Kinderpredigten zu Rosch haSchana

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Ein historischer Text mit Ansprachen für Kinder zu Rosch haSchana…

Erschienen in: Der Jude, Heft 7, Oktober 1916

Rabbi Jakob Kranz (1740—1804), im Volksmunde schlechthin „der Dubnoer Magid“ genannt, wirkte als Wanderprediger in Dubno und zahlreichen anderen Städten Russischpolens. Er zeichnet sich besonders durch seine ursprünglichen Parabeln und Gleichnisse aus, die er in seine Predigten zu verweben pflegte. Einer seiner Bewunderer, ein berühmter Zaddik, soll gesagt haben, die Seele des R. Jakob stamme aus dem „Olam hamaschal“, der Welt des Gleichnisses; deshalb sei sein Beruf auf Erden Meschalim, Gleichnisse zu dichten. Er ersinne sie nicht, sondern gebe nur wieder, was er im Jenseits erlauscht habe.

R. Jakob hat uns viele hunderte solcher Gleichnisse nacherzählt. Nicht als freie Dichtungen, sondern um schwierige Bibelstellen zu erklären und die Andächtigen zu erbauen. Denn zu jenen Zeiten gewährten die Juden, besonders die des Ostens, der Dichtung nur so viel Raum, als sie der Thora zum Zierat dienen konnte. Sie mußte sich an diese ranken, um nicht als eine der Eitelkeiten dieser Welt abgelehnt zu werden. Dem Wilnaer Gaon, der ihn fragte, wie er es denn anstelle, seine Parabeln mit den Bibelstellen in Einklang zu bringen, gab R. Jakob zur Antwort, er passe seine Parabeln den Bibelstellen an, mache es, wie jener Schütze, der aufs Geratewohl in eine Zielscheibe Löcher schoß, diese mit weißen Kreisen umgab und so den Anschein erweckte, als hätte er genau in den Mittelpunkt getroffen. Aber man gewinnt den Eindruck, daß gar oft lediglich die Lust zum Fabulieren R. Jakob seine Parabeln eingegeben und er erst hinterher, gleichsam um diese zu sanktionieren, sich die dazu passenden Bibelstellen ausgesucht habe.

Sein Schüler und Nachfolger R. Abraham Dow Flohm ist als Mitverfasser seiner Schriften anzusehen. R. Jakob hat nur lückenhafte Entwürfe und zusammenhanglose Notizen hinterlassen und erst den Bemühungen R. Abrahams gelang es, ihnen die Form zu geben, in der sie uns vorliegen.

Kinderpredigten
von Rabbi Jakob aus Dubno und Rabbi Abraham Dow Flohm

I.
Am ersten Slichothtage.

Ihr heiligen Kinder, ihr lieben Jünglinge, ich will euch ein Gleichnis erzählen, damit ihr wißt, daß es besonders an euch ist, in den Tagen der Ehrfurcht, die uns zum Heile entgegentreten, euer Herz vor unserem Könige, unserem Gotte auszuschütten.

Ein Vater ging einst mit seinem kleinen Sohne auf die Wanderung. Da kamen sie an einen Fluß. Der Vater lud das Kind auf seinen Rücken und durchwatete mit ihm das Wasser. Ein Berg trat ihnen in den Weg, und wieder trug der Vater das  Kind in seinen Armen, bis sie die Ebene erreichten. „Vater, ich bin müde,“ sagte das Kind nach einiger Zeit. Geduldig und liebevoll trug er es, bis es ausgeruht hatte. Gegen Abend langten sie an einer Burg an; die Tore waren fest verschlossen, nur eine kleine Fensteröffnung befand sich in der himmelhohen Mauer. Laut schrie der Vater und bat um Einlaß, aber niemand hörte ihn. Da sprach der Vater zu seinem Sohne: „Mein Kind, nur du kannst jetzt uns beiden helfen. Schlüpfe durch dieses Fensterlein und flehe den Herrn der Burg an, daß er auch mir Einlaß gewähre.“

Ihr heiligen Kinder! Ihr wißt wohl, daß wir das ganze Jahr euch alle Lasten abnehmen und für euch sorgen. Jetzt aber bedürfen wir selbst der Hilfe. Denn schwere Tage sind für uns gekommen, an denen wir in Gebet und Buße zur Burg unseres Gottes vordringen wollen, und sie ist uns versperrt. Unsere Weisen haben es uns enthüllt: Seit dem Tage, an dem der Tempel zerstört wurde, sind die Tore des Gebetes verschlossen. Nur ihr könnt unseren Gebeten Einlaß verschaffen. Der Aufschrei der Kinder, der reine Hauch ihres sündenreinen Mundes reißt die Fenster des Himmels auf.

Ihr leichtbeflügelten jungen Vögelchen, ihr könnt zum Himmel emporflattern, um auch uns die Tore des Lichtes, der Gnade und des Erbarmens zu öffnen.

II.
Am Vorabend des Rosch haschanah.

Ihr heiligen Kinder! Neigt euer Ohr dem Gleichnis, das ich euch erzählen will.

Einst reisten viele Kaufleute von dem Jahrmarkte in Leipzig nach Hause. Sie führten die Waren, die sie dort erstanden hatten, mit sich — die einen viel, die anderen weniger, je nachdem ihnen Gott beschert hatte. Die Gegend, durch die sie ziehen mußten, war unsicher, denn Räuber und Plünderer hielten sich dort versteckt. Da sie einen Überfall fürchteten, beschlossen sie, eine Schar bewaffneter Wächter anzuwerben, die sie und ihre Habe vor den Unholden schützen sollen. Wer aber sollte das viele Geld, das die Wächter verlangten, bezahlen? Alle! werdet ihr wohl antworten. Gewiß! Aber sollten alle zu gleichen Teilen zahlen? Nein! Mit Recht trafen sie das Übereinkommen: Je mehr Waren einer mit sich führt, einen desto größeren Teil muß er beitragen, und dann je nach der Länge des Weges, den einer vor sich hat. Die nur eine kurze Strecke bis zu ihrer Heimat haben, zahlen am wenigsten, mehr schon, die entlegener wohnen, das meiste aber müssen die entrichten, deren Heim sich in großer Entfernung befindet.

Wir alle, Greise, Männer und Kinder, haben einen unsicheren, gefahrvollen Weg vor uns. Der Satan und sein Heer lauern, besonders an diesen furchtbaren Tagen, auf uns, um uns zu überfallen. Nur Gott kann uns schützen, und er wird uns schützen, wenn wir aus tiefem Herzen um seine Hilfe rufen. Denn er hat uns gelobt: Mit Weinen werden sie kommen und mit flehentlichem Gebete, — ich, der Ewige, werde sie führen. Nun, Kinder, wer von uns soll am inbrünstigen beten, wer am inständigsten unsern Führer und Wächter um seinen Schutz anflehen ? Doch die, die den längsten Weg vor sich haben. Die Greise — ihr Tag naht, bald werden sie in ihr ewiges Heim zur Ruhe einziehen, und ihr Gebet gilt nur noch der kurzen Spanne Zeit ihrer Erdenwanderung. Auch die Männer haben schon einen guten Teil ihres Weges zurückgelegt, wenn auch die ihnen drohenden Gefahren noch immer groß genug sind, und sie mehr dem Schutze bedürfen als jene.

Ihr Kinder  aber, ihr heiligen Kinder, die ihr erst das Licht der Welt erblickt, ein langes Leben, den langen Weg voller Gefahren noch vor euch habet, ihr müßt mit eueren Gebeten das meiste dazu beitragen, daß euch der Wächter Israels bewahre und beschütze. Vergießet Tränen, betet für euch, damit euch ein friedliches Leben beschieden sei, betet für euere Eltern, daß ihnen das Glück gewährt werde, euch in Gottesfurcht und zur Thora zu erziehen, betet aber auch für das gesamte Israel, daß uns dieses Jahr Hilfe und Erlösung bringe.

III.
Am 1. Tage des Rosch haschanah.

Ihr heiligen Kinder! Ihr lieben Jünglinge! Ein Gleichnis will ich euch erzählen, auf daß ihr wißt, inbrünstig sollet ihr, ihr besonders, am heutigen Tage beten. Die Mühsal des täglichen Lebens ist euch erspart. Euere Eltern tragen sie für euch und nehmen euch jede Sorge ab. Heute aber, da wir vor Gott hintreten, um von ihm Gnade für uns und für euch zu erflehen, dürft ihr nicht schweigend beiseite stehen.

Ein Kind fiel in eine schwere Krankheit. Der geängstigte Vater ließ einen Arzt um den anderen holen, doch keiner brachte Heilung. Da erfuhr der Vater, daß in einer fernen Stadt ein berühmter Heilkünstler lebe. Er raffte seine Habe zusammen, um auch ihn an das Krankenlager seines Kindes kommen zu lassen. Der Heilkünstler kam, sah sich den Kranken und all die Arzeneien, die man ihm verabreicht hatte, an und sprach: „Hier ist menschliche Hilfe vergebens, nur der Arzt aller Ärzte kann den Sterbenden retten. Betet für ihn“.

Da versammelte der Vater alle Verwandten und Freunde, und als sie um das Lager des Kindes standen und unter Tränen die Psalmen Davids beteten, neigte er sich über das Kind und sprach: „Mein Sohn, Vaterspflicht ist es, alles was er hat, für sein Kind herzugeben, um es zu retten. Ich habe weder an Gold noch an Silber gespart, habe alles für dich hergegeben, und ich wollte, ich könnte noch mehr für dich opfern. Alle Opfer, alle Ärzte, alle Heilmittel sind jedoch machtlos. Gebete und Tränen sind das einzige Mittel; sie vermögen das göttliche Erbarmen für dich herabzuflehen. Deine Gebete, deine Tränen aber sind Gott lieber und wohlgefälliger als die Gebete aus unserem Munde, als die Tränen, die wir anderen um dich vergießen. Flehe, mein Kind, heiß zu Gott!“

Ja, ihr heiligen Kinder, die Tränen eurer Augen, die noch keine Sünde gesehen und nach keiner gelüstet haben, und die Gebete eurer unschuldsvollen Lippen vermögen bei Gott mehr als unsere. Betet daher für euch und für uns. Betet aber auch für die Gesamtheit Israels, betet um die Wiedererrichtung Zions und Jerusalems, auf daß dieses Jahr ein Jahr des Heils werde, daß Juda wieder auferstehe und Judas Söhne in ihr Land zurückkehren.