Jom Kippur

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Aus dem Projekt „Treasures from Jewish Storytellers – Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten“

Eine Geschichte erzählt von Chana Mills
Übersetzt von Moira Thiele, Englisches Original weiter unten
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Mein Name ist Chana Mills. Ich wurde 1949 in Israel geboren. Meine Eltern stammten aus Österreich, aus Wien, und sie landeten 1939 in Israel.

Meine Mutter Hilda Schulz war die Älteste und hatte zwei jüngere Brüder. Sie war der Liebling ihres Vaters. Es war eine moderne Familie, stolz, ein Teil von dem berühmten Kulturleben von Wien zu sein. Ihre Vorfahren waren vermutlich religiöser als sie. Mutter hatte nur Erinnerungen an einen alten Mann mit langem Bart, der Großvater genannt wurde und starb, als sie noch klein war.

Die Familie war absolut nicht religiös, die jüdischen Feiertage wurden nicht gefeiert und keine jüdischen Sitten bewahrt. Der Schabbat bedeutete nicht viel, und Pessach und Jom Kippur auch nicht.

Mein Vater Alfred Lustig war der Cousin zweiten Grades meiner Mutter und ein Waisenkind. Die Familie meiner Mutter half ihm und gab ihm für lange Zeit ein Zuhause. So kannten die beiden einander seit ihrer Kindheit gut und hatten einander sehr gern.

Doch dann kamen schlimme Zeiten. Das Leben hatte sich verändert für die Juden… die politische Lage in Österreich und der Aufstieg Hitlers in Deutschland machte das jüdische Leben sehr schwierig. Als der Anschluss Österreichs an Deutschland vollzogen war, bekamen die Juden keine Arbeit mehr, und alles, was in Deutschland geschehen war, hielt auch hier Einzug. Die Angst vor der Zukunft war allgegenwärtig. Das brachte Cousin und Cousine wie viele andere Paare zum Entschluss, schnell zu heiraten, und alle strömten zum Rabbinat und wurden sozusagen wie am Fließband getraut.

Nicht lange danach mussten die beiden Brüder meiner Mutter, die in der sozialistischen Partei aktiv waren, in die Schweiz fliehen, natürlich illegal. Meine Eltern lebten bei ihren Eltern und hatten Glück: eine gute Nachbarin warnte sie und versteckten sie in der Nacht, bevor eine große Zahl Wiener Juden verhaftet wurde. Da sie nicht zurück konnten in ihr Zuhause, flohen alle vier nach Holland, nach Amsterdam, wo die Schwester meines Vaters lebte.

Was sie nicht wussten, war, dass Holland zu dieser Zeit von Flüchtlingen aus ganz Europa überschwemmt war, die eine starke Belastung für das Land waren, und so wurden Arbeitslager für die Männer gebaut. Die Familien wurden getrennt. Die Frauen und Kinder durften in der Stadt leben und bekamen sogar etwas Unterhalt; die Männer waren zwar nicht gefangen, aber auch nicht frei.

Das war jetzt das neue Leben: Meine Mutter lebte mit ihrer Mutter bei der Schwester meines Vaters, die sie nicht wirklich kannten, in einem fremden Land, unter Menschen, die in einer anderen Sprache redeten. Einmal in zwei Wochen durften sie die Männer besuchen, und das nur mit Mühe. Das Leben war unsicher und die Zukunft unbekannt. Das dauerte ungefähr ein Jahr. 

Eines Tages hörte mein Vater, dass ein illegales Schiff in Amsterdam auf dem Weg nach Palästina anlegen würde, und dass es eine Möglichkeit gab, sich der Fahrt anzuschließen. Meine Familie waren keine Zionisten, und es gab noch ein anderes Problem: keiner über fünfzig konnte sich einschiffen, und die Eltern waren ein wenig älter.

Doch diesmal war mein Vater fest entschlossen: Es würde verstehen, so sagte er, wenn meine Mutter bei ihren Eltern bleiben wolle, aber er würde diese Gelegenheit nicht verpassen. Was sollte meine arme Mutter tun?  Was hätten sie hier zu erwarten? Er hatte ja recht, hier blieb kein Hoffnung. So war es beschlossene Sache: das junge Paar würde versuchen, nach Palästina zu kommen. Alle vier waren sehr traurig und nervös. Sie hatten Angst.

Und dann kam der Tag des Abschieds. Alle vier standen am Hafen vor dem Schiff, der Dora. Ich stelle mit vor, dass Schweigen herrschte. Was gab es auch zu sagen? Meine Eltern mit ihren großen Rucksäcken auf dem Rücken, schweigsam, unglücklich, und dann der Ruf : An Bord! Umarmungen, letzte Umarmungen…

Meinem Großvater brach wohl das Herz. Meine Großmutter war ruhig wie immer. Und dann der allerletzte Augenblick, da hielt er noch die Hand meiner Mutter, und sagte etwas völlig Unerwartetes: „Halte Jom Kippur!“

Nun kommt unsere Geschichte, die der Kinder. Wir wuchsen in Israel auf, als nicht orthodoxe Familie in Bnei Brak, das damals schon eine sehr religiöse Stadt war. Meine Familie hatte wenig Ahnung vom Judentum und ganz sicher nichts mit Religion im Sinn. Meine Eltern waren stolze Israelis und sehr glücklich, dass ihre Kinder in diesem besonderen Land aufwuchsen, zu dem sie gehörten.

Nur meine Mutter, die die letzten Worte ihres Vaters nie vergaß, fastete jedes Jahr an Jom Kippur, so wie es die Sitte verlangt: du fastest, du denkst nach und du bereust. So wussten wir Kinder, was der Versöhnungstag bedeutet, und wie er gelebt wurde, obwohl es immer nur meine Mutter war, die fastete. Die anderen, wir drei Kinder und mein Vater, waren bei ihr und kümmerten uns um das, was sie brauchte, den ganzen Tag lang.

Und so war und blieb Jom Kippur ein wichtiger Tag in unserem Haus.

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Yom Kippur

My name is Chana Mills. I was born in Israel in 1949. My parents came from Vienna, Austria, and landed in Israel in 1939.

My mother Hilda Schulz was the eldest, and had two younger brothers. She was her father’s sunshine.

The family was a modern one, proud of being part of the famous and cultural city of Vienna.

Their ancestors were probably more pious. Mother had some memory of an old man with a long beard called Grandpa, who passed away when she was young. The family was absolutely non religious. No jewish holidays were celebrated, and no Jewish customs were practiced. Shabat was not something that meant a lot, neither did Passover or Yom Kippur.

My father Alfred Lustig was my mother’s second cousin and an orphan. My mother’s family helped him and gave him a home for long periods. So the two knew each other well from childhood and were very fond of each other.

And then came the bad times . Jewish life hadchanged… political circumstances in Austria and the rise of Hitler in Germany made jewish life very difficult. When the Anschluss of Austria to Germany was completed,  Jews were not given work and all the things that happened in Germany appeared here as well. Fear for the future was everywhere. This brought the two cousins, like a lot of other Jewish couples, to decide to get married quickly, and they all flocked to the jewish community and were wed in almost, what we would call today, an assembly line.

Not long after that my mothers two brothers, who were politically involved, had to flee to Switzerland, of course illegally. My parents lived with my grandparents and were very lucky: A good neighbor warned them and they went into hiding the night before a lot of viennese Jews were summoned and taken to camps. As they could not go back to their flat, the four of them fled to Amsterdam, Holland, where my father’s sister lived. They thought this could work. What they did not know is that Holland at that time got a lot of refugees from all over Europe which was a burden on the country and so they built working camps for the men. Families had to be separated. The women and children were allowed to live in the city and even got some allowance to live on, and the men were not imprisoned, but not free either.

So that was life now. My mother and her mother lived with the sister they did not really know, in a different country and amongst people that spoke a different language. They were allowed to visit the men once in two weeks and that by itself was not easy to do. So life was not good and the future was very unknown. This went on for around a year.

My father heard one day that an illegal ship was about to dock in Amsterdam on it’s way to Palestine and that there was a possibility of joining that voyage. My family was not Zionist and there was another problem: no one over fifty could embark that ship and the parents were a little over age. Only this time my father was very determined: He would understand, he said, if my mother would stay with her parents, but he himself could not miss this opportunity. What was expecting them here? He would go. What could my poor mother do? He was right! There was no hope here. So it was decided that the young ones will try and get to Palestine. All four were sad and nervous. It was all very frightening.

And then came the day they had to say goodbye. All four stood in the harbour near that ship, named Dora.  I can imagine there was silence. What is there to say? My parents both with big backpacks on their backs, quiet, sad and then the loud cry from the ship : Boarding… and then hugs… last hugs…

My Grandfather was probably heart broken. My Grandmother quiet as always. And then at the very last moment, still holding my mother’s hand, really the last moment… he said, what was so unexpected: Keep Yom Kippur!!!!

Now it’s our story, the children. We grew up in Israel as a non orthodox family in Bnei Brak which was already, at the time, a very religious city. My family had no knowledge of Judaism and for sure no religious habits. My parents were proud Israelis, and very happy that their children grew up in that special country they were part of. Only my mother, keeping his last words to her, did fast every Yom Kippur (that is the habit: you fast, you think and you repent) and we children knew what meant Yom Kippur, and what it looked like, even though it always was only my mother who fasted. All the others, we three children and my father, were around her and took care of what she needed, all day long.

So really, Yom Kippur was important in our house!