Brückenbauer und sanfter Menschenfreund

0
56

Der Schriftsteller Dogan Akhanli wird seit Jahrzehnten von Erdogans Justiz verfolgt…

Von Roland Kaufhold

„ Und wieso bist du hier?

Ich wurde festgenommen.

Und wieso?

Keine Ahnung. Hat mir noch keiner gesagt.

Gibt’s doch nicht, kardeşim. Wirst festgenommen und weißt nicht, warum. So gebildet wie du aussiehst … Was bist du denn von Beruf?

Schriftsteller.

Wenn du so einer bist wie Pamuk, mit Auszeichnung, dann hast du es nicht leicht!

Wegen welchen Artikels ich gesucht wurde, ist klar, aber keiner kennt dessen Inhalt. Ich werde in polizeiliches Gewahrsam genommen und eingesperrt, um morgen früh der Abteilung für Terrorbekämpfung übergeben zu werden.“


In: Dogan Akhanli: Sibirien, verfasst 2010 im Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis.

 

(c) Tal K.

Der vor zehn Tagen in Spanien auf Verlangen Erdogans festgenommene Schriftsteller Dogan Akhanli  ist in Köln eine Berühmtheit, trotz seines bescheidenen und zurückhaltenden Auftretens. Ich kannte ihn aus der Entfernung seit weit über einem Jahrzehnt. Als er 2010 in der Türkei festgenommen und mit einem kafkaesken Willkürprozess überzogen wurde setzten sich zahlreiche Freunde für ihn ein. Auch ich gehörte dazu. Als er einige Wochen nach seiner Freilassung wieder nach Köln zurück kehrte, es waren die Karnevalstage, traf ich ihn wenige Tage später zufällig in Köln-Ehrenfeld – seiner Heimat – auf der Straße. In den Monaten danach intensivierten sich unsere Kontakte. Wir entwickelten einige Projekte gemeinsam, insbesondere im Kontext des Pen-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, dem ehemaligen Exil-Pen. Als wir im März 2012 vor der Kölner Wohnung des in Shanghai geborenen jüdischen Schriftstellers Peter Finkelgruen einen Gedenkstein für dessen ermordeten Großvater enthüllten war Dogan sofort dabei. Ich bat ihn, den Gedenkstein bei der kleinen Feier symbolisch mit einzuweihen. Gemeinsam hoben wir das Tuch des KKL hoch. Dogan war sofort einverstanden. 

Anfänge

Dogan Akhanli wird im Frühjahr 1957 in Savsat am Schwarzen Meer  geboren, er hat vier Brüder. Sein Vater ist Lehrer, seine Mutter liest ihm Klassiker der Weltliteratur vor. Diese verschlingt er. Mit zwölf Jahren zieht er mit einem Bruder vom Nordosten nach Istanbul.  Es folgt ein Studium der Geschichte und Pädagogik.

Politische Verfolgung und Folter

Dogan Akhanlis Politisierung, seine mehrjähriges Engagement im sehr linken Widerstand in der Türkei der 70er und 80er Jahre, war eine Folge völlig überzogener staatlicher Reaktionen. Sie machen aus dem jungen Linken einen Widerstandskämpfer: Mit 18 Jahren kauft er sich an einem Kiosk eine linke Zeitung und wird daraufhin festgenommen. Er wird misshandelt und sitzt für fünf Monate in einem Istanbuler Gefängnis. Damit ist seine Kindheit vorbei, er ist nicht mehr der gleiche Mensch, obwohl er freigesprochen wird. In seiner 2008 erschienenen autobiografischen Erzählung Die Fremde und eine Reise im Herbst erinnert er sich: „Ich wurde im Alter von 18 festgenommen, weil ich an einem Kiosk eine damals linke Zeitung (…) kaufte. Elf Tage lang wurde ich „befragt“; fünf Monate war ich dann im Gefängnis Toptasi. Als ich auf freien Fuß gesetzt wurde, hatte ich nicht nur die Aufnahmeprüfungen für die Universität verpasst, sondern mir waren auch viele Wege versperrt. Seit jenem Tag war es mir nicht mehr möglich, meinen Frieden mit dem Staat der Türkischen Republik zu schließen.“ Die Feindschaft zwischen dem sensiblen, bescheidenen, äußerst humorvollen, zerbrechlich wirkenden Schriftsteller und dem größenwahnsinnig-despotischen Erdogan hat sich bis heute gehalten, wie seine erneute Verhaftung beweist.

Im September 1980, am Tage des Militärputsches, geht Dogan in den Untergrund, da ist er 23 Jahre alt. Er schließt sich der linken Gruppe Halkin Kurtulusu (Befreiung des Volkes) an. Er verteilt Flugblätter, organisiert Demonstrationen. Fünf Jahre später, am 18.5.1985, wird er mit seiner Frau und seinem 16 Monate alten Sohn verhaftet. Dogan wird in deren Anwesenheit schwer gefoltert, diese hören seine Schreie. Er hört das Weinen seines Sohnes. Zweieinhalb Jahre bleiben sie in Haft, in getrennten Zellen. Die Erfahrung der Folter sollte Dogan nie wieder los werden, es war ein bleibendes Trauma. Verschiedentlich haben wir darüber gesprochen, „nebenbei“: „Ich habe gelernt, mit meinen Traumata gut zu leben“, betonte er 2016. Nach der erneuten, willkürlichen Festnahme in Spanien ist diese Zuversicht, diese ganz außerordentliche seelische Integrationsleistung, nun jedoch gefährdet.  Aber eigentlich mache ich mir keine Sorgen um Dogan – wenn die Spanier ihn in Ruhe lassen. Wenn sie sich Erdogans pathologischer Übergriffigkeit verweigern. Und das werden sie tun, denke ich.

Dogan ist diesen traumatischen Erlebnissen nie ausgewichen, hat diese aus dem Kerker der Erinnerungen befreit. Später greift er seine Traumatisierungen, die gleichermaßen ein individuelles Erlebnis wie ein kollektiver türkischer Prozess sind, in seinen Romanen auf. Sein radikales politisches Engagement hat er nie verleugnet, auch wenn dieses heute nicht mehr seine Sache ist: „Ich war ein radikaler politischer Untergrundkämpfer. Dafür habe ich einen hohen Preis bezahlt. Und ich bin stolz darauf, es ist ein Teil von mir“, sagte er unter großem Beifall vor einigen Jahren vor mehreren tausend Zuschauern in einer Kölner Veranstaltung zugunsten von amnesty international.

Dogan glaubt heute nicht mehr an Gewissheiten, wie sie in den linken politischen Gruppen im Untergrund eingefordert wurden. Von seinen Genossen hat er sich bereits 1987 losgesagt. Er ist ein Fragender geworden. Das Erinnern an den türkischen Völkermord an den Armeniern betrachtet er seit Jahrzehnten als sein wichtigstes Anliegen. Dies ist seine Sache. Und daher kennt er auch Ilias Uyar, seinen außergewöhnlich mutigen und sympathischen Kölner Rechtsanwalt.

Dies haben ihm die Mächtigen der Türkei nie verziehen. Sie, die Geschichtsleugner, machten ihn zu ihrem Todfeind. Dogan hingegen ist der Gedanke an Rache und an Gewalt fremd. Er ist von einer berührenden Behutsamkeit, stets voller Humor und Ironie.

In seiner Erzählung Die Fremde blickt Akhanli auf diese türkische Geschichtslosigkeit und Feindseligkeit zurück:

„Damals beharrte der Staat auf seinem Staatsein und ich auf meiner Widerspenstigkeit. Und ich wurde 10 Jahre später zusammen mit meiner Frau und unserem damals 16 Monate kleinen Sohn erneut „befragt“. Die „Befragung“ dauerte einen Monat. Meine Frau habe ich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht wieder erkannt. Meinen Sohn habe ich, da er noch während des Krankenhausaufenthaltes einem Verwandten übergeben wurde, lange Jahre nicht wieder gesehen. Als meine Frau ein Jahr später und ich drei Jahre später freigelassen wurden, waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden.“

Flucht nach Deutschland

Zweieinhalb Jahre sitzt Dogan Akhanli im Istanbuler Militärgefängnis in Haft, im September 1987 wird er entlassen. Gemeinsam ziehen sie in die Provinz, suchen Ruhe. Sie bekommen noch eine Tochter. Dogan wird Fischer, baut Musikinstrumente. Einige seiner selbst gebauten Instrumente stehen heute in seiner kleinen Wohnung in Köln-Ehrenfeld. Als er im September 2014 in Köln vor über 200 Freunden für sein Wirken mit der Georg-Fritze-Gedächtnisgabe ausgezeichnet wird – die Laudatio hält der Filmemacher Fatih Akin, seine Dankesrede betitelt Dogan mit Wir brauchen einen transnationalen Gedächtnisraum – dankt er seiner früheren Ehefrau (mit der er nicht mehr zusammen ist) für ihre Hilfen in den Jahren des Terrors:

„Ich bin meiner damaligen Frau Ayşe dankbar, die mit mir durch die Hölle gegangen ist. Wenn ich aus der Folterkammer nicht als gebrochener Mensch heraus gekommen bin, verdanke ich das ihrem Mut und ihrem Widerstand. (…)  Nach der Geburt meines Sohnes hätte ich sofort das Land verlassen sollen. Es war keine Heldentat, mich weiter gegen das Militär zu engagieren; als Vater war es eine dumme, verantwortungslose Haltung, ihm gegenüber und später meiner Tochter gegenüber.“

1991 flieht Dogan mit seiner Familie nach Deutschland, da ist er 34. Er wird als politischer Flüchtling anerkannt. Als er seine Rückkehr in die Türkei verweigert – er soll zum Militär eingezogen werden – bürgert ihn das türkische Regime 1998 aus. Erneut wird er ausgestoßen, und doch spricht und denkt er weiter auf Türkisch. Drei Jahre später erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft. Der endgültige Bruch mit der Türkei erfolgt erst 2013, nach der Neuauflage des kafkaesken Gerichtsprozesses. Seitdem ist Dogan „ein Deutscher“… Und erst seitdem hat er angefangen, „wirklich“ deutsch zu sprechen.

Bücher

Dogan hat in seinen ersten Jahren zwar viele Kontakte zu „linken“, „unangepassten“ Deutschen, lebt in Wohngemeinschaften, zeitweise in Hausprojekten – deutsch lernt er in den folgenden Jahren jedoch nur wenig. Seine Seele bleibt in der Türkei. Als es ihm sehr schlecht geht, als ihn Depressionen wegen des Exils und der erlittenen sadistischen Gewalt überfallen, fährt er viel Fahrrad, sucht Fluchtwege. Aufzuschreiben vermag er seine traumatischen Erfahrungen noch nicht. Nach einer  furchtbaren Nacht entscheidet er sich, Schriftsteller zu werden. Es war Dogans beste Entscheidung. Und es klappte wirklich vorzüglich. Dogan schreibt verdammt gut!

Ab 1988 erscheint auf Türkisch die Trilogie Die verschwundenen Meere: Nach Warten auf das Meer und Das Mohnblumenfeld bildet sein Roman Die Richter des jüngsten Gerichts den Abschluss dieser literarischen Trilogie. 1999 erscheint das Buch in Istanbul, 2007 dann in einem österreichischen Kleinstverlag (kitab) auch auf Deutsch. Hierin behandelt er den türkischen Völkermord an den Armeniern und dessen systematische Verleugnung in der Türkei – eine Verleugnung, die bis heute anhält, wie die Diskussion um die Anerkennung des Völkermordes durch den Deutschen Bundestag auf bedrückende Weise belegt haben. Einige „türkischstämmige“ Bundestagsabgeordnete stehen wegen ihrer zustimmenden Haltung bis heute unter Polizeischutz, allen voran der Grüne Cem Özdemir. Özdemir hat mir in seiner Grundhaltung, Eindeutigkeit und Klarsichtigkeit gegenüber Erdogans Übergriffigkeit, Maßlosigkeit und antidemokratischer Willkür wirklich imponiert. Er weiß: Ein Zurückweichen, ein taktisches Entgegenkommen verstärkt nur Erdogans narzisstischen Größenwahn. Das hilft nicht weiter. Im Gegenteil. Cem Özdemir wird bis zum Ende seines Lebens mit der Bedrohung leben müssen. Er ist sehr konkret gefährdet, auch in Deutschland.

Der Arm Erdogans reicht, dies zeigt auch dieses aktuelle Beispiel – Dogan Akhanlis Festnahme im demokratischen Rechtsstaat Spanien – , bis tief in die Bundesrepublik.

„Es war einmal einer, ein Mann, der auszog, das Fürchten zu lernen. Aber… “

Dogan Akhanli brachte sein Armenienbuch den ewigen Hass der türkischen Geschichtsleugner ein – in der Türkei, aber auch in Deutschland. In türkischen Massenmedien wird er daraufhin als „armenischer Bastard“ beschimpft. Von offizieller Seite hingegen gab es den Versuch, sein Buch totzuschweigen. So entgeht er immerhin, im Gegensatz zu anderen berühmten türkischen Schriftstellerkollegen und Menschenrechtlern wie Orhan Pamuk, Elif Safak und Akin Birdal, der berüchtigte Anklage wegen „Verunglimpfung des Türkentums“. Seinem Armenienbuch Die Richter des Jüngsten Gerichts hat Dogan Akhanli leitmotivisch ein Zitat von Franz Werfel aus Die vierzig Tage des Musa Dagh voran gestellt:

„Ich musste lange warten, um sie vorüberziehen zu lassen, und nie werde ich den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und Kinder. Viele darunter mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so todernst und mit solch unbewusster Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts.“ (S. 13)

Und Akhanli fügt noch ein zweites leitmotivisches Motto hinzu, „natürlich“ vom großen jüdischen Schriftsteller Edgar Hilsenrath, entnommen aus dessen bewegendem Buch über den türkischen Völkermord an den Armeniern Das Märchen vom letzten Gedanken (1989):

„Es war einmal einer, ein Mann, der auszog, das Fürchten zu lernen. Aber diese eine kam nicht bis Anatolien.“

Nun, Dogan ist bis Köln gekommen. Das Fürchten jedoch hat er verlernt. Auch wenn es, das Trauma, gelegentlich wiederkommt.

In seinem ersten ARD-Fernsehinterview unmittelbar nach seiner Freilassung aus der knapp eintägigen Untersuchungshaft in Madrid sagte Dogan – seine tiefe Erschütterung habe ich in seinem Gesicht und in seiner Stimme verspürt – über die türkische Willkürjustiz, das auch in Köln allgegenwärtige türkische Spitzeltum: „Sie möchten mich zum Schweigen bringe, dass ich schweige. Aber ab 60 will ich auch nicht mehr schweigen.“

Nein, Dogan wird nicht schweigen. Er hat eigentlich noch nie geschwiegen.

In literarischen und intellektuellen Kreisen hingegen wurde – und bleibt – Dogan Akhanli in der Türkei eine Berühmtheit. Seine Werke wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet. 2005 erscheint mit Der letzte Traum der Madonna seine literarische Erinnerung an die Struma: Ein Flüchtlingsschiff mit 700 jüdischen Flüchtlingen, das 1942 im Schwarzen Meer versenkt wurde. Es wird von türkischen Kritikern zu den zehn besten Romanen des Jahres 2005 gewählt. Die Shoah, der systematisch von Deutschen voran getriebene Völkermord an den Juden, blieb Dogans tiefste Wunde – obwohl er selbst damit doch „eigentlich“ nichts zu tun hat…

Er reist auch nach Israel, nimmt an einer Tagung im jüdisch-arabischen Friedensdorf Givat Haviva teil. Gern trägt er seitdem das T-Shirt des israelischen Dorfes. Den deutschen Umgang mit der Shoah, die deutsche Aufarbeitung, empfindet er – im scharfen Gegensatz zur bereits 102 Jahre andauernden türkischen Geschichtsverleugnung – hingegen als vorbildlich. Regelmäßig hat er mit Freunden, die durch unterschiedliche Kulturen geprägt worden sind, in Berlin, Köln und Hamburg Seminare zum Thema Antisemitismus gemacht. Im Kölner EL-DE Haus machte er über mehrere Jahre hinweg unbezahlte Führungen mit türkischen und arabischen Jugendlichen durch die Gestapo-Keller des Hauses.

2016 erscheint mit Die Tage ohne VaterAkhanlis zweiter Roman auf deutsch. Auf türkisch war diese komplex gestaltete Liebesgeschichte bereits 2008 erschienen. Die Tageszeitung Hürriyet verleiht ihm den Preis für die wichtigste Neuerscheinung des Jahres. Die verschachtelte Erzählung beginnt so: Ein in der Literaturwelt gänzlich unbekannter Autor namens Dogan Akhanli schickt einer Lektorin, Polaris, unaufgefordert ein Manuskript. Die Nacht, in der der Rhein über die Ufer trat lautet der Titel. Mit seinem Werk begonnen habe er sein Werk bereits vor zehn Jahren, teilt der Polaris unbekannte Autor in einem Begleitbrief mit. Der Autor fügt hinzu: „In der Nacht, in der der Rhein über die Ufer trat, war alles, was ich wusste, dass die Liebe zu Ende ging und hierbei ein Ereignis, welches sich zwischen Vater und Sohn zugetragen hatte, einen ernsten Einfluss ausübte.“ Die Geschichte bleibt so verworren, so zeitlos wie das Unbewusste. Türkische politische Geschichte, Kölner Gegenwart, Sehnsucht, Liebe, Mathematik, Musik und die Tragik einer komplizierten Familiengeschichte fließen zusammen bzw. werden in kunstvoller Weise miteinander in Verbindung gesetzt

Literarischer und sozialer Brückenbauer

Dogan hat eine unüberschaubare Vielzahl von Freunden. Insbesondere Frauen verehren ihn. Vor allem jedoch ist Dogan Akhanli ein Brückenbauer zwischen allen Ethnien. Die Anzahl seiner historisch und politisch orientierten Projekte, in Köln, Berlin und Hamburg ist nahezu unüberschaubar

Dogan Akhanli gehört neben dem PEN-Club[i] auch dem traditionsreichen PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland an. Beide Schriftstellerverbände haben sich dieser Tage nachdrücklich für seine Freilassung eingesetzt. Sein Kölner Freund Peter Finkelgruen, der lange als Vorstandsmitglied im Exil-PEN gewirkt hat, lernte Dogan in den 1990er Jahren bei einer öffentlichen Lesung in Köln kennen. Gegenüber haGalil bemerkt Finkelgruen: „Als er in der Türkei im Jahre 2010 verhaftet wurde war er bereits Mitglied im PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Nach seinem Freispruch und Rückkehr nach Köln haben wir bei verschiedenen Projekten gemeinsam gearbeitet, so zum Beispiel bei einer Veranstaltung zugunsten inhaftierter Schriftsteller, die seinerzeit vom WDR übertragen wurde. Ganz besonders imponiert hat mir eine Gruppenreise, die Dogan Akhanli nach Auschwitz unternommen hatte.“

2010: Der kafkaeske Prozess

Im Sommer 2010 reist Dogan Akhanli in die Türkei. Sein Vater war sterbenskrank. Er möchte ihn noch ein letztes Mal sehen. Er weiß um die Gefahr, um den ewigen Hass Erdogans und seiner Clique auf ihn. Und doch schiebt er diese Gefährdung, seine Ängste beiseite. Noch am Flughafen wird Dogan Akhanli inhaftiert und für vier Monate festgehalten. In einem kafkaesken Prozess wirft ihm Staatsanwalt Celal Kara die Beteiligung an einem 21 Jahre zurückliegenden Raubmord in Istanbul vor. Alle Beteiligten wissen um die Absurdität des Vorwurfes. Selbst die Zeugen – Verwandte des 1989 Ermordeten – sagen vor Gericht eindeutig aus, dass Akhanli unmöglich der Gesuchte sein könne.

Noch im Gefängnis verfasst Akhanli die Erzählung Sibirien. Diese übergab er seinem Anwalt, der sie aus dem Gefängnis schmuggelte. In ihr beschreibt er die Komik und Tragik des soeben Erlebten. Die Kurzgeschichte beginnt so:

„Ich zeige meinen Pass vor. Mein Personalausweis ist ebenfalls in der Tasche. Vorzeigbereit.
– Doğan Bey, haben Sie auch Ihren türkischen Ausweis dabei?, fragt mich der Beamte, der meinen Pass am Computer überprüft.
– Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger. Aus der türkischen Staatsbürgerschaft hat man mich rausgeworfen.
– Nein, efendim. Man hat Sie sicher nicht rausgeworfen. So etwas gibt es nicht. Man wird nicht aus der Staatsbürgerschaft rausgeworfen.
– Ich schon. Offiziell. Mit dem Urteil des Ministerrats. Vor 12 Jahren.
– Unmöglich. Das nennt man nicht Rauswurf, sondern Verlust, Verlust der Staatsbürgerschaft. Wie Geld. Wirft man Geld raus? Man verliert es. Genauso. Werfen Sie Ihr Geld raus? Nein. Sie verlieren es. Sie werden Ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Sind Sie dann und dann geboren?
– Ja.
– Und Sie stammen von da und da?
– Ja.
– Dann müssen Sie mit uns kommen. Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor.“

Dank einer ganz außergewöhnlich großen Solidaritätsbewegung insbesondere in Köln – bei einer Unterstützerveranstaltung in der soeben neu eröffneten Volkshochschule vermag der Saal die weit über 500 Besucher nicht mehr zu fassen, auch ich bekomme nur noch einen Stehplatz – wird Akhanli nach vier Monaten frei gesprochen. Sein Vater war in diesen Wochen jedoch bereits verstorben. Dogan reist dennoch unmittelbar nach seiner Freilassung für mehrere Wochen in das Dorf seiner Eltern, seiner glücklichen Kindheit, um Abschied zu nehmen. Ich denke er wusste, dass dies sein letzter Besuch in der Türkei sein würde. Dogan wird nie wieder türkischen Boden betreten. Aber das ist auch nicht notwendig.

Und im Dezember 2010, unmittelbar nach seinem Freispruch, stellt Akhanli in Istanbul seinen soeben erschienenen türkischsprachigen Roman Fasil vor – auch optisch ein Kunstwerk. Fasil hat zahlreiche Bedeutungen, darunter und vor allem auch das Wort Folter. Das Buch ist in der Mitte geteilt und kann von der Vorder- wie auch von der Rückseite aus gelesen werden. Er erzählt die Geschichte der Folter sowohl von der Perspektive des Täters als auch der des Opfers aus: „Ich habe versucht zu verstehen, warum ich gefoltert worden bin“, sagte er in einem Interview nach seiner Rückkehr nach Köln: „Warum war ich ein Opfer? Ich wusste, dass ich als aktiver Untergrundkämpfer in einer Militärdiktatur das Risiko der Folter einging, wenn ich blieb. Ich konnte fliehen, blieb aber. Ich bereue diesen Schritt nicht, sondern bin eher stolz auf meinen Widerstand. Wenn Sie mich aber jetzt, da ich erneut Opfer der türkischen Justiz geworden bin, fragen: Was hat sie mehr traumatisiert: die Folter damals oder die aktuelle Inhaftierung?, dann würde ich sagen: der aktuelle Fall.“

Dogan hat gegenüber Freunden, aber gelegentlich auch in der Öffentlichkeit sehr direkt von seinen schweren Traumatisierungen, von den Nachfolgewirkungen der erlittenen, sadistischen Folter im türkischen Hochsicherheitstrakt erzählt. Er hat von seinen Ängsten, seinen Depressionen berichtet, ohne den Gestus der Anklage. Der sensible Erzähler hat sich schon vor vielen Jahren von der direkten politischen Arbeit verabschiedet. Seine langjährige Begleiterin, die in Köln lebende Berivan Aymaz, ist soeben für die Grünen in den nordrhein-westfälischen Landtag eingezogen.

Aber dies ist nicht mehr Dogan Akhanlis Sache. Er versteht sich heute vor allem als ein in zwei Kulturen lebender Schriftsteller und Menschenrechtler, der Brücken baut. 

Februar 2011: Rückkehr nach Köln

Nach seiner Rückkehr nach Köln wird er im Februar 2011 vom Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters in einer Festveranstaltung feierlich empfangen. Er trägt sich in das goldene Buch der Stadt Köln ein. „Ich verdanke Deutschland meine Freiheit“, sagte der sichtlich Gerührte. Die breite Solidaritätsbewegung habe er im Gefängnis „bis auf die Knochen gespürt“. Sie habe ihm die Kraft gegeben, die Hoffnung auf eine Freilassung niemals aufzugeben.

2013: Neuauflage des kafkaesken Willkürprozesses Staatsanwalt Celal Kara

Besagter Staatsanwalt Celal Kara vermochte die Niederlage nicht zu ertragen. Und Erdogan saß ihm im Nacken. Zwei Jahre später, 2013, legt Erdogans Staatsanwalt Celal Kara den Prozess erneut auf – im Wissen um dessen Haltlosigkeit. Zahlreiche Freunde haben sich bei der Prozesseröffnung – die Dogan Akhanli selbstverständlich nur von seiner winzigen Wohnung in Köln-Ehrenfeld aus verfolgt! – versammelt. Ununterbrochen klingelt Dogans Handy. Nahezu alle Korrespondenten der großen bundesdeutschen Zeitungen rufen ihn an, bitten um Stellungnahmen. Manche wünschen ihm, so erzählt er danach in kleinster Runde, in ungewöhnlich persönlicher Weise Glück. In einer internationalen Erklärung teilt Akhanli mit, dass er sich wie ein Protagonist aus Kafkas Werk fühle. Er habe nur ein Leben. Er sei ein Schriftsteller. Er sei  nicht mehr bereit, seine Lebenszeit mit dieser sinnlosen Willkür zu vergeuden. Er werde keinen Anwalt mehr zum Prozess schicken. Ab jetzt, so fügte Dogan Akhanli hinzu, sei er kein Türke mehr. Er werde auch nicht mehr auf Türkisch schreiben. Das Gericht verurteilt ihn, den Sanftmütigen und Zerbrechlichen, wegen „versuchten Umsturzes der Regierung“ und schreibt ihn zur Fahndung aus. Dogan Akhanli lässt sich beraten: Juristen versichern ihm, dass ihm in Europa und in anderen demokratischen Staaten nichts passieren kann. Seitdem hat er als Schriftsteller zahlreiche Länder besucht, war auch einmal im Nordirak auf einer Schriftstellertagung. Es gab nie Probleme.

Ein Nachtrag: Staatsanwalt Celal Kara auf der Flucht

Im August 2016 erinnert sich Dogan Akhanli in einem in der FAZ publizierten Beitrag („Grundlos schuldig“)[ii] in eindrücklicher Weise an Erdogans seinerzeitigen despotischen Staatsanwalt Celal Kara – und an dessen weiteres kafkaeskes Schicksal. Akhanli schreibt:

„Während des Prozesses saß Celal Kara da wie eine Statue. Er saß auf derselben Höhe wie der Richter und wenn er sich dann doch einmal bewegte, dann spielte er mit seinem Laptop. Der Gerichtssaal war überfüllt. Freunde aus Deutschland und aus meiner Kindheit und Vertreter der Presse waren da. Alle Zeugen wurden angehört. Alle Beweisdokumente wurden verlesen. Die Verteidigung zerpflückte die Anklageschrift und machte damit den Staatsanwalt lächerlich. Den Richtern blieb nichts anderes übrig, als mich freizusprechen. Der Staatsanwalt Kara übte Rache, indem er in Revision ging. Seine Begründung lautete: „Auch wenn alle Beweise zugunsten des Angeklagten sprechen, heißt das nicht, dass er unschuldig ist.“ Der Kassationshof gab ihm recht. 2013 wurde mein Freispruch kassiert und ein internationaler Haftbefehl gegen mich erlassen.“

Und Akhanli erzählt die Geschichte der Willkür, die nun den türkischen Staatsanwalt selbst ereilen sollte, so weiter:

„Genau vor einem Jahr, im August 2015, haben die türkische und die deutsche Presse darüber berichtet, dass drei Staatsanwälte vor ihrer drohenden Festnahme in der Türkei außer Landes geflohen seien. Unter ihnen war auch mein Staatsanwalt Celal Kara. Er ist wegen der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ und wegen des „versuchten Umsturzes der Regierung“ zur Fahndung ausgeschrieben worden. Mit derselben Begründung hatte er mich zuletzt lebenslänglich im Gefängnis sehen wollen und einen internationalen Haftbefehl gegen mich erwirkt. Dann landete auf einmal er selbst auf der internationalen Fahndungsliste. Seine Istanbuler Kollegen wollen ihn auf Grundlage derselben Paragraphen lebenslänglich hinter Gitter bringen, die Kara auch gegen mich angeführt hat. Er soll in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, ist aber derzeit nicht auffindbar.“

Akhanli fügt abschließend hinzu:

„Ich glaube, es wäre eine sehr interessante Begegnung, wenn ich mich mit meinem nun auch im Exil in Deutschland lebenden Staatsanwalt träfe. Er ist ja nun sozusagen mein Schicksalsgenosse, wir könnten über die Willkür, die Arroganz und die derzeitige Situation in unserem Herkunftsland reden und uns austauschen über unsere Erfahrungen mit dem türkischen Gewaltapparat und dem Exil.“

Es war dieses absurde Willkürurteil sowie die Komplizenschaft des internationalen Interpol-Sicherheitssystems („red notice“) mit Erdogans „paranoiden Zügen“ (Außenminister Sigmar Gabriel), die zu Dogan Akhanlis Festnahme in der spanischen Stadt Granada führten, wo er mit seiner Freundin einen Kurzurlaub machte.

„In Köln fühle ich mich sicher“ 

„In Köln fühle ich mich sicher“, hat Dogan in Gesprächen immer wieder hervor gehoben. Hier habe er so viele Freunde, hier könne ihm nichts passieren. Mit Entsetzen erlebt er im Sommer 2016 die wohl 8000 nationalistischen türkischstämmigen Demonstranten am Köln-Deutzer Rheinuber, die Erdogan feiern. Hunderte von deutschen Türken fordern in Sprechchören die Todesstrafe. Hierzu hatte Erdogan sie immer wieder aufgefordert.

Dogan wusste um seine Gefährdung, vermutlich auch in Köln. Aber er verdrängte sie, um arbeitsfähig zu bleiben. Er vertraute auf den Schutz, den der liberale demokratische Rechtsstaat Deutschland ihm bietet. „Deutschland hat mich 2010 gerettet“, hat er immer wieder hervor gehoben. Vor zehn Tagen reiste er mit seiner Freundin privat nach Spanien. Seine Festnahme frühmorgens in Granada durch mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten war ein absoluter Schock für den 60-Jährigen. Dies hätte er, der vielfach die Hölle erlebt hat, selbst in seinen schlimmsten Albträumen – von denen er viele hatte – nicht für möglich gehalten. Dass Erdogans Arm sogar bis Spanien reicht erschien ihm schlicht als unmöglich.

Ilias Uyar und Dogan Akhanli

Dogan Akhanli wurde nach sehr energischen Protesten nach einem knappen Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Zu verdanken war dies insbesondere seinem langjährigen Freund, dem armenischstämmigen Kölner Rechtsanwalt Ilias Uyar. Dieser vertrat ihn bereits 2010 bei dessen Istanbuler Inhaftierung. Beide kennen sich seit Ilias Uyars Studienzeit in Köln: Der Jurastudent Ilias Uyar hatte gehört, dass es in Köln einen türkischstämmigen Schriftsteller geben solle, der sich für den Völkermord an den Armeniern interessiere. Sie trafen sich. Bald waren sie engste Freunde und Weggefährten. Immer wieder sind sie zusammen aufgetreten, um gemeinsam an den Völkermord an den Armeniern – dem auch der größte Teil von Ilias´ Familie zum Opfer gefallen ist – zu erinnern. Immer wieder. Bis heute.

Zahlreiche ungeklärte Fragen

Diese Festnahme des Schriftstellers Dogan Akhanli in Spanien wirft zahlreiche, dringliche Fragen auf:

Dogan Akhanli war privat mit seiner Freundin für einige Tage in Spanien im Urlaub, niemand wusste hiervon. Er muss in Köln observiert worden sein. Er wurde nicht – wie zwei Wochen zuvor der seit Jahrzehnten in Schweden lebende Journalist Hamza Yalçın, der gleichfalls in Folge des „Red Notice“ Gesuchs von Interpol im Flughafen von Barcelona festgenommen wurde – im Flughafen festgenommen. Dies wäre zu erwarten gewesen, wenn es „nur“ um die Existenz einer von der Türkei ausgestellten „Red Notice“ gegangen wäre. Sein weiterer Reiseweg muss von türkischen Spionen verfolgt worden sein. Er wurde erst einige Tage später von schwer bewaffneten Polizisten früh morgens in seinem „privaten“ Hotel festgenommen. Sie fragten direkt nach seinem Pass.

Woher wusste Erdogans Justiz von seinem Privataufenthalt? Dogans Festnahme wurde nur öffentlich, weil er gemeinsam mit seiner Freundin im Hotel übernachtete. Sie konnte Akhanlis in Köln lebenden Anwalt Ilias Uyar informieren. Zehn Stunden später war seine Festnahme eine Hauptmeldung in der Tagesschau. Was wäre geschehen, wenn Akhanli alleine im Hotel gewesen wäre? Hätte die spanische Justiz deutsche Behörden informiert? Hätten sie ihn sofort an die türkische Willkürjustiz ausgeliefert? Warum haben deutsche Behörden, die Kölner Polizei, ihn nicht über das türkische Interpolgesuch informiert? 
Welche deutschen Behörden hatten Kenntnis hiervon? Warum haben diese deutschen Behörden den deutschen Staatsbürger Akhanli nicht hierüber informiert? Muss also jeder deutsche Staatsbürger, der sich in Deutschland in „missliebiger“ Weise über Präsident Erdogan äußert, begründet befürchten, im europäischen Ausland durch bewaffnete Polizei festgenommen und an die Türkei ausgeliefert zu werden?

Der Schriftsteller und Menschenrechtler Dogan Akhanli wäre, daran kann nach dieser absurd-gewalttätigen Vorgeschichte nicht der geringste Zweifel bestehen, bis zum Ende seines Lebens in den türkischen Kellern gefangengehalten worden.

Eine weitere Inhaftierung oder sogar eine Auslieferung des international angesehenen Menschenrechtlers und Schriftstellers von Spanien in die Türkei wäre eine Bankrotterklärung Europas vor Erdogans maßloser, schon pathologisch erscheinender Willkür.

Das PEN-Zentrum Deutschland hat kürzlich ein Spendenkonto für Dogan Akhanli eröffnet.

Eine sehr stark gekürzte Version dieses Portraits ist in der Wochenendausgabe des Neuen Deutschland, 26.8.2017, erschienen.
Bild oben: Bei der Kölner Gedenkfeier zum 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern, April 2015 (c) R. Kaufhold

 

[i] Das PEN-Zentrum Deutschland hat inzwischen einen Spendenaufruf nebst Spendenkonto für Dogan Akhanli eröffnet: http://www.pen-deutschland.de/de/2017/08/24/spendenaufruf-zugunsten-des-von-der-auslieferung-an-die-tuerkei-bedrohten-deutschen-schriftstellers-dogan-akhanli/

[ii] Dogan Akhanli: Grundlos schuldig, FAZ, 26.8.2016. Internet: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/justiz-in-der-tuerkei-grundlos-schuldig-14405543.html