. Und erst im November hatte der Bericht der High Level Military Group, einer Gruppe von zwölf pensionierten Generälen, darunter der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann, davor gewarnt, dass ein erneuter Waffengang unvermeidlich sei. Darin wird die Hisbollah als „mächtigster nichtstaatlicher bewaffneter Akteur auf der Welt“ charakterisiert.

Aber es ist nicht nur die massive Aufrüstung, die angesichts ihrer Dimensionen den Israelis schlaflose Nächte bereitet. Darüber hinaus ist die Hisbollah seit 2011 – ebenfalls auf Befehl Teherans hin – an der Seite des Diktators Baschar al-Assad mit mehreren Tausend ihrer Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg aktiv. Die gute Nachricht für Israel: Knapp ein Drittel der ungefähr 7.000 bis 8.000 im Laufe der Jahre aus dem Libanon entsendeten Gotteskrieger starben während ihres Einsatzes. Zudem kehrte eine hohe Zahl verwundet und traumatisiert zu ihren Familien zurück, was Anlass zu viel Kritik an der Hisbollah-Führung bot und ihre Sympathiewerte fallen ließ. Aus israelischer Perspektive gibt es aber auch eine schlechte Nachricht: Die Hisbollah-Krieger haben in diesen Jahren in Syrien reichlich Erfahrungen gesammelt, weshalb sie operativ heute deutlich professioneller und damit gefährlicher als jemals zuvor agieren können. Zudem stehen sie Israel nicht länger nur an der libanesischen Grenze gegenüber, sondern auch auf syrischem Territorium am Golan.

Genau deshalb hat Israel seine Bemühungen verstärkt, um im Falle einer weiteren Runde im Kampf gegen die Hisbollah besser gewappnet zu sein. Ende Februar fanden deshalb erneut umfangreiche Manöver im Norden statt, an denen die Streitkräfte diverse Szenarien durchspielte. Dabei hatte erst im September 2017 die mit 30.000 teilnehmenden Soldaten wohl größte Militärübung seit 20 Jahren stattgefunden. „Wehrpflichtige sowie Reservisten aus allen Waffengattungen haben daran teilgenommen“, hieß es von Seiten der Armee. „Es ging dabei vor allem um die Beschleunigung von Prozessen bei der Einberufung von Soldaten sowie die Verbesserung ihrer operativen Fähigkeiten, um gegebenenfalls auf libanesischem Territorium kämpfen zu können.“ Grund für die erhöhte Übungsfrequenz waren die erneuten Spannungen, die auftraten, nachdem israelische Kampfjets mehrfach iranische Waffenproduktionsstätten im Libanon und in Syrien bombardiert hatten, wobei die Luftwaffe Israels das erste Mal seit 1982 eine Maschine durch Feindeinwirkung verlor. „Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, was das Kommando >Morgen Krieg< eigentlich bedeutet“, bringt es Colonel Gal Shochami, Kommandeur der an den Manövern beteiligten 188sten Brigade auf den Punkt. „Denn jede Trainingssituation kann die letzte vor dem Ernstfall auf dem Schlachtfeld sein.“

Schließlich will man sich eine Blamage wie im Sommer 2006 ersparen. Damals bekleckerte sich die Armee nicht gerade mit Ruhm. Reservisten hatten lange nicht mehr an Manövern teilgenommen, weshalb es ihnen an Übung mangelte, der Nachschub funktionierte alles andere als reibungslos und auf Kommandoebene herrschte Unklarheit darüber, ob es nun eine Bodenoffensive geben sollte oder nicht. Das Resultat waren zahlreiche Tote auf israelischer Seite. Trotz eigener schwerer Verluste gewann die Hisbollah damals an Prestige, weil sich die Israelis an ihr die Zähne ausbeissen sollten. Das darf kein zweites Mal passieren. Entsprechend wäre Israels Reaktion auf mögliche Übergriffe seitens der Hisbollah heute eine viel entschiedenere als 2006. Das weiss auch die Schiiten-Miliz, die ihr eigenes militärisches Arsenal zudem nicht unbedingt leichtfertig einer möglichen totalen Vernichtung durch Israels Armee und Luftwaffe aussetzen möchte. Aber wenn Teheran die Order erteilt, den Konflikt hochkochen zu lassen, dürften diese Bedenken schnell zerstreut sein.

Aktuell gibt es noch weiteres Eskalationspotenzial zwischen Israel und dem Libanon – vor allem der Streit um ein 800 Quadratkilometer großes Seegebiet, dass beide Länder für sich reklamieren. Nun hat Beirut einem internationalen Konsortium Konzessionen zur Erschließung der dortigen Erdgasfelder erteilt. Das wiederum bewertet Jerusalem als Provokation. Vermittlungsangebote seitens der Vereinigten Staaten lehnte die libanesische Regierung ab. Kurz zuvor noch hatte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah erklärt, dass man „die Teufel“, gemeint waren die Amerikaner, nicht einschalten dürfe – auch das ein Indiz dafür, wer im Lande das Sagen hat. Aber was auch immer der Auslöser einer möglichen bewaffneten Auseinandersetzung sein könnte, Israel wird dann mit gigantischen Problemen konfrontiert. Denn so gut die eigene Raketenabwehr Iron Dome auch funktioniert, mit einer derartigen Masse an Flugkörpern wäre man schlichtweg überfordert. Deshalb setzt Israel auf das Prinzip der Abschreckung und droht mit der völligen Vernichtung des Libanons. Das weiß ebenfalls die Hisbollah – ob das jedoch die Machthaber in Teheran beeindruckt, das steht auf einem anderen Blatt.

Bild oben: Premierminister Netanyahu hält während seiner Rede ein Teil der iranischen Drohne in die Höhe, die über Israel abgeschossen wurde (Foto: GPO/Amos Ben Gershom)