Antisemitismus in der Linkspartei

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»DIE LINKE hat ein Problem mit Antisemitinnen und Antisemiten«…

»Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann nicht gebrochen.«
(Adorno 1959: 28)

Von Martin Kloke
Zuerst erschienen bei: Compass Infodienst

Als im Mai 2011 die Frankfurter Rundschau über eine zunächst unveröffentlichte sozialwissenschaftliche Untersuchung zur Antisemitismus- Virulenz in der LINKEN berichtete (Hein 2011a, Salzborn/Voigt 2011), ahnte niemand, welchen publizistischen und politisch-parlamentarischen Wirbel die Studie auslösen würde. Beobachter und Akteure inner- und außerhalb der Linkspartei artikulierten sich auch deshalb so massiv, weil in Gesellschaft und Öffentlichkeit noch immer der Eindruck vorherrscht, als sei Judenfeindschaft ein exklusives Merkmal rechtsgerichteter Milieus und ihrer ewig-gestrigen Anhänger. Dabei hätten aufmerksame Analytiker und Chronisten längst wissen können, dass antisemitische Ressentiments von jeher auch aufklärerischen und linken Traditionen inhärent sind. Materialgesättigte Untersuchungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert (vgl. Silberner 1962 und 1983, Améry 1969, Broder 1976 und 1986/2005, Kloke 1990/1994) belegen, dass nicht wenige »linke« Strömungen, Parteien und Personen den gesellschaftlich grassierenden Antisemitismus notorisch unterschätzen oder vor antisemitischen Ressentiments selbst nicht gefeit sind.

Die heutige Linkspartei verdankt ihre Existenz mehreren Metamorphosen: Sie ist genealogisch die Nachfolgepartei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die sich als Staatspartei der DDR 40 Jahre lang als avantgardistische Erfüllung der sozialistisch-kommunistischen Aspirationen der Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts geriert hat. Die SED mutierte 1990 – nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus im Herbst 1989 – zur SED/PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus). Um wenigstens äußerlich die Spuren der Vergangenheit zu tilgen, benannte sich die SED-Erbin 2005 erneut um und firmierte zeitweise als Die Linkspartei. PDS. Nach dem Zusammenschluss mit der westdeutschen linkssozialistischen WASG (»Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative«) nahm die Partei 2007 ihre bis heute gültige Bezeichnung DIE LINKE (Eigenschreibweise, Anm. d. Verf.) an. Vor dem Hintergrund dieser verwirrenden Namens-Odyssee wird deutlich, dass die Linkspartei weder jung noch traditionslos ist. Im Gegenteil: DIE LINKE, die in den ostdeutschen Bundesländern bis heute eindrucksvolle Wahlergebnisse erzielt, ist die politische und materielle Erbin der SED – dies ungeachtet ihrer Weigerung, für die desaströsen Hypotheken der insolventen DDR in Haftung genommen zu werden (vgl. Lannert 2012).

Viele ehemalige Funktionäre, Parteigänger, aber auch Bürger der untergegangenen DDR sind der Überzeugung, die DDR und DIE LINKE insgesamt seien frei von Antisemitismus (gewesen). Dieses Selbstbild charakterisiert auch und gerade zahlreiche Anhänger der LINKEN – von der argumentativen Wucht empirisch-analytischer Untersuchungen lassen sie sich kaum verunsichern und erst recht nicht umstimmen (vgl. Amadeu Antonio Stiftung 2010).

[…]

Bis kurz vor der Wende 1989 hatte der zweite deutsche Staat kein Interesse an der Aufnahme offizieller Beziehungen zu Israel gehabt. Jahrzehntelang betrachteten die Funktionäre des SED-Regimes den jüdischen Staat nicht als den Zufluchtsort überlebender Opfer von Antisemitismus und Rassenwahn, sondern als den Gegner aller »progressiven« Kreise – als ein Land, das von der »kleinbürgerlichen Ideologie« des Zionismus beherrscht werde und trotz »formaldemokratischer« Verhältnisse die »Speerspitze des imperialistischen Lagers« bilde. Entschädigungszahlungen an das ideologisch »irregeleitete« Israel lehnte die DDR ab: »Wahre« Wiedergutmachung habe die DDR mit der Errichtung eines »antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaates« geleistet; die neuen gesellschaftlichen Strukturen in der DDR hätten zur »Ausrottung von Faschismus und Revanchismus« geführt. Etwaige Berührungspunkte oder gar Parallelen zwischen Antisemitismus und Antizionismus wurden als »zionistische Propaganda« zurückgewiesen. Zugleich ergriff die DDR jahrzehntelang Partei für die arabisch- palästinensische Sache, auch wenn sie formal das Existenzrecht Israels nicht antastete. Ihren verbliebenen Spielraum nutzten die Funktionäre des SED-Regimes keineswegs zur verbalen Mäßigung; vielmehr verliehen sie ihrer antiisraelischen Agitation eine besondere Schärfe und unterstützten die PLO über viele Jahre politisch, materiell und personell – bis hin zur Durchführung von Trainingsprogrammen für palästinensische Kämpfer (vgl. Timm 1997, Haury 2007, Jander 2008).

Antisemitische Aktivitäten wurden im Establishment der DDR nicht als solche wahrgenommen, solange sich einschlägige Ressentiments auf »den Zionismus« und den Staat Israel fokussierten. In einem Gedicht- und Erinnerungsbuch über den Holocaust brachte ein parteinaher Dichter eine aufschlussreiche Sentenz zu Papier, die in den 1950er Jahren jenem Aufrechnungsbedürfnis Rechnung trug, das den deutschen Erinnerungsdiskurs immer wieder überschattet: »Ein Ghettovolk, jahrhundertelang gequält, / hat nichts gelernt und fühlt sich auserwählt / zu Knutenschwingen und zu Herrenton. / Von Bomben träumt die junge Generation, / das Hakenkreuz schlingt sich zum Zionsstern. […]« (Fürnberg 1956/1968).[1] Neben dieser klassischen Opfer-Täter-Umkehr zirkulierten in der DDR weitere antijüdische Ressentiments unterschiedlichster Provenienz – sie sollten sichtbare Spuren u. a. in der staatlich gelenkten Presse hinterlassen. In der Leipziger Volkszeitung (17.04.1985) wurde beispielsweise eine Karikatur veröffentlicht, in der die jüdische Menorah in Gestalt einer feuerspeienden Gewehrmündung in der Hand eines israelischen Soldaten zu sehen ist.

Die DDR knüpfte im manichäisch aufgestellten Antiimperialismus gegen den »internationalen Zionismus« nicht nur an Grundstrukturen des traditionellen Antisemitismus an, sondern war in ihrem unerbittlichen Antizionismus als zweiter deutscher Staat auch vergangenheitspolitisch motiviert. In der kategorischen Ablehnung jeglicher Wiedergutmachung und in der obsessiven Parallelisierung von Zionismus und Nationalsozialismus zeigten sich Symptome eines sekundären Schuldabwehr-Antisemitismus, der nach Entlastung und Exkulpation von der Hypothek der NS-Vergangenheit suchte.

In jene hier nur andeutungsweise erinnerten Traditionszusammenhänge sind nolens volens auch die Nachfolger der SED verstrickt – einerlei, wie sehr ihre Protagonisten personelle und ideologische Wurzeln zu verschleiern suchen. Parteichef Gregor Gysi räumte 2006 freimütig ein: »Die Gedanken- und Gefühlswelt in Bezug auf Israel und die arabischen Länder ist in meiner Generation unklar, wirr und widersprüchlich.« (Gysi 2006) Zweieinhalb Jahre später kennzeichnete Parteivize Halina Wawzyniak das Verhältnis ihrer Partei zu Israel als ein »hochproblematisches und hochemotionalisiertes « Thema (zit. n. Hengst 2009). Beide Statements lassen erahnen, wie sehr auch die Linkspartei und ihre Klientel ein genuin ‚deutsches‘ Phänomen sind.

Das erkenntnisleitende Interesse dieses Beitrags ist die Klärung, welche Konsequenzen die Linkspartei aus dem ideologisch einschlägig belasteten Erbe der DDR gezogen hat. Seit der Fusion der ostdeutschen PDS mit der westdeutschen WASG zur gesamtdeutschen LINKEN muss diese Frage auf das Antizionismus-Erbe der 1968er-Neuen Linken in der alten Bundesrepublik erweitert werden: In welchem Maße zeigt die Partei Bereitschaft, sich ihrer zweigleisigen Geschichte des antizionistischen Antisemitismus selbstkritisch zu stellen und daraus Konsequenzen für gegenwärtiges Handeln zu ziehen? Inwiefern neigt die Linkspartei dazu, ihr historisch- politisches Biotop »kommunikativ zu beschweigen« (frei nach Hermann Lübbe) – mit dem Risiko, Einfallstore für jene überkommenen Metaphern und Codes, Stereotypen und Projektionen zuzulassen, die sich hinter einer zeitgeistgeprägten variablen Konfiguration der »Israelkritik« zu camouflieren wissen.

Antisemitische Erscheinungsformen

Anders als die bürgerlichen Blockparteien, die sich noch vor dem Untergang der DDR in die schützenden Arme ihrer westdeutschen Mutterparteien begeben hatten, begannen Anfang der 1990er Jahre einige intellektuelle Vordenker im Umfeld der PDS, sich mit dem Themenkomplex Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus kritisch auseinanderzusetzen und sich politisch neu zu erfinden. Zu den ersten tastenden Versuchen gehörte Ende 1992 in Berlin ein Workshop unter Mitwirkung der Historischen Kommission der PDS, der das historische und aktuelle Verhältnis von Antisemitismus und Arbeiterbewegung diskutierte. Im März 1993 fragte ein ähnlich ausgerichtetes Kolloquium nach gegenseitigen Wahrnehmungen von Deutschen, Juden und Arabern nach 1945. An diesen und weiteren öffentlichen Diskursanlässen nahmen einstige Funktionsträger und Diplomaten der DDR ebenso teil wie – punktuell – externe Referenten aus der politikwissenschaftlichen Forschung. Die aus diesen Tagungen hervorgegangenen Publikationen enthalten bemerkenswerte Beispiele für das unverbundene Nebeneinander von politischer und autobiografischer Apologetik, aber auch (selbst-)kritischer Analyse (vgl. Keßler 1993, Schwanitz 1994).

Einer der Protagonisten sozialistischer Selbstaufklärung, der parteinahe Historiker Mario Keßler, hatte bereits in den späten 1980er Jahren das Verhältnis von Sozialismus und Zionismus aufzuarbeiten begonnen und noch kurz vor dem Ende der DDR eine diesbezügliche Dissertation B [2] verteidigt (vgl. Keßler 1990). Vorsichtig bilanzierte Keßler in der PDS-freundlichen Theorie-ZeitschriftSozialismus die verschlungene Dialektik von Antizionismus und Antisemitismus in der DDR:

»Sowohl im Hinblick auf eine sozialistische Nahost-Politik, die diesen Namen verdient hätte, als auch bezüglich der Aufarbeitung von antisemitischen Denk- und Verhaltensweisen unter der Oberfläche der realsozialistischen Wirklichkeit erwies sich die DDR als unfähig, den eigenen hohen Ansprüchen gerecht zu werden – Ansprüchen, die sich aus guter linker Tradition speisten.« (Keßler 1992: 55)

Von unfreiwilliger Komik zeugt die Tatsache, dass Keßlers Beitrag mit einer Karikatur illustriert wurde, die den Davidstern nach alter SED-Tradition mit dem Kainsmal des Militarismus versah – und somit die kritischen, gleichwohl um Parteikonformität bemühten Überlegungen des Autors unfreiwillig bestätigen sollten.[3] Keßlers Untersuchung über die SED und die Juden changierte drei Jahre später zwischen Konformität und Kritik – wie schon der Titel des Buches durchblicken lässt: »Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz«. Obwohl das Verhältnis zu Israel ein beherrschendes Thema seiner Untersuchung war, blendete Keßler die Zeit nach 1967 – mit Ausnahme einer 15-zeiligen Schlussbemerkung – aus. Diese zeitliche Beschränkung erleichterte ihm die Fiktion, die antisemitische »Repression« habe sich auf die stalinistischen Exzesse der Jahre 1952/53 beschränkt, während die politischen und gesellschaftlichen Leitlinien fortan von einer Politik der »Toleranz« gegenüber den Juden bestimmt gewesen seien. Das Paradigma der »schließlichen Toleranz« weitete Keßler unterschwellig auch auf die Zeit nach 1967 aus, indem er bei aller Kritik an der einseitig-negativen Wahrnehmung Israels den auch antisemitisch motivierten Antizionismus der DDR weitgehend ausblendete bzw. bagatellisierte (vgl. Keßler 1995).

Nicht weniger bedeutsam sind die langjährigen Aktivitäten der ‚Israel- Wissenschaftlerin‘ Angelika Timm. Schon in den 1980er Jahren gehörte Timm als Dozentin an der Sektion »Asienwissenschaften« der Ost- Berliner Humboldt-Universität zu den führenden Israel-Expertinnen der DDR. An der Formulierung antiisraelischer DDR-Politik war sie nicht nur publizistisch beteiligt – wann immer DDR-Außenpolitiker mit israelbezogenen Fragen konfrontiert waren, trat Timm als Beraterin auf; zwischen 1977 und 1983 war sie auch im diplomatischen Dienst der DDR in Bagdad und Kairo tätig. Unmittelbar nach dem Ende der DDR erkannte die ‚Israelogin‘ rasch die Zeichen der Zeit und plädierte fortan für ein »differenzierteres Bild« von Israel und den nahöstlichen Realitäten. Nun erkor sie die kritische Aufarbeitung des ostdeutsch-israelischen Verhältnisses zum Schwerpunkt ihres Engagements – teils im Rahmen ihrer fortdauernden Dozenten-Tätigkeit an der Humboldt-Universität, zeitweise auch als Gastprofessorin an Universitäten in Israel und den USA. Seit den frühen 1990er Jahren säumen zahlreiche Veröffentlichungen ihr DDR- und israelbezogenes Engagement. 1997 veröffentlichte Timm ihr wohl wichtigstes Nachwendebuch – eine historiografisch umfangreiche Bilanz des gestörten Verhältnisses der DDR zu Israel (vgl. Timm 1997). Den historischen Skandal einer »zweiten Schuld« der DDR nicht nur vage behauptet, sondern systematisch dokumentiert zu haben, macht das Verdienst der Studie aus. Dass Timm Wert auf die Feststellung legt, »personale Schuldzuweisungen weitgehend außerhalb der Betrachtung« zu lassen (ebd.: 14), klingt auf den ersten Blick großherzig. Die aufmerksame Lektüre hingegen legt den Befund nahe, dass Akteure und Israel-Experten der zweiten Reihe – bis auf versprengte Andeutungen und Fußnotenhinweise – vom gnädigen Mantel des Verschweigens umhüllt bleiben. Irritierend ist auch die Tatsache, dass die »Auswahlbibliographie« nicht eine einzige Publikation der Autorin aus DDR-Zeiten enthält. Nicht einmal die 1987 fertiggestellte »Dissertationsschrift B« über die »rechte israelische Sozialdemokratie« (vgl. Timm 1987) findet Erwähnung, während ihre geläuterten Artikel aus den 1990er Jahren wie selbstverständlich aufgelistet sind. Drückt diese dokumentarische Lücke Scham darüber aus, dass einst auch die Autorin dem DDR-spezifischen Antizionismus verpflichtet war?[4] Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen? – leitet Timm seit 2009 die Außenstelle der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Als ob es in den 1990er Jahren die tastenden, zögernden und auch unzulänglichen Versuche einer kritischen Aufarbeitung des DDR-spezifischen Antizionismus in der PDS nie gegeben hätte, pflegte die parteinahe Medienlandschaft auch nach der Wende ihre antiisraelischen Ressentiments weiter – diesmal unter dem unschuldig anmutenden Label der Israelkritik: Gewiss hat sich die Darstellung von Juden, Judentum und Israel über die Jahre pluralisiert; gleichwohl erhält der Leser den Eindruck, als ob sich Zeitungen wie das parteinahe Neue Deutschland (ND) und besonders die trotz ihrer LINKEN-nahen Leserschaft über die Partei hinaus radikalisierte junge Welt (jW) dem israelfeindlichen Erbe der DDR nach wie vor verpflichtet fühlen. [5] Wann immer die israelische Armee auf Terrorangriffe reagiert, firmieren diese Abwehrversuche als »Racheaktion(en)«. Überhaupt scheinen sich Klischees des überlieferten christlichen Antijudaismus in säkularistischen Kreisen hartnäckiger zu behaupten als in aufgeklärten religiösen Milieus. Reflexhaft fragen ausgerechnet religionsferne Postkommunisten immer wieder: »Wer stoppt dieses alttestamentarische Gemetzel? « (Standke 2000: 1) Einer der langjährigen Kommentatoren der jW setzte diesem Stereotyp die Krone auf:

»Mit alttestamentarischer Härte geht Israel gegen die palästinensische Rebellion in den besetzten Gebieten vor. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist noch eine glatte Untertreibung. Für ein Auge hundert Augen und für einen Zahn hundert Zähne, lautet die Rechnung.« (Pirker 2000) [6]

[…]

In der Linkspartei ist das Verhältnis zu islamistischen und antisemitischen Israelfeinden (Hamas, Hisbollah, Iran) latent doppelbödig bzw. manifest ungeklärt: In Teilen der Partei sind sogar mehr oder weniger verschämte Sympathien mit der Hisbollah als angeblich »antikolonialer Befreiungsbewegung « virulent. So nahmen im April 2002 Angehörige der Berliner PDS an einer propalästinensischen Großdemonstration teil, die maßgeblich von Sympathisanten islamistischer Gruppen getragen wurde. Die Parteiaktivisten ließen sich von den dort geäußerten antiisraelischen Vernichtungswünschen kaum beeindrucken (vgl. Haury 2004: 151). Die LINKEN-Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz, die dem trotzkistischen Netzwerk »Marx 21« angehört, wandte sich im Sommer 2006 gegen die angebliche »Dämonisierung« der Hisbollah und bekannte freimütig: »Auf der anderen Seite stehen in diesem Konflikt die Hisbollah, die Friedensbewegung in Israel und die internationale Antikriegsbewegung. Das ist die Seite, auf der auch ich stehe.« (Buchholz 2006)

Oskar Lafontaine, Ex-Vorsitzender der LINKEN-Bundestagsfraktion, äußerte wiederholt Verständnis für das iranische Atomprogramm (vgl. Lafontaine 2006), sekundiert von dem langjährigen außenpolitischen Sprecher der Fraktion, Norman Paech: »Was man Israel oder Pakistan gewährt hat, kann man dem Iran nicht verweigern.« (Steffen 2006) Vor diesem Hintergrund musste der Politikwissenschaftler und Iran-Experte Matthias Küntzel erleben, dass das Neue Deutschland einen erbetenen Gastbeitrag zur Frage von Sanktionen gegenüber dem Iran umgehend zurückzog, nachdem Küntzel seinen auch die Linkspartei tangierenden kritischen Beitrag abgeliefert hatte (vgl. Küntzel 2008). Die Partei lehnt bis heute Sanktionen gegen den Iran ab und zeigt sich erstaunlich willfährig gegenüber Firmen wie Siemens, Linde und RWE, die mit dem Iran enge wirtschaftliche Beziehungen unterhalten und damit faktisch das iranische Atomprogramm unterstützen. Ungerührt von den Vernichtungswünschen und – drohungen iranischer Regierungsvertreter gegen das »zionistische Krebsgeschwür « und ungeachtet der kruden Menschenrechtsverletzungen gegen politische, religiöse und sexuelle Minderheiten im eigenen Land heißt es in einem Positionspapier der Rosa-Luxemburg-Stiftung:

»Zum iranischen Entwicklungsweg sollte grundsätzlich eine Haltung bezogen werden, die als selbstverständlich anerkennt, dass Iran seinen selbstbestimmten, am Islam, der sozialen Spezifik und Werten seiner Gesellschaft orientierten Entwicklungsweg geht.« (Seifert u. a. 2006)

Politiker wie z. B. Lafontaine fahnden – mehr oder weniger verdeckt, gleichwohl beharrlich – nach gemeinsamen ideologischen »Schnittmengen «. Zusammen mit anderen LINKEN-Vertretern (insbesondere der ehemaligen Linksruck-Fraktion) sucht eine informelle antiisraelische Koalition den Dialog mit Islamisten einschließlich der palästinensischen Hamas – und dies nicht nur mit klammheimlichem Beifall aus dem Milieu der NPD (vgl. Fischer 2007: 5).

Unverdrossen macht sich der Hamburger Völkerrechtler Paech zum Fürsprecher des Teheraner Mullah-Regimes und behauptet: »Israel droht dem Iran, nicht andersherum.« (Paech 2008b: 8) Paech, der sich seit Jahrzehnten in der Palästina-Solidaritätsszene betätigt, hatte schon 1975 im Kontext der unseligen, aber 1991 suspendierten UN-Antizionismus- Resolution über »den Zionismus« als »Staatsideologie und Rassismus« schwadroniert (Paech 1975: III). Bis heute lässt er seinem Ressentiment gegen Israel freien Lauf, dämonisiert »den Zionismus« und arbeitet sich am Existenzrecht Israels ab, wann und wo immer sich ihm eine Gelegenheit bietet. Auf einer Veranstaltung palästinensischer und arabischer Organisationen an der TU Berlin im Frühsommer 2007 rief Paech »Palästina « als »das Guantanamo der arabischen Welt« aus. Angesichts der israelischen »Aggression gegen die Palästinenser« müssten die israelfreundlichen Angehörigen des deutschen Regierungsapparats »in Erziehungshaft« genommen werden. »Wir, die Deutschen«, seien schon jetzt »Mittäter« der israelischen »Verbrechen«. […] »Warum sollten die Palästinenser das Existenzrecht eines Staates anerkennen, der seine Grenzen nicht definiert? « (Paech, zit. n. Kloke 2007: 131) Israel wird von Paech nicht nur für allerlei historisch-politische Unpässlichkeiten im Nahen Osten, sondern auch für das Erstarken des islamischen Fundamentalismus verantwortlich gemacht, der »aus Verzweiflung« zur Gewalt greife: »Wer sich ernsthaft mit dem Islamismus auseinandersetzt, kommt nicht darum herum, sich auch mit dem Zionismus auseinanderzusetzen«, ist Paechs Quintessenz (Paech 2008a: 10). Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass Paech als einer der ersten LINKEN-Politiker den Boykott israelischer Waren forderte (vgl. Meisner 2009a: 4).

Einen Eklat lösten elf Abgeordnete der Linkspartei aus, als sie im Herbst 2008, kurz vor dem 70. Jahrestag der Reichpogromnacht, der Abstimmung zu einem Antrag zur Bekämpfung des Antisemitismus fernblieben. Als Begründung gaben die Fraktionsdissidenten die »anmaßende Tendenz« der Erklärung in punkto »Solidarität mit Israel« an, durch die »jegliche Kritik an der israelischen Politik für illegitim« erklärt werde (Jelpke et al. 2008). Als Ende 2008 die israelische Militäroffensive gegen die fortgesetzten Raketenangriffe der Hamas im Gazastreifen begann, beteiligten sich Sympathisanten und Mitglieder der LINKEN insbesondere westdeutscher Herkunft an antiisraelischen Kundgebungen. Der Frankfurter »Friedenspfarrer« Ingo Roer, der zusammen mit seiner Ehefrau Dorothee in der LINKEN und im »Palästina Forum Nahost« engagiert ist, warf den Israelis auf einer Protestveranstaltung vor, die Palästinenser in Gaza »wie Tiere zu schächten und zu schlachten.« (Roer 2008) Niemand der anwesenden christlichen und säkularen Linksdeutschen widersprach diesem Rückfall in das verbale Arsenal des christlichen Antijudaismus.

Fast ein Dutzend westlinker Bundestagsabgeordnete der Linkspartei beteiligte sich Mitte Januar 2009 an einem Aufruf gegen ein angebliches »Massaker« in Gaza, darunter der Sprecher der Bundestagsfraktion, Wolfgang Gehrcke, sowie die Abgeordneten Paech und Ursula (Ulla) Jelpke. Es handelte sich um dieselben Abgeordneten, die sich schon im November 2008 von einem parteiübergreifenden Antrag gegen Antisemitismus distanziert hatten (vgl. Jelpke et al. 2008). Die dem Aufruf folgende Anti- Israel-Demonstration am 17. Januar 2009 in Berlin, an der die genannten Linkspolitiker an vorderster Front mit marschieren sollten, ist als die seit vielen Jahren »mit Abstand aggressivste« Manifestation des politischen Antizionismus in Deutschland in die Geschichte eingegangen. Protestierende, die sich mit der radikalislamischen Hamas solidarisierten, skandierten in Sprechchören u. a. »Tod, Tod, Israel!« (vgl. Halser 2009, Eubel/ Meisner 2009: 5) Im Gegenzug zog sich der Berliner LINKEN-Vorsitzende Klaus Lederer heftige Vorwürfe ein, da er auf der proisraelischen Kundgebung »Solidarität mit Israel – stoppt den Terror der Hamas« aufgetreten war und in einer Rede seine Solidarität mit den Opfern beider Seiten ausgedrückt hatte. Zu den empörten Unterzeichnern des »Brandbriefs « gehörten mehr als 20 »Genossen«, darunter der frühere Ministerpräsident der DDR, später Ehrenvorsitzender der PDS und heutige Vorsitzende des Ältestenrats der LINKEN, Hans Modrow, sowie die Vorstandsmitglieder Buchholz und Wagenknecht (vgl. Hengst 2009).

Einen radikalisierten Höhepunkt erklomm das linksdeutsche antizionistische Engagement, als mehrere hochrangige Vertreter der Linkspartei Ende Mai 2010 an einer so genannten Gaza-Hilfsflotte, bestehend aus sechs Schiffen, teilnahm. Der Schiffskonvoi beherbergte 663 vor allem türkische, aber auch internationale Anti-Israel-Aktivisten; unter ihnen befanden sich zehn Deutsche, darunter die West- LINKEN-MdBs Ingrid (Inge) Höger und Annette Groth sowie der aus dem Bundestag ausgeschiedene Außenpolitiker der Linkspartei, Paech. Die Initiatoren und hauptsächlichen Finanziers entstammten der türkisch-islamistischen »Wohltätigkeitsorganisation « IHH, die als »Internationale Humanitäre Hilfsorganisation« mindestens bis Ende der 1990er Jahre Dschihadisten für den Kampf in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten rekrutiert und u. a. mit Waffenkäufen unterstützt hatte – sie ist im Gazastreifen bis heute mit einem Büro vertreten. Beteiligt an der antiisraelischen Querfront-Koalition waren neben linksradikalen »Friedensaktivisten« auch Mitglieder der ägyptischen und jordanischen Muslim-Bruderschaft, Angehörige der libanesischen Hisbollah sowie Anhänger aus dem Milieu der rechtsextremen türkischen »Grauen Wölfe«. Beim Auslaufen der Flotte in Istanbul skandierten Unterstützer antijüdische Schlachtparolen, z. B.: »Tod den Juden!« – »Erinnert euch an Khaibar [7], Khaibar, oh Juden! Die Armee Mohammeds wird zurückkehren! Intifada bis zum Sieg!« (Winter 2010, Wergin 2010) Offiziell begründeten die Organisatoren und Unterstützer der Flottille ihre Aktion damit, sie wollten »humanitäre Hilfslieferungen« in den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen bringen. Tatsächlich hatten israelische und ägyptische Militärs den Gazastreifen einige Monate nach der Machtübernahme durch die Hamas 2007 weitgehend abgeriegelt – auch als Reaktion auf den anhaltenden Waffenschmuggel und die Raketenangriffe auf Israel; ausgenommen von dem Einfuhrverbot waren lediglich Lebensmittel u. a. humanitäre Güter. Das Angebot der israelischen Behörden, die Schiffsgüter auf dem Landweg in den Gazastreifen zu transportieren, um eine Durchbrechung der Seeblockade zu verhindern, lehnten die Aktivisten ab, denn sie wollten ein politisches Fanal setzen und mit dem versuchten Blockadedurchbruch den jüdischen Staat ins Unrecht setzen (vgl. Winter 2010, Seibert 2010: 7).

Originalmitschnitte des Funkverkehrs am 31. Mai 2010 zeigen, dass die Israelis kurz vor ihrem Angriff ein letztes Mal die Aktivisten aufforderten, vom Kurs auf Gaza abzudrehen. Während die Besatzungsmitglieder von fünf Schiffen keinen militanten Widerstand leisteten, antwortete ein Sprecher der »Mavi Marmara«, dem (sechsten) Hauptschiff der Flotte: »Shut up, go back to Auschwitz!« Zur Überraschung der dilettantisch vorbereiteten israelischen Marinesoldaten setzten ihnen ca. 50 Besatzungsmitglieder erbitterten Widerstand entgegen. Statt auf unbewaffnete Friedensaktivisten zu stoßen, wurden die mit Paintball-Pistolen und leichten Waffen ausgerüsteten Marinetrupps mit Eisenstangen und Messern »empfangen«. Mehrere Israelis wurden entwaffnet und zum Teil verletzt – Panik brach unter ihnen aus, auch aus Furcht vor Lynchversuchen durch militante Passagiere. Am Ende kamen bei der konfrontativen Kommandoaktion neun türkische Aktivisten um. Gleichwohl räumten selbst türkische Medien später ein, dass »mindestens 40« Aktivisten der Marmara »gewaltbereit« gewesen seien – drei der getöteten Passagiere hätten öffentlich bekundet, auf dem Trip als »Märtyrer« sterben zu wollen. Ein von den Aktivisten gedrehtes Video, das im Internet kursiert, bestätigte – ungewollt – die kalkulierte Aggressivität der IHH-Kämpfer (vgl. Borgstede 2010, Akrap 2010, Croitoru 2010). [8]

Trotz ihrer zweifelhaften Bundesgenossen und obwohl die »humanitären Hilfslieferungen« auch aus schrottreifen Rollstühlen und abgelaufenen Medikamenten bestanden hatten [9], beharrten die genannten LINKEN- Politiker auf der Legitimität ihrer Teilnahme an der Gaza- Blockadebrecher-Aktion – sie bestritten nicht nur den antisemitischen und gewalttätigen Charakter eines Teils ihrer Bundesgenossen, sondern klagten nach ihrer Rückkehr aus Israel vor Medienvertretern, von den Israelis »gekidnappt« und »deportiert« worden zu sein (Wergin 2010, Eubel 2010: 6). Biografische Hintergründe und den gewaltförmigen »Widerstand« ihrer Mitstreiter blendeten die beteiligten Linkspolitiker aus. Paech will bei den »sich wehrenden« Aktivisten lediglich »zweieinhalb Holzstöcke«, bei der Ausrüstung des israelischen Marinekommandos dagegen Details wie die Aufschrift »Made in USA« gesichtet haben. Einerseits betonte Paech den »groben Akt der Piraterie« und die angeblich »völkerrechtswidrigen Kriegsverbrechen« der Israelis, andererseits hatte er keine Bedenken, dass die Flotte im völkerrechtswidrig türkisch besetzten Nordzypern einen Zwischenstopp eingelegt hatte. Während Groth den Israelis ein geplantes »Killing« unterstellte, sah sie in der auf dem Schiff praktizierten Geschlechtersegregation, in der die Frauen zeitweise im untersten Deck eingeschlossen worden waren, kein kritikwürdiges Verhalten der männlichen Islamisten an Bord. Höger unterstrich ihre »absolute Solidarität« mit den anderen Aktivisten und forderte die Israelis zur »Wiedergutmachung« auf. Selbst die auf der Pressekonferenz anwesende stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gesine Lötzsch sah keinen Grund zur selbstkritischen Nachdenklichkeit – im Gegenteil: Sie erklärte, die Linkspartei sei »sehr stolz« auf den »mutigen Einsatz« ihrer Kollegen auf dem Marmara-Schiff. [10]

Antisemitische Erscheinungsformen haben in der Linkspartei in aller Regel einen antizionistischen Kontext – im Vordergrund stehen dämonisierende, delegitimierende und ressentiment-gesteuerte Obsessionen, die sich hinter dem Label der »Israelkritik« camouflieren und solchermaßen moralisch legitimiert wähnen. Mit Judenhass soll dies alles nichts zu tun haben: »Als progressive Antifaschisten haben wir nichts gegen Juden an sich!«, so artikulieren sich ihre Protagonisten in Parteiapparat und -basis. Die Wirklichkeit nimmt auf derartige Selbsttäuschungen allerdings keine Rücksicht, denn das antisemitische Ressentiment gelangt gelegentlich auch ohne expliziten Israel-Bezug an die Oberfläche oder spielt dann nur eine Nebenrolle.

Im Zusammenhang mit jüdischen Rückübertragungsansprüchen in einer brandenburgischen Kleinstadt erklärte 2004 der PDS-Fraktionsvorsitzende von Bad Saarow, Bernd Gestewitz, in einer Gemeinderatsitzung: »Ich habe 40 Jahre in Saarow-Strand gelebt, bis die Juden uns rausgeschmissen haben.« Die Familie Gestewitz hatte seit 1953 auf einem Wassergrundstück gelebt, dessen rechtmäßigen Eigentümer während der NS-Zeit enteignet worden waren. Immerhin: Der LINKEN-Kommunalpolitiker entschuldigte sich wenig später öffentlich und erklärte, es sei ihm »sehr bewusst, mit dieser Bemerkung die historischen Tatsachen auf den Kopf gestellt « zu haben. [11]

Weniger einsichtsvoll zeigte sich 2009 der Dachauer Bundestagsdirektkandidat der LINKEN, Chris Sedlmair. Auf seiner Homepage forderte er das Ende der »Kriminalisierung von Organisationen wie Hamas und Hisbollah in der EU« und erklärte sich solidarisch mit dem »bewundernswert( en)« Saddam Hussein und dem irakischen »Freiheitskampf«; zugleich wetterte der Kandidat gegen »das rassistische Siedlerregime Israel« und gegen »Volksverhetzer wie das Zion-Zäpfchen Henryk M. Broder.« In einem Positionspapier warf Sedlmair Bundeskanzlerin Angela Merkel einen »Kotau vor dem völkisch-zionistischen Siedlerfaschismus der israelischen Bourgeoisie« vor: »Beenden Sie die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs, der die zionistische Entität erst durch die Shoa ermöglichte.« Sedlmair zog seine Kandidatur einen Tag nach einem kritischen Spiegel-Bericht zurück (Broder/Hengst 2009, Kalbe 2009: 4). [12]

[…]

Israels Präsident Shimon Peres hielt am 27. Januar 2010 zum Gedenken an den Holocaust eine Rede im Deutschen Bundestag. Nach der Rede erhoben sich alle Parlamentarier von ihren Sitzen – mit Ausnahme der LINKEN-Abgeordneten Wagenknecht, Buchholz und Sevim Dagdelen. Die drei Parlamentarierinnen hatten sich zwar noch erhoben, um der Ermordeten zu gedenken, blieben am Ende jedoch sitzen vor demjenigen, der seiner Ermordung entkommen war (vgl. Reinecke 2010). Wagenknecht rechtfertigte diese demonstrative Geste mit der Bemerkung, sie könne »einem Staatsmann, der selbst für Krieg mitverantwortlich ist, einen solchen Respekt nicht zollen […].«[13]

Als sich am 18. Juni 2010 das Herforder Stadtparlament entschloss, der lokalen jüdischen Gemeinde einen Zuschuss zum Wiederaufbau der unter dem NS-Regime zerstörten Synagoge zu zahlen, blieb es der LINKEN-Stadträtin Erika Zemaitis vorbehalten, sich diesem Beschluss zu widersetzen – eine Geste der Ablehnung des jüdischen Neubeginns, die bis dato eher Vertretern der NPD zugetraut worden war. Einige Wochen zuvor hatte sich Zemaitis allerdings für eine finanzielle Unterstützung der jesidisch-kurdischen Religionsgemeinschaft zum Bau eines Gemeindezentrums eingesetzt. Zusätzliche Brisanz erhielt dieser Vorgang, weil Herford zum Wahlkreis der bekennenden Antizionistin Höger gehört, die als LINKEN-Bundestagsabgeordnete wenige Wochen zuvor an der antiisraelischen Gaza- Flottille teilgenommen hatte. Kritische Anfragen an den LINKEN-Stadt- und Kreisverband wurden zunächst gar nicht oder nur ausweichend beantwortet. Zehn Tage lang sah es so aus, als sei das Abstimmungsverhalten der Herforder LINKEN-Abgeordneten gegen die Jüdische Gemeinde eine logische Fortsetzung des anti-israelischen Gebarens von Höger. Erst als der Skandal bundespolitische Wellen zu schlagen begann, sahen sich Höger und andere LINKEN-Vertreter bemüßigt, zu ihrer Herforder Parteifreundin vorsichtig auf Distanz zu gehen: »Erika Zemaitis hat inzwischen die Kritik an ihrem damaligen Abstimmungsverhalten in Sachen Zusatzinvestitionen für die Synagoge in Herford angenommen.« (Kolthoff 2010, DIE LINKE. Kreisverband Herford 2011)

Symptomatisch für den Zustand von Teilen der Linkspartei sind die kruden Boykottaufrufe des Bremer Friedensforums [14], von denen sich der Bremer LINKEN-Landesverband nicht distanzieren möchte, aber auch die antisemitisch grundierten Aktivitäten der Duisburger LINKEN. Unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Hermann Dierkes rief die Partei im Kommunalwahlkampf 2009 zum Boykott gegen Israel auf. Seitdem verbreitet die Duisburger Linkspartei immer wieder Hassparolen, die eine frappierende Nähe zu rechtsextremen und islamistischen Formen der Judenfeindschaft aufweisen – so zuletzt im April 2011, als auf der Homepage der Duisburger LINKEN der Davidstern mit dem Hakenkreuz gleichgesetzt, der Staat Israel als Hort zionistischer Weltverschwörung gegeißelt und schließlich auch der Holocaust geleugnet wurde. Das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles sah sich 2011 veranlasst, Dierkes auf eine so genannte Top-Ten-Liste antisemitischer und antiisraelischer Verunglimpfungen zu setzen (vgl. Wittrock 2011, N. N. »jul« 2011). [15]

Auch wenn sich die Linkspartei als Ganzes eher zurückhaltend zur antizionistischen Boykottbewegung BDS verhält, [16] so erfreuen sich die Boykott- Aktivisten der Unterstützung aus Teilen der Parteibasis – etwa bei der Kampagne gegen das Baumpflanzungsgeschenk der SPD zum 65. Geburtstag des Staates Israel. Philipp Gliesing von der Linksjugend [‘solid] im thüringischen Pößneck (Kreis Saale-Orla) begründete Ende 2012 sein Engagement gegen einen »Wald der SPD« in der Negev-Wüste mit jenem vergangenheitspolitisch motivierten Exkulpationsjargon, der dem Fundus des Schuldabwehr-Antisemitismus entnommen ist:

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass im Generalgouvernement des NS-Staates die ‚kulturelle Raumentwicklung‘ eine große Rolle bei Umsiedlung, Vertreibung und Vernichtung der ansässigen jüdischen Bevölkerung in Osteuropa gespielt hat. Es war eine Strategie der Nazis unter dem Vorwand der Landschaftspflege eine ‚deutsche Kulturlandschaft‘ zu etablieren, die eben auch ethnisch umgestaltet werden sollte. Bei Vergleichen dieser Art bin ich persönlich sehr zurückhaltend, da Vergleiche immer hinken – gerade zwischen Systemen. Als angehender Soziologe bin ich mir aber darüber bewusst, dass Merkmale eines demokratischen Staates oder eben eines faschistischen Staates in der Geschichte in vielfältigen Spielarten zum Vorschein kommen.« (Gliesing, zit. n. Kloke 2013)

Reaktionen der Partei auf antisemitische Äußerungen und Praktiken

Wenn Anhänger oder Funktionäre der Linkspartei sich antizionistisch/antisemitisch äußern, lösen Vorfälle dieser Art ein vielstimmiges Echo aus – innerhalb wie außerhalb der Partei. So paradox es klingen mag – in der Partei existiert innerhalb ihrer Linksjugend [’solid] ein kleiner proisraelischer Flügel, dessen Speerspitze sich seit 2007 im »Bundesarbeitskreis Shalom« (BAK) organisiert. Der Arbeitskreis agiert in linkszionistischer Motivation, prangert antiisraelische Vorfälle im Kontext der Linkspartei an [17] und wird deswegen intern weithin geächtet (vgl. Witt-Stahl 2008: 19). Doch auch außerhalb dieser Strömung distanzieren sich einzelne Politiker und Aktivisten der Linkspartei vom antizionistisch grundierten Antisemitismus in Teilen der Partei, was streckenweise einer Quadratur des Kreises nahekommt. Die meisten Antisemitismus-Kritiker innerhalb der LINKEN eint, dass sie dem Reformflügel [18] angehören und eine DDR-Biografie haben:

• Allen voran zu nennen ist der Vorsitzende der LINKEN-Bundestagsfraktion Gysi, der sich seit langem mit Israel in kritischer Solidarität verbunden fühlt und auch für den umstrittenen Bau der Sperranlage zum Schutz der israelischen Bevölkerung Verständnis zeigt (vgl. Böhme 2004: 3). Nach außen erweckt Gysi gerne den Eindruck, es gebe keinen Antisemitismus in der Linken; es mache ihn allerdings »stutzig«, »mit welcher Leidenschaft innerhalb der LINKEN gerade über Israel diskutiert wird.« (Gysi 2011 und 2013 [19]) Dass er selbst regelmäßig antisemitisch motivierten Angriffen ausgesetzt ist – so etwa als Reaktion auf seinen Facebook-Eintrag zum 9. November – hat Gysi zum ersten Mal im November 2013 in einem Interview eingeräumt:

»Ich blocke so etwas innerlich ab. Wer wie ich auch politisch massiv angefeindet wurde und wird, muss lernen, damit umzugehen. Zumal ich das mit den jüdischen Vorfahren nicht ändern kann, auch nicht will. Wenn man so etwas wirklich an sich ranlässt, zerstört es einen.« (Gysi, zit. n. Hollstein 2013)

• Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, die den Wahlkreis Berlin- Marzahn-Hellersdorf unangefochten vertritt, engagiert sich u. a. im interreligiösen Dialog sowie gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus; zudem pflegt die Politikerin enge Beziehungen zur jüdischen Gemeinde und zu israelischen Einrichtungen. […]

• Auch Katja Kipping, aus Sachsen stammende Co-Vorsitzende der Linkspartei, ist in den vergangenen Jahren mit differenzierten israelpolitischen Stellungnahmen aufgefallen und distanziert sich von Worten und Handlungen des antizionistischen Parteiflügels. [20]

• Bodo Ramelow, Fraktionsvorsitzender der LINKEN in Thüringen, ist nicht nur Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sondern mischt sich auch tagesaktuell in die Israel-Debatten seiner Partei ein. Dabei scheut er als einer der wenigen Westlinken, die Israel gewogen sind, nicht davor zurück, Galionsfiguren des linksdeutschen Antizionismus anzuprangern, sobald er die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus verwischt sieht (vgl. Ramelow 2008). Als einer der ersten Parteifunktionäre forderte er, das Existenzrecht Israels im Programm der Linkspartei zu verankern (vgl. N. N. 2011).

• Zu den geschichtssensiblen Exponenten der Linkspartei gehört Klaus Lederer, Landesvorsitzender der Berliner LINKEN. So beschwerte sich Lederer im November 2008 in einem Brief an Gysi über die Weigerung von 11 LINKEN-MdBs, sich einer fraktionsübergreifenden Initiative zur Bekämpfung des Antisemitismus anzuschließen – er nannte die Abstinenz der 11 Dissidenten ein »politisches Desaster« und »Rückschlag für unsere Arbeit«. Lederer gehört zu jenen wenigen LINKEN-Politikern, die gelegentlich auch an proisraelischen Demonstrationen teilnehmen (vgl. Jansen/Weinthal 2008: 5, Hengst 2009).

• Dietmar Bartsch, zeitweiliger Bundesgeschäftsführer und heute stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, distanziert sich ebenfalls mit deutlichen Worten von obskuren Stimmungslagen in der LINKEN: »Wer auch nur den Hauch von Antisemitismus oder den leisesten Zweifel an der Existenzberechtigung des Staates Israel verbreitet, der hat keinen Platz in der Partei.« (Bartsch 2010)

• Eine besonders engagierte Form linker Israel-Solidarität verkörpert Katharina König: Die thüringische Landtagsabgeordnete forderte 2011 als erste LINKEN-Politikerin den Parteiausschluss von Höger und anderen antizionistischen Genossen (vgl. König 2011 und 2013).

[…]

• Auf institutioneller Ebene fallen Vertreter des sächsischen Landesverbandes und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf, die aus jeweils aktuellen Anlässen immer wieder gegen den innerparteilichen Antisemitismus protestieren. Bekannt geworden ist ihr nach innen gerichtetes Protestschreiben »Hamas raus aus den Köpfen«, das sich gegen die Beteiligung eines Hamas- Vertreters an einer Nahostkonferenz der LINKEN-Bundestagsfraktion, organisiert von MdB Gehrcke, richtete. [21]

Trotz alledem darf konzediert werden, dass kritische Gegenstimmen eine nur schwer zu quantifizierende Teilmenge im LINKEN-Spektrum darstellen. Immerhin unterstützte die LINKEN-Bundestagfraktion, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, eine interfraktionelle Resolution für das Existenzrecht Israels, nachdem der iranische Präsident Ahmadinedschad selbiges infrage gestellt und den Holocaust geleugnet hatte. In der Debatte selbst vermied die LINKEN-Fraktion in Person ihres Redners Michael Leutert gleichwohl jeglichen expliziten Bezug zu dem Antrag. [22]

Nachbemerkung MK (16.9.2014): MdB Michael Leutert legt Wert auf die Feststellung, dass aus dem fehlenden Bezug zur o. g. Resolution in seiner Rede zum Menschenrechtsbericht der Bundesregierung keineswegs eine Israel-Distanz abgeleitet werden kann. Im Gegenteil: Gerade innerhalb der Linkspartei hat Leutert mehrfach deutlich Stellung gegen einen Antisemitismus bezogen, der sich als Israelkritik tarnt.

Sensible LINKEN-Aktivisten mögen im Rahmen ihrer z. T. herausragenden innerparteilichen Funktionen die Stimmungslage der Partei beeinflussen; doch ist ihr Wirkungsradius ausreichend, um die Linkspartei im Ganzen auf einen nicht-antisemitischen Kurs auszurichten?

Positionierungen der Partei

Gysi selbst war es, der im April 2008 in einer Grundsatzrede zum 60. Geburtstag des Staates Israel die Irritationen um den schlingernden Kurs der Linkspartei in Bezug auf Israel, Zionismus und Antisemitismus zugunsten einer Neubestimmung aufzuheben suchte. Auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung bekannte sich Gysi laut und vernehmlich zum Existenzrecht Israels und billigte dieser Haltung den »Status einer (deutschen) Staatsräson« zu – implizit folgte er damit der israelpolitischen Linie von Bundeskanzlerin Merkel. Ungeachtet aller Kritik an der israelischen Siedlungspolitik rief Gysi zur »Solidarität mit Israel« auf, hinterfragte naive Bekenntnisse zum nationalen »Befreiungskampf« der Palästinenser und forderte schlussendlich eine Abkehr von den antiimperialistischen und antizionistischen Denkfiguren des traditionalistischen (= linksradikalen) Parteiflügels – u. a. auch wegen der traumatischen Erfahrungen des Völkermords an den Juden. Das »jüdische Nationalstaatsprojekt« sei historisch »alternativlos« gewesen. Gysis Fazit mündete in die Feststellung: »Der Antizionismus kann […] für die Linke insgesamt, für die Partei DIE LINKE im Besonderen, keine vertretbare Position sein, zumindest nicht mehr sein.« (Gysi 2008)

Gysis Rede wurde von der breiten Medienöffentlichkeit zustimmend goutiert, aber auch als »brisant« klassifiziert (vgl. z. B. Berg 2008). Die spektakuläre Geburtstagrede stieß in den ohnehin israelfreundlichen Teilen der Linkspartei auf eine positive Resonanz. »Das ist eine neue Qualität im Verhältnis zu Israel«, bemerkte Kipping. Sogar Gehrcke fand lobende Worte: Gysis Antizionismus-Absage teile er »vorbehaltlos«; die Rede werde »mit Sicherheit« eine Debatte anstoßen (Gessler/Medick 2008a). Im BAK Shalom wurde Gysis Rede euphorisch aufgenommen und das Ereignis als solches gefeiert: »Nur in der Linkspartei findet derzeit eine öffentlich wahrnehmbare Diskussion über das Verhältnis zu Israel statt.« (Voigt 2008) Doch während Lafontaine sich weigerte, Gysis Rede zu kommentieren, wiesen die LINKEN-Antizionisten der zweiten Reihe den angemahnten Paradigmenwechsel zurück – Außenpolitikerin Monika Knoche stellte klar: »In der Fraktion gibt es keinen Klärungsbedarf!« (Gessler/Medick 2008a und 2008b) Um die innerlinke Uneinigkeit zu kaschieren, setzte die Parteiführung eine zunächst vorgesehene Aussprache über den Israel-Kurs der Partei während des Cottbuser Bundesparteitags am 24./25. Mai 2008 kurzerhand von der Tagesordnung ab (Robers 2009).

Insbesondere die Weigerung von elf LINKEN-Bundestagsabgeordneten, im November 2008 eine interfraktionelle Resolution gegen den Antisemitismus mitzutragen (vgl. Jelpke et al. 2008) sowie die Teilnahme und Mitwirkung einschlägiger Parteikreise an kruden antiisraelischen Demonstrationen während des Gaza-Konflikts Anfang 2009 [23] ließen erkennen, dass die von Gysi angemahnten Lernprozesse unter den anvisierten Adressaten wirkungslos verhallt waren. Das »Forum demokratischer Sozialismus « (FdS) verfasste auf Initiative von Pau eine Resolution, der zufolge Kritik an Israel nicht antisemitisch kontaminiert werden dürfe. »Solange es in unserer Partei Leute gibt, die auf Demos auftreten oder gar zu ihnen aufrufen, die die Trennlinie zum Antisemitismus nicht klar ziehen, muss man darauf eine Antwort geben«, erläuterte FdS-Sprecher Stefan Liebich (Halser 2009, Hengst 2009). Als wenige Wochen später der Duisburger OB-LINKEN-Kandidat Dierkes das Existenzrecht Israels als »läppisch « abtat und den Holocaust relativierte, wiesen Gysi und Pau den Duisburger Parteifreund energisch zurecht. [24] Insbesondere der nicht nur von Dierkes, sondern auch von Paech geforderte Boykott israelischer Waren ließ den innerparteilichen Antisemitismus-Streit im Frühjahr 2009 erneut auflodern, ohne ihn beenden zu können (vgl. Meisner 2009b: 4).

Trotz aller anerkennenswerten Bemühungen Einzelner wurde und wird in dieser Antisemitismus-Debatte ein gleichbleibendes Reaktionsmuster erkennbar: Ohne öffentlichen Druck reagiert die Partei häufig nicht oder allenfalls abwiegelnd. Dies gilt auch für den spektakulären Fall des bayerischen LINKEN-Landtagskandidaten Sedlmair 2009: Die Linkspartei zeigte sich trotz seiner antisemitischen Hetzreden seltsam unbeteiligt und entzog Sedlmair nicht die Mitgliedschaft. Der bekennende Antisemit selbst war es, der kurz nach einem kritischen Spiegel-Bericht seine Kandidatur aufgegeben hatte; die Linkspartei verließ er drei Jahre später aus eigenen Stücken. [25]

Widersprüchlich muten auch die Signale der LINKEN in öffentlichen Erklärungen an: Um den Druck auf die Linkspartei wegen der anhaltenden Antisemitismus-Debatte zu mildern, bekannte sich die Bundestagsfraktion im April 2010 einerseits mit großer Mehrheit zum Existenzrecht Israels und für eine Zweistaatenregelung zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Im Sinne einer »Doppelverantwortung« betonten die Abgeordneten: »Eine einseitige Parteinahme in diesem Konflikt wird nicht zu seiner Lösung beitragen.« Andererseits forderte die Fraktion in der geschlossenen Sitzung »die Einbeziehung der Hamas in politische Gespräche und die Aufhebung ihres Boykotts« – ohne auch nur ein Wort über den terroristischen und antisemitischen Charakter der islamistischen Organisation zu verlieren (DIE LINKE im Bundestag, 20.04.2010). [26]

Auch die Problematik von Boykottaufrufen gegen Israel und israelische Waren, die in der LINKEN ventiliert werden, wurde diskret ausgespart. [27]

Die Teilnahme dreier LINKEN-Politiker an der umstrittenen Gaza- Hilfsflotte Ende Mai 2010 stieß in weiten Teilen der Partei auf Zustimmung. Trotz zweifelhafter Bundesgenossen und trotz manifest antisemitischer Begleiterscheinungen vor und während der gewaltförmigen Konfrontation mit dem israelischen Marinekommando zeigte sich die stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende Lötzsch zunächst »sehr stolz« über den »mutigen Einsatz« ihrer Kollegen auf dem Marmara-Schiff. [28] Doch ein Jahr später widerrief die Fraktion und forderte ihre Mitglieder auf, sich bei der nächsten Gaza-Flottille in Abstinenz zu üben (DIE LINKE im Bundestag, 07.06.2011a) – ein Sinneswandel, der von Paech als »Kniefall vor der deutschen Israel-Lobby« (Paech 2011: 27) und von ND-Chefredakteur Jürgen Reents als außengesteuerte »Falle« und Teil einer innerparteilichen »Selbstdemontage« denunziert wurde: »Der Nötigung folgte die verzögerte Bereitschaft, sich nötigen zu lassen« (Reents 2011).

Woher rührte die taktisch motivierte Anpassungsleistung oder der (wenn auch heftig umstrittene) »Paradigmenwechsel«, für den Reents ausdrücklich Parteichef Gysis israelfreundliche Grundsatzrede von 2008 verantwortlich machte (ebd.)? Zwischen 2009 und 2011 traten die oben skizzierten antisemitischen Exzesse in Teilen der Partei nicht nur gehäuft auf, sondern wurden zunehmend medial wahrgenommen und kritisch diskutiert. Gleichwohl spitzte sich die Antisemitismus-Diskussion in der LINKEN nicht zu, bevor die beiden Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt [29] im Mai 2011 medienwirksam eine essayistische Studie zum latenten und manifesten Antisemitismus in der Linkspartei lanciert hatten (Hein 2011a). Obwohl die Untersuchung erst im Herbst 2011 in ihrer vollständigen Fassung erschien (Salzborn/Voigt 2011) und viele der präsentierten Fakten für Kenner der Szene gar nicht so neu waren, [30] konnten Zeitpunkt und Stoßrichtung günstiger nicht sein. Aufgeschreckt von den antisemitischen Eruptionen rund um die Beteiligung prominenter LINKEN-Politiker an der Gaza-Flottille und ihrer anschließenden deutschlandweiten Vermarktung im LINKEN-Milieu, nahmen die Autoren den Antisemitismus in Teilen der Linkspartei systematisch in den Blick, indem sie einschlägige Ereignisse historisch analysierten und kontextualisierten. Dabei übten sie scharfe Kritik an den zurückhaltenden Reaktionen der Parteiführung, die in den zurückliegenden Jahren mehr an der Aufrechterhaltung einer innerparteilichen Pluralismus-Balance als an der Abwehr antisemitischer Tendenzen interessiert gewesen zu sein schien.

Die Salzborn/Voigt-Studie wirkte wie ein Fanal – heftige mediale und politische Reaktionen waren die Folge (vgl. Meisner 2011, 2011b). Der Parteivorstand reagierte auf den medialen Sturm der Entrüstung mit einer schizophren anmutenden Doppelstrategie: Während Fraktionschef Gysi – bezeichnenderweise noch vor vollständiger Veröffentlichung der Ergebnisse – die »in der Studie aufgestellten Behauptungen« zunächst als »Blödsinn« abzutun versuchte (Decker 2011, Denkler 2011), schlug der LINKEN-Parteivorstand am 21. Mai einen sachlicheren Ton an, indem er sich ausdrücklich auch von israelfeindlichen Ausprägungen des Antisemitismus distanzierte. Einstimmig nahm der Vorstand »vor dem Hintergrund unserer spezifischen Geschichte« Abstand von »Boykottkampagen gegen israelische Waren«, wies allerdings »Vorwürfe eines angeblichen Vormarsches antisemitischer Positionen in der LINKEN« zurück (DIE LINKE Parteivorstand 2011). In der vier Tage später von den Regierungsfraktionen beantragten »Aktuelle(n) Stunde« zur Diskussion der in der Salzborn/ Voigt-Studie erhobenen Vorwürfe erwies sich die Linkspartei, repräsentiert durch die Abgeordnete Lukrezia Jochimsen, als die einzige Fraktion, die keine selbstkritischen Akzente zu setzen vermochte, sondern durch allerlei apologetische Ausflüchte auffiel (vgl. Deutscher Bundestag 2011: 12572ff.). Nicht zuletzt dieser für die LINKE ebenso peinliche wie schmähliche Debattenausgang veranlasste Fraktionschef Gysi, »seine« LINKEN-Abgeordneten zu einem ultimativen Beschluss zu nötigen – zu einem geistig-moralischen Kraftakt, der sich ausnahmsweise jeglicher Polemik gegen Salzborn, Voigt und andere Antisemitismus-Kritiker enthalten sollte. Die Fraktion gelobte am 7. Juni 2011 »einstimmig«, sich »an der diesjährigen Fahrt einer ‚Gaza-Flottille‘« nicht mehr beteiligen zu wollen – und forderte auch die Mitarbeiter der Fraktion auf, diesen Kurs mitzutragen (vgl. DIE LINKE im Bundestag 2011a). Reformlinke wie z. B. Liebich zeigten sich erleichtert, dass sich die Partei »endlich klar gegen Antisemitismus positioniert« habe (Kuhn 2011). Um die Fiktion der »Einstimmigkeit « aufrecht erhalten zu können, hatten zuvor allerdings mindestens zehn Israel-Gegner den Sitzungssaal verlassen, um sich gar nicht erst an der Abstimmung über den »gefährlichen Beschluss« beteiligen zu müssen; einige von ihnen drückten ihren Unmut über den angeblich »großen psychologischen Druck« des »rechten Flügels« aus – Spaltungsgerüchte machten die Runde (Hein 2011b). MdB Pau räumte in ungewohnt scharfer Weise die geringe Wirkungskraft des Beschlusses ein:

»Seither ist von einem ‚Maulkorb‘ und von ‚Denkverboten‘ die Rede. Was geht in Köpfen vor, die das behaupten? Jeder kann weiterhin einen Boykott israelischer Waren richtig finden. Jede kann sagen, eine Einstaatenlösung wäre auch eine Option im Nah-Ost-Konflikt. Sie können es aktuell nur nicht mehr namens der Fraktion DIE LINKE.« (Pau 2011)

Parteiimmanent folgerichtig war es, dass der Fraktion die Chance einer nachhaltigen Kursänderung bald wieder entglitt – das Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung erwies sich am Ende als stärker als die Einsicht in den therapeutischen Nutzen einer selbstkritischen Katharsis: Der Antisemitismus- Streit brodelte auch nach dem beherzt anmutenden Fraktionsbeschluss weiter. In dem Maße, wie Partei und Fraktion zwischen die ideologischen Fronten von antizionistischen und proisraelischen Akteuren gerieten, die beide weiterhin die Linkspartei – aus je unterschiedlichen Perspektiven – attackierten, siegte kollektiver Korpsgeist über die bescheidenen Ansätze linker Selbstkritik. In einem neuerlichen Beschluss ging die Fraktion schon drei Wochen später wieder auf Abstand zu ihren selbstkritischen Einsichten vom 7. Juni. Am 28. Juni 2011 erklärten 45 Abgeordnete – bei sechs Nein-Stimmen und 11 Enthaltungen – ihren Anti-Israel- Kurs von anno dazumal wieder für legitim oder gar sakrosankt und zeigten sich kampfeslustig wie eh und je: »Wir werden nicht zulassen, dass Mitglieder unserer Fraktion und Partei öffentlich als Antisemiten denunziert werden, wenn sie eine solche Politik der israelische Regierung kritisieren.« (DIE LINKE im Bundestag 2011b) Die unterschwellige und verharmlosende Gleichsetzung von antizionistischem Antisemitismus und »Israelkritik« zeigte, wie kurzlebig sich die Sensibilität für gemeinsame Schnittmengen von Antisemitismus und obsessiver »Israelkritik« erwiesen hatte. Dem Realo-Flügel gelang es nicht einmal, die Fraktion mehrheitlich auf eine Forderung wie diese zu verpflichten: »Eine Kritik Israels, die mit NS-Vergleichen arbeitet, ist nicht akzeptabel.« (Deggerich 2011) Die antizionistischen Kräfte in der Partei erhielten einmal mehr einen Freibrief, um ihrer Israel-Aversion weiterhin frönen zu dürfen – im Zweifel auch außerhalb des Parteilabels, wie Pau zuvor ahnungsvoll prognostiziert hatte (Pau 2011).

An der oben skizzierten innerparteilichen Großwetterlage hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert – die Mechanismen verlaufen fast schon ritualisiert: Im April 2013 wurde bei einer u. a. vom LINKEN-Kreisverband »Links der Weser« und der AG »Antikapitalistische Linke« organisierten Veranstaltung zum Thema »Antisemitismusvorwurf als ideologische Waffe« zwei jüdischen Besuchern der Zutritt verwehrt und diese zugleich antisemitisch angepöbelt. Zwar distanzierte sich der Bremer Landesverband anschließend von der Veranstaltung und ein Sprecher des involvierten Kreisverbandes entschuldigte sich »bei den Betroffenen«; politische Konsequenzen hatte dieser Vorfall gleichwohl nicht (vgl. Hein 2013; Anchuelo 2013; DIE LINKE KV-HB-LdW 2013).

Auch in der parteinahen Presse sind die Schamschwellen nach wie vor niedrig. Wenn es um bzw. gegen Israel geht, werden journalistische Standards – z. B. ein Faktencheck oder kritische Fragen gegenüber ideologischen Eiferern – bedenkenlos außer Kraft gesetzt: Der freie Journalist und LINKEN-Politiker Rolf-Henning Hintze gab im Juli 2013 der palästinensischen Aktivistin Haneen Naamnih ein ausführliches Forum zur Verbreitung antiisraelischer Propaganda – in Sprachmustern, die streckenweise an die mittelalterliche Judenfeindschaft erinnerten. In dem Interview behauptete Naamnih u. a., die Israelis vergifteten die Ernten der Beduinen und wollten sie aus der Negev-Wüste vertreiben; mit ihrem Geschenk zum 65. Geburtstag Israels, der Anpflanzung eines Waldes im Negev, negierten die deutschen Sozialdemokraten die Existenz der Palästinenser, erklärte die überzeugte Antizionistin, die die bloße Existenz Israels als eine permanente Provokation und Katastrophe begreift: »Die Nakba hat nie aufgehört. Solange Israel als Siedlerkolonie besteht, ist sie da.« Auf diskursive Einsprüche oder gar presserechtliche Konsequenzen stieß dieser journalistische Frontalangriff auf die Gebote von Fairness und Objektivität nicht (vgl. Hintze 2013). [31] Vor diesem Hintergrund mutet die wahlkämpferische Vision von Gysi, als künftiger Außenminister wolle er »Deutschland zu einem wichtigen Vermittler im Nahost-Konflikt machen«, bestenfalls skurril an (vgl. Tagesspiegel v. 4.8.2013, S. 2).

Empirische Befunde

Untersuchungen und Befragungen der empirischen Antisemitismus- Forschung fördern eher verworrene Ergebnisse zutage: Einerseits soll der vergangenheitsbezogene Antisemitismus der Ostdeutschen in den 1990er Jahren »erheblich geringer« gewesen sein als der der Westdeutschen; andererseits habe sich unter Ostdeutschen im Kontext allgemein anwachsender »Xenophobie« schon früh eine größere Ablehnung von Juden gezeigt, soweit sich dieses Ressentiment in »sozialer Distanz« und »Exklusionsneigung « gegenüber dem Anderen ausdrücken lässt (Bergmann/Erb 2000: 402). PDS-Wähler zeigen in diesem Wahrnehmungsraster, das Themen wie »Israel« oder »Zionismus« konsequent ausspart, einen unterdurchschnittlichen Anteil an antisemitischen Einstellungen, wenn man von extrem linken Rändern der Partei absieht (Bergmann/Erb 2000: 402, 417f.).

Wer allerdings die Dialektik von Antizionismus und Antisemitismus in die Fragestellung einbezieht und komparatistisch analysiert, stößt auf deutlich abweichende empirische Befunde und Korrelationen. Werner Bergmann und Rainer Erb haben schon 1991 bilanziert:

»Je stärker die antisemitische Überzeugung, desto wahrscheinlicher schließt sie auch eine antizionistische Einstellung ein. Das Gleiche gilt umgekehrt, wenn man vom Antizionismus ausgeht […]. Die von der Publizistik immer wieder vorgenommene Identifikation von Antizionismus und Antisemitismus hat in diesem Ergebnis eine gewisse Bestätigung gefunden.« (Bergmann/Erb 1991: 193f.)

Eine solche Tendenz zeichnet sich auch in Erhebungen des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Centers ab, obwohl Israel hier nur eine Nebenrolle spielt: In einer internationalen Vergleichsstudie stellten Forscher bei der gemeinsamen Betrachtung Deutschlands, Frankreichs und Spaniens fest, dass Anhänger linker Parteien mit 28 Prozent etwas stärker judenfeindlich eingestellt sind als Parteigänger der politischen Mitte (26 Prozent); zugleich weisen Linke geringere Antisemitismus-Werte auf als Befragte der politischen Rechten (vgl. Pew Research Center 2008).

Der aktuelle Antisemitismus-Bericht der Bundesregierung meidet den vergleichenden Ost-/West-Blick ebenso wie jedweden parteipolitisch relevanten Blick. Selbst im linksextremen Spektrum des deutschen Parteiensystems vermögen die Berichterstatter allenfalls »Anknüpfungspunkte« und eine »inhaltliche Anschlussfähigkeit« an obsessive Formen antizionistischer Israel- und antiimperialistischer Kapitalismuskritik zu erkennen, aber keinen »strukturellen Antisemitismus«. Die Antisemitismus-Debatte der LINKEN wird in diesem zurückhaltenden Bericht komplett ausgeblendet. Zwar indizieren die Berichterstatter den Antisemitismus von Teilen der »Bevölkerung«; doch wenn es darum geht, die ideologischen Kontexte antisemitischer Ressentiments zu benennen, fallen die Bewertungen der Studie merkwürdig einsilbig aus (vgl. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus 2011: 26ff., 176f.).

Dem Kommunikationswissenschaftler Maximilian Elias Imhoff ist es bislang vorbehalten gewesen, in einer empirischen Untersuchung im Hinblick auf antiimperialistische und antizionistische Denkweisen eine »Korrelation mit dem Antisemitismus-Score« auszumachen. Der Autor bilanziert: »Unter den Linken neigen besonders Antizionisten« und »marxistisch-leninistische Antiimperialisten [..] zum Antisemitismus.« Die Ergebnisse einer quantitativen Befragung unter Lesern von acht linken bzw. linksradikalen Zeitungen bestätigen diesen Befund: »Drei Zeitungsleserschaften neigen eher zum Antisemitismus: UZ-, jW- und ND-Leser.« (Imhoff 2011: 126f. und 133) Dieser Befund korreliert nahtlos mit den Ergebnissen der vorliegenden mentalitätsgeschichtlichen Analyse der LINKEN und ihrer Triebkräfte.

Fazit und Ausblick

Eine herbe Niederlage, so schien es auf den ersten Blick, mussten die Antizionisten in der Linkspartei auf dem Erfurter Bundesparteitag im Oktober 2011 einstecken: Dem pragmatischen Reformflügel war es nach monatelanger Vorbereitung gelungen, im neuen Parteiprogramm eine Klausel zur Anerkennung des Existenzrechts Israels unterzubringen – der Passus wurde im Dezember 2011 durch einen Mitgliederentscheid bestätigt. [32] Optimisten mögen in diesem politisch überfälligen Votum eine innerparteiliche Richtungsentscheidung wider den antizionistischen Antisemitismus sehen. Doch wer den mühevollen Kraftakt wahrnimmt, mit dem die Linkspartei die Existenzberechtigung des jüdischen Staates programmatisch anerkennt – oder duldet? –, fühlt sich ob einer solchen Toleranzgeste unangenehm berührt. Kein anderer Staat der Welt bedarf der offiziellen Bezeugung seiner Existenzberechtigung durch die Linkspartei, weil eine solche Selbstverständlichkeit – ein Staat hat das Recht zu existieren, weil er existiert – unter normalen Umständen nicht eigens betont werde müsste, schon gar nicht in einem Parteiprogramm. Im Falle Israels macht die LINKE eine Ausnahme, weil die Legitimität des jüdischen Staates intern umstritten war und ist. Zwar werden die außenpolitischen Aktivitäten der Partei seit jenem Beschluss nicht mehr von antizionistischen Akteuren dominiert; zudem versucht die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit publizistischen Mitteln zur innerparteilichen Mäßigung beizutragen (vgl. Timm 2012, Ullrich 2012, Meyer 2013). Gleichwohl gibt es nach wie vor keine Sanktionsmechanismen gegen antisemitische Brandstifter (z. B. Parteiausschlussverfahren) – jedenfalls so lange, wie diese unter der harmlos anmutenden Camouflage der »Israelkritik« auftreten.

Vorherrschend sind in der heutigen LINKEN jene Kräfte, die sich vom kruden, zumeist antizionistisch grundierten Antisemitismus des radikalsozialistischen Parteiflügels um das trotzkistische Netzwerk »Marx 21« distanzieren und auch das überkommene antiimperialistische Lagerdenken zu überwinden suchen; gleichwohl scheut die Linkspartei davor zurück, Israel als jüdisch-zionistisch verfassten Staat zu akzeptieren. Was anderen Staaten, Völkern sowie nationalen Befreiungsbewegungen selbstverständlich zugestanden wird – das Recht auf kollektive Selbstbestimmung in Frieden und Freiheit – wird dem ebenso jüdischen wie demokratischen Israel und seinen Menschen verweigert. Der »Lernprozess« des LINKEN-Mainstreams beschränkt sich, ungeachtet aller gut gemeinten Versuche kritischer Selbstreflexion der eigenen Vergangenheit, auf eine Haltung der Äquidistanz, in der das demokratische Israel und die diktatorischen Regime der arabischen Nachbarn auf ein und derselben moralischen Ebene platziert werden. Nachdem die Linkspartei in ihrem Grundsatzprogramm Israels Existenzrecht 2011 verbal anerkannt hatte, sind die SED-Nachfolger nur zwei Jahre später wieder zurückgerudert. Zu Israel und dem Nahostkonflikt lässt sich die Linkspartei in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013 einen einzigen Gedanken entlocken:

»Leopard-Kampfpanzer für Saudi-Arabien, deutsche Sturmgewehre bei Gaddafi, atomwaffenfähige U-Boote in Israel: Das sind nur drei der deutschen Rüstungsexportskandale der vergangenen Jahre. Sie zeigen, wie skrupellos und unkontrolliert Deutschland Kriegsgerät exportiert.« (DIE LINKE: Wahlprogramm 2013)

Im Klartext bedeutet dies, dass die LINKE dem jüdischen Staat ausdrücklich keine Mittel zur Verteidigung seines Existenzrechts an die Hand geben will. Um diese Entscheidung moralisch zu legitimieren bzw. zu kaschieren, wird Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, auf eine Stufe mit arabischen Diktaturen gestellt.

Die Linkspartei verbindet das taktische, weil politisch-korrekte Bekenntnis zur Zwei-Staatenlösung letztlich mit einer strategisch ganz anderen Agenda: Sie will den jüdischen Staat aktuell zwar nicht (länger) antizionistisch zerschlagen, wohl aber mithilfe postzionistischer Denkfiguren evolutiv überwinden – zugunsten eines bi-nationalen Staatenkonstrukts in ferner Zukunft. Diese ‚eigentliche‘ Agenda durchzieht die Israel- Publizistik im LINKEN-Spektrum wie ein roter Faden – immer dann, wenn über die Tagespolitik hinaus »Perspektiven« und »Visionen« zur Sprache gebracht werden (vgl. prototypisch Gehrcke u. a. 2009: 245f., Neudeck 2013).

In den deutschen Diskurskontext übersetzt, zieht der parteinahe Soziologe Peter Ullrich ein Fazit, dem das Konstrukt der vermeintlich goldenen Mitte einer geläuterten LINKEN zugrunde liegt: »Israelkritik geht oft mit einer Neigung zur Bagatellisierung des Antisemitismus einher, Antisemitismuskritik oft mit einer Bagatellisierung der palästinensischen Leidenserfahrung. « (Ullrich 2008: 67) Ullrichs Kritik an »Binarismen« mag, gemessen an den antizionistischen Irrtümern der DDR und der 1968er- Linken der BRD, ein gradueller Fortschritt attestiert werden, er bleibt jedoch instrumentell und damit apologetischen Abwehrmotiven gegenüber Kritikern der LINKEN verpflichtet. So verharrt der vermeintliche Ausweg zwangsläufig im Ungefähren: »Das hierzulande oft gehörte Lamento über die israelfeindliche oder antisemitische Linke muss in gewissem Maße relativiert werden.« (Ullrich 2008: 18)

Vor diesem Hintergrund werden real existierende und sattsam dokumentierte Antisemitismus-Vorfälle in der LINKEN noch immer flügelübergreifend tabuisiert oder bestenfalls reaktiv bagatellisiert. Das oben skizzierte Denk- und Verhaltensmuster spiegelt sich u. a. in Ullrichs Credo, wonach linke »Israelkritik« vielfach »prinzipiell mehrdeutig« und schlimmstenfalls an den Rändern der Linkspartei »anschlussfähig« zu antizionistischen Spielarten des Antisemitismus sei (Ullrich 2013:66 u. 186). Überdies unterstellt Ullrich externen Antisemitismus-Kritikern der Linkspartei einen »antikommunistischen Grundtenor« (ebd.: 168), ohne zu bemerken, wie sehr er mit einem solchen Verdikt parteikommunistischen Denktraditionen verhaftet bleibt. [33] Wie ein Mantra weist Ullrich die meisten antisemitischen Indikatoren in der LINKEN, soweit sie ‚nur‘ Israel betreffen, als »Ausdruck einer Grauzone« aus (vgl. Ullrich 2011 und 2013: 171–188, Ullrich/Werner 2011). Salzborn sieht in diesem »völlig begriffslosen Wort« zu Recht den Versuch, sich »präventiv gegen Analysen zu imprägnieren: eine Grauzone ist aber irgendwie alles – und damit eben auch nichts.« (Salzborn 2012: 106) Selbst jene parteiinternen Kritiker des Antisemitismus in der Linkspartei, die es ausdrücklich verdienen, als nicht-antisemitische Akteure gewürdigt zu werden, versuchen sich am Ende des Tages über die tatsächliche Situation mit der selbstgenügsamen Feststellung hinwegzutrösten: »DIE LINKE hat ein Problem mit Antisemitinnen und Antisemiten, diese sind innerhalb der Partei jedoch nicht hegemonial. «[34]

Dieser resignativ-bescheidenen Formel folgt seither auch Pau: Die Vizepräsidentin des Bundestages beteuerte im Herbst 2012 in der Plenardebatte zum Antisemitismus-Bericht der Bundesregierung: »Gegen Antisemitismus heißt primär gegen Rechtsextremismus.« Zwar räumte sie ein, »Judenfeindlichkeit« gebe es »quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und politischen Lager«; doch das Antisemitismus-Problem in der eigenen Partei wollte auch die ehrbare LINKEN-Politikerin nicht mehr ansprechen (Deutscher Bundestag 2012: 23735f.). Entgegen der empirischen Befunde und ungeachtet der hitzigen Debatten der letzten Jahre bleibt das Thema des israelbezogenen Antisemitismus in der LINKEN tabubehaftet, weil die Mehrzahl ihrer in dieser Hinsicht sehr ‚deutschen‘ Funktionäre und Anhänger ihr obsessives Verhältnis zu Israel trotz mal abwägender, dann abwiegelnder Resolutionen weder psychosozial-therapeutisch aufgearbeitet noch historisch-politisch ‚bewältigt‘ hat. [35]

Anmerkungen

1 Louis Fürnberg ist 1949 als Dichter und Komponist des legendären SED-Schlagers berühmt geworden: „Die Partei, die Partei, hat immer recht.“

2 Bezeichnung für eine Habilitationsschrift in der DDR, die der Erlangung der universitären Lehrbefähigung vorausgeht.

3 Bei Keßlers Artikel handelt es sich um eine Rezension der Erstauflage meiner Untersuchung des Verhältnisses der deutschen Linken zum Staat Israel (vgl. Kloke 1990).

4 So einige der Anmerkungen und Fragen, die ich bereits an anderer Stelle aufgeworfen habe (vgl. Kloke 1997: 13).

5 Ein personelles Indiz ist auch die Tatsache, dass noch viele Jahre nach der Wende in den genannten Zeitungen Journalisten wie beispielsweise Hans Lebrecht (bis März 2004!) schrieben, die schon zu DDR-Zeiten die staatlich verordnete Israelfeindschaft mit antizionistischen Tiraden gefüttert hatten. Erinnert sei zudem an das Autorengespräch vom 16.7.2001 im Blauen Salon des ND-Gebäudes mit Hans Lebrecht, dessen „langjährige“ Korrespondententätigkeit unter dem Beifall der mehr als 50 Teilnehmer von ND-Chefredakteur Jürgen Reents in höchsten Tönen gepriesen wurde (vgl. Privatarchiv d. Verf.).

6 In ähnlicher Diktion formulierte Pirker: „In dieser Dimension bewegt sich seit jeher [Hervorh. d. Verf.] das israelische Verständnis des alttestamentarischen Vergeltungsprinzips ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘“ (Pirker 2004)

7 In einer Oase auf der arabischen Halbinsel, etwa 150 Kilometer nördlich von Medina, hatte der jüdische Stamm der Khaibar jahrhundertelang gelebt. Die Khaibar wurden von Mohammads Kämpfern im 7. Jahrhundert besiegt und die Überlebenden vertrieben.

8 Vgl. einen Bericht in Haaretz inkl. dokumentarischem Audiofile v. 04.06.2010,http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/idf-video-shows-flotilla-passen gers-tell-israel-navy-to-go-back-to-auschwitz-1.294249 (Stand: 09.09.2013).

9 Vgl. den IDF-Blog v. 03.06.2010 mit Bilddokumenten,http://www.idfblog.com/2010/06/03/unloading-of-humanitarian-aid-from-the-flotilla-continues-3-june– 2010/ (Stand: 09.09.2013).

10 Vgl. die Pressekonferenz der Free-Gaza-Flottillen-Rückkehrer vom 01.06.2010, von der alle Zitate der anwesenden LINKEN-Politiker in diesem Absatz stammen. Dokumentiert auf:http://www.youtube.com/watch?v=uYOc6CZ0MoM (Stand: 10.09.2013).

11 Vgl. rbb-online.de (Nachrichten) v. 20.08.2004: PDS-Politiker entschuldigt sich für antisemitische Äußerung (Privatarchiv d. Verf., der Link zur Nachricht ist inzwischen gelöscht).

12 Vgl. http://www.chris-sedlmair.de (Stand: 09.05.2013).

13 Sahra Wagenknecht hat die Stellungnahme auf ihrer Website rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2013 gelöscht, http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/ 651.erklaerung-zur-rede-von-shimon-peres-im-bundestag-am-27-januar-2010.html (Stand: 10.09.2013; Printfassung im Privatarchiv d. Verf.).

14 „Boykottiert Israels Früchte“ – die „antiimperialistische“ Variante des SA-Aufrufs „Kauft nicht bei Juden“ – zu sehen auf den Sandwich-Plakaten linker Demonstranten vor einem Supermarkt in Bremen am 11. März 2011 – wohlwollend begleitet von Teilen der Linkspartei. Vgl. beispielhaft den LINKEN-Aktivisten Arn Strohmeyer, Sohn des NS-Blut- und Bodenautors Curt Strohmeyer, der vehement für die Boykottaktion eintritt, http://www.palaestina-portal.eu/Stimmen_deutsch/strohmeyer_arn_bremer_friedensfreunde_
boykott_gegen_fruechte_aus_israel.htm
(Stand: 10.05.2013).

15 Vgl. auch das inzwischen auf der LINKEN-Homepage gelöschte Flugblatt „Nie wieder Krieg für Israel!“ (Printfassung im Privatarchiv d. Verf.).

16 Abkürzung für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“. Zu einer wegweisenden Kritik am antisemitischen Charakter der BDS-Kampagne vgl. Salzborn 2013: 11– 14.

17 Vgl. die breit dokumentierten Aktivitäten des BAKs im Netz: http://bakshalom.de/ (Stand: 21.09.2013).

18 Diese Strömung hat sich teils im linksreformerischen „Forum Demokratischer Sozialismus“ und teils in der radikaldemokratisch-libertären Plattform „Emanzipatorische Linke“ organisiert.

19 „Es gibt bei einigen auch in unseren Reihen zu viel Leidenschaft bei der Kritik an Israel. Die gibt es nicht bei Ägypten, nicht bei Libyen, inzwischen nicht einmal mehr bei den USA – aber sofort, wenn es um Israel und Palästina geht. Das macht mich nachdenklich.“ (Gysi 2013)

20 Vgl. die israelpolitischen Presseerklärungen, Interviews und Veröffentlichungen auf Kippings Website (http://www.katja-kipping.de/topic/16.dossiers.html?tcid=4, Stand: 21.09.2013).

21 Zum Wortlaut des Schreibens vgl. http://www.israel-debatte.de/texte.html (Stand: 17.08.2013); siehe auch Jörg Fischer 2007: 5. Die Teilnahme des aus Gaza stammenden Hamas-Politikers Ghazi Hamad scheiterte letztlich nicht an der Linkspartei, sondern an einer fehlenden Einreisegenehmigung.

22 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung“ (Drucksache 16/197), in: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, 16. 12.2005,http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16009.pdf (Stand: 17.08.2013).

23 Zu Hintergründen und Einzelheiten vgl. S. 162–165.

24 „Herr Dierkes spricht nicht für die Linke.“ (Gysi und Pau laut Benjamin Weinthal 2010).

25 Vgl. Sedlmairs Austrittsschreiben an die „Liebe(n) Genossinnen und Genossen“ v. 17.10.2012, in: http://chris-sedlmair.de/news/index.php?option=com_content&task=view&id=88&Itemid=49 (Stand: 17.08.2013). Zur Vorgeschichte des Falls Sedlmair vgl. S. 166.

26 Kritisch dazu Salzborn 2010, Pfahl-Traughber 2011. Wenig überraschend war es, dass Anfang Mai 2010 die Bundestagsabgeordnete Höger bei einer Palästina- Konferenz in Wuppertal als Rednerin vor Sympathisanten der Hamas auftrat. Dabei trug Höger ein Halstuch mit einer politischen Karte des Nahen Ostens, auf der der Staat Israel entfernt worden war.

27 „Da hat man sich vermutlich nicht einigen können.“ So meine nachträglich von Wolfgang Gehrcke bestätigte Einschätzung (zitiert nach Krauss 2010). Nur wenige Wochen später verweigerte sich die Bremer LINKE einer gemeinsamen Initiative aller lokalen Parteien gegen antiisraelische Boykott-Aktionen. Die LINKEN-Landesvorsitzenden Cornelia Barth und Christoph Spehr fühlten sich zwar selbst an die Nazi-Kampagne „Kauft nicht bei Juden“ erinnert, hielten aber an der Vorstellung fest, Boykottaktionen gegen Israel seien per se nicht antisemitisch und Kritik daran „bösartig“ (Meisner 2011a).

28 Vgl. die Pressekonferenz der Free-Gaza-Flottillen-Rückkehrer vom 1.6.2010, dokumentiert auf Youtube, http://www.youtube.com/watch?v=uYOc6CZ0MoM (Stand: 10.09.2013). Zu Hintergründen dieser Aktion vgl. S. 163–165.

29 Voigt gehört zu den Gründungsmitgliedern des parteiinternen BAK Shalom (vgl. S. 169).

30 Vgl. den Anfang Juni 2011 ohne mein Wissen und meine Zustimmung online neu aufgelegten Essay „Ausgelebte Projektionen“, mit dem die Konkret-Redaktion „aus aktuellem Anlass“ meinte Wert darauf legen zu müssen, dass schon in den 1990er Jahren das Thema eines linken Antisemitismus debattiert worden sei (http://www.konkret-verlage.de/kvv/kvv.php: Der Link ist inzwischen gesperrt – die ursprüngliche Fassung erschien in Konkret 5/1998 und war bei Redaktionsschluss nur noch auf diesem Blog nachlesbar:http://philolog.wordpress.com/euislam/sechstagekrieg-israel-linke/ (Stand: 03.01.2014).

31 Artikel wie diese animieren ND-Leser/innen regelmäßig zu antiisraelischen Hassmails. Zu den erschütternden Dokumenten des linksdeutschen Antisemitismus gehören z. B. Selbstentblößungen wie diese: „Ich bin kein Antisemit! Aber die Politik des israelischen Staatswesens, seit der Gründung dieses Staates, kann ich nur als faschistisch interpretieren.“ In: http://www.neues-deutschland.de/artikel/827 435.linker-antisemitismus.html v. 17.7.2013 (Stand: 18.07.2013).

32 „Deutschland hat wegen der beispiellosen Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen und Juden während des deutschen Faschismus eine besondere Verantwortung und muss jeder Art von Antisemitismus, Rassismus, Unterdrückung und Krieg entgegentreten. Insbesondere diese Verantwortung verpflichtet auch uns, für das Existenzrecht Israels einzutreten. Zugleich stehen wir für eine friedliche Beilegung des Nahostkonfliktes im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung und damit die völkerrechtliche Anerkennung eines eigenständigen und lebensfähigen palästinensischen Staates auf der Basis der Resolutionen der Vereinten Nationen.“ In:http://www.die-linke.de/fileadmin/download/dokumente/programm_der_partei_die_linke_
erfurt2011
. pdf (Stand: 17.08.2013).

33 Micha Brumlik, der zu Ullrichs Buch über den Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs in der deutschen Linken nach oberflächlicher Vorablektüre zunächst ein lobendes Vorwort beigesteuert hatte (vgl. Ullrich 2013, a. a. O., S. 7–11), ist inzwischen auf deutliche Distanz zu Ullrichs pseudo-objektivem Versuch einer „Beobachterperspektive im Stand der Unschuld“ gegangen (http://michabrumlik.de/insachen-peter-ulrich-brumlik-ulrich/ – Stand: 14.12.2013). Angesichts der Tatsache, dass die meisten Antisemiten empirisch gesehen zugleich auch Antizionisten seien, sei Ullrichs Forderung einer „Entmoralisierung“ des linksdeutschen Nahostdiskurses inakzeptabel. Seine Kritik hat Brumlik am 31.10.2013 auf einer Buchvorstellung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausführlich zur Sprache gebracht, in:http://www.rosalux.de/documentation/49272, ab 40. Minute (Stand 14.12.2013).

34 So das Fazit der Podiumsdiskussion mit Klaus Lederer, Katharina König und Mario Keßler vom 25.11.2011 im Rosa-Luxemburg-Saal des Karl-Liebknecht-Hauses in Berlin. Bericht und Mitschnitt der Podiumsdiskussion über Antisemitismus in der Linkspartei v. 01.12.2011,http://bak-shalom.de/index.php/2011/12/01/dieauseinandersetzung-um-antisemitismus-in-der-linkspartei-steht-noch-aus/ (Stand: 17.08.2013).

35 Christian Lannert hat in seiner vergangenheitspolitischen Untersuchung der LINKEN dem Antisemitismus-Problem wenig Beachtung gezollt (Lannert 2012: 203ff.); gleichwohl ist seine Bilanz linker Geschichtspolitik umstandslos auf unser Thema übertragbar, denn „der Wille, die eigene Biografie zu verteidigen“, kollidiert zwangsläufig mit dem Anspruch einer selbstkritischen Aufarbeitung der Vergangenheit (vgl. ebd.: 77).